Das verborgene Geheimnis (fm:Verführung, 89642 Wörter) | ||
| Autor: Schwarz-Bunt | ||
| Veröffentlicht: Dec 19 2025 | Gesehen / Gelesen: 1222 / 605 [50%] | Bewertung Geschichte: 9.33 (6 Stimmen) |
| Nach mühevoller Genesung von ihrem schweren Unfall, platzt erneut die Vergangenheit in Sandras Leben. Geister aus der Vergangenheit tauchen auf, und ihr Stiefsohn bedroht sie weiter. Und was ist mit dem verschwundenen Datenträger? | ||

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seine Hand aus. Er wollte etwas von mir haben. Aber wie fremdgesteuert griff ich in eine Hosentasche und holte dort etwas heraus. Etwas Flaches, Rundes. Es war eine Münze. Ich hob meine Hand an und schaute mir die Münze im Mondlicht an. Sie glitzerte. Meine andere Hand griff wie von selbst an meine Bluse, zog dort kräftig, bis ein Knopf von ihr abging und in meiner Hand lag. Ich führte meine beiden Hände zu seiner ausgestreckten Hand und legte nicht die Münze, sondern den Knopf dort hinein. Er hob seine Hand und schien die Gabe zu betrachten. Man konnte selbst im Mondlicht sehen, das war nicht die Münze, sondern der Knopf meiner Bluse. Der Mann zog seine Augenbrauen nach oben, hob seinen Kopf wieder an, so als ob er mich wieder anschauen würde, schüttelte seinen Kopf, drehte sich um, und schwebte zu seinem Boot zurück. Mein Körper wollte ihm hinterher, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Er stieg in das Boot, wendete und stakte es langsam vom Bootssteg weg, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen. Erneut kam Nebel auf. Warmer Nebel. Er wurde immer dichter und das Boot verschwand in ihm. Der Bootssteg zerfiel. Ein Baum wuchs an seiner Stelle hoch, in rasender Geschwindigkeit. Auch der Fluss war verschwunden, und überall wuchsen Bäume dort heraus, wo vorher das Wasser gewesen war. Und auf einmal war Licht.
Gleißendes, helles Licht. Ein merkwürdiges Klingen war auf einmal um mich herum. Glöckchen. Wie Weihnachtsglocken. Zwei Augenpaare schauten mich an. Meine Eltern. "Schau mal, wie sie sich freut!" Meine Mutter blickte meinen Vater mit strahlenden Augen an, und dann auf etwas unterhalb von mir. Ich sah herunter. Eine Puppe. Sandra-chen hatte ich sie damals genannt. Sandra-chen. Nicht San-Drachen. War ja mein liebstes Püppchen. Sie hatte mich bis zu meinem dreizehnten Geburtstag begleitet, bis ich sie in einen dunklen Schrank abgelegt hatte, und später in eine alte Bananenkiste. Was machte ich hier? Das war doch ein Kindergeburtstag! Mein Geburtstag! War ich im Himmel? Ist das so, wenn man in den Himmel kommt? Geht man da in seine Kindheit zurück? Und das da vorher? War das die Unterwelt, die Zwischenwelt? Der Hades, Styx, und sein Bootsmann? Das waren meine Gedanken, als ich wieder denken konnte. Aber kaum waren die Gedanken da, wurden sie schon wieder verscheucht. Erneut ging es in die Unterwelt, aber in eine andere. Überall um mich herum Minenarbeiter. Düstere Schächte, und schmutzig aussehende Gestalten mit Einheitsgesichtern und Bärten.
Meist war es da unten ziemlich dunkel, aber gelegentlich leuchtete mir auch einer von denen mit einer hellen Lampe auf ihrem Helm ins Gesicht. Die Minenarbeiter hämmerten in den Fels. Tak, tak, tak. Auch die Kopfschmerzen gingen mit, pulsierten. Tak. Tak. Tak. Manchmal war es sogar eine ganze Minenarbeiterkolonie. Das hörte sich eher an wie Maschinengewehrfeuer. Taktaktaktaktaktaktaktaktak ... Zugleich fusionierten die Kopfschmerzattacken zu einem Dauerkopfschmerz. Ein Karussell drehte sich. Immer schneller. 'Anhalten, ich will aussteigen', wollte ich rufen, aber es kam kein Laut aus meinem Mund. Hatte ich überhaupt noch einen Mund? Ich wollte den Arm heben, aber es fehlte mir jede Energie. Irgendwann verklangen langsam die Töne der Minenarbeiter und ich dämmerte wieder weg. Und dann war Stille. Aber eine laute Stille. Es hörte sich an, als ob jemand neben mir atmete. Ich drehte mich um meine Achse. Wieder das Karussell? Nein, das war anders. Die Welt drehte sich jetzt um mich. Es war wie damals, als ich das erste Mal im Leben betrunken war. Mit 16. Ich hatte gedacht, ich muss sterben. Tat ich das gerade? Starb ich etwa? Das Drehen hörte dann zum Glück auf und ich dämmerte wieder weg. Irgendwann später, als ich jedes Zeitgefühl verloren hatte, vernahm ich wieder etwas. Erst fühlte ich nur. Meinen Körper. Ich fühlte, dass ich so etwas wie einen Körper haben müsste. Aber er gehörte mir nicht mehr. Es war so, als ob ich gar nicht in ihm wohnte, so, als ob er mir fremd wäre.
Dann waren wieder Geräusche da. Piepen, Fiepen, Gluckern, Stimmen, Schreie, Geräusche wie metallisches Klopfen. Stimmenmurmeln. Es hörte sich ein wenig an wie diese neuartigen Musikstücke, die man seit einiger Zeit oft am Anfang der Klassikkonzerte spielt. Irrsinnig gegeneinander spielende Instrumentengruppen. Abstoßend. Nervend. Aber auch überwältigend. Trotzdem war man meistens froh, wenn sie vorbei waren. Hier war nichts vorbei. Die ganze Zeit hörte ich diesen Mist. Dumpfe Töne, und ich, wie in einem Kokon schwebend. Und immer wieder diese Atemgeräusche, die auch vorher schon da gewesen waren. Irgendwann, als ich dachte, dass ich das nicht mehr aushalte, dämmerte ich wieder weg. Zumindest kein Karussell mehr, war mein letzter Gedanke. Und dann merkte ich plötzlich wieder, dass ich bin. Die Atemgeräusche waren weg.
Eine Stimme erklang. "Sandra-chen ... Sandra-chen! Hörst du?"
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Teil2: Das Spinnchen und ein doppelter Piere
Ein Nebel lichtete sich. Immer deutlicher spürte ich etwas. Einen Schmerz. Irgendwo da unten. Am linken Bein. Etwas piepte, permanent, in nervtötenden, gleichmäßigen Intervallen. Ähnlich wie vorher, nur ohne dämpfenden Kokon. Und ich spürte ein Dröhnen im Kopf. Kopfschmerzen. Nicht so wie vorher mit den Minenarbeitern. Es war wie damals mit den Baumaschinen. Als der Mist begann, mit meinem untreuen, aber toten Ehemann Uwe. Nur noch schlimmer. Viel schlimmer! Und ich spürte etwas an meiner Wange. So, als ob da eine Spinne drüber krabbeln würde. Ich hasse Spinnen! Das war aber nicht irgendeine Spinne. Keine normale Spinne hat so große Beine. Das war eine Vogelspinne! Vogelspinnen hasste ich noch viel mehr als normale Spinnen! Die musste da weg! Ich bewegte meine Hand dorthin, versuchte es zumindest, aber es war total schwer. Ich hatte null Energie! Und supermüde war ich auch. Ich hörte mich stöhnen. Endlich hatte ich es geschafft, Millimeter für Millimeter bewegte ich meine Hand zu meinem Gesicht hin. Ich griff zu.
Die Spinne hatte wirklich sehr dicke Beine. Aber es waren keine Haare an ihr. Gab es solche Vogelspinnen? Ich hatte nicht die geringste Kraft, um sie von meinem Gesicht herunterzuwischen, aber die Vogelspinne kletterte nun zum Glück von allein dort weg. Aber jemand müsste sie ganz herausschaffen! Ich kann doch nicht mit so einer Spinne in einem Raum sein! Oder war ich gar nicht in einem Raum? War ich im Dschungel? Nur im Dschungel gab es doch Vogelspinnen, oder? Und warum hatte sie mich nicht gebissen? Vogelspinnen beißen doch, oder? Verdammt, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Dann kam mir doch ein Gedanke. Wieso kann es im Dschungel piepen? Waren das die Stimmen von Vögeln? Wie kam ich hierher? War mein Flugzeug abgestürzt? Ich erinnerte mich an ein Buch, an den Bericht einer Frau, die so einen Absturz im Dschungel überlebt hatte. War ich auch so eine? Eine Überlebende? Suchten schon Rettungsmannschaften nach mir?
Und wieder kam die Stimme: "Sandra-chen."
Woher kannte die Spinne den Namen meiner Puppe? Den kannte nur ich, meine Eltern und Uwe. Und die waren allesamt tot. Tot. War ich auch tot? Ich wollte die Spinne suchen, aber meine Arme gehorchten mir immer noch nicht. War es deshalb, weil ich tot war? Konnte ich deswegen meine Arme nicht benutzen? War ich ein Geist? "Sandra-chen." Wieder flüsterte diese Stimme. Die Stimme kam mir bekannt vor. Sie sprach genauso wie Piere, Uwes früherer Chef! Eine Vogelspinne, die wie Piere sprach? Imitierte die Spinne ihn? Aber woher kannte die Vogelspinne Piere? Es war furchtbar schwer, da ich so müde, matt und ohne Energie war, aber ich schlug die Augen auf. Es war alles so hell, gleißend hell. Man konnte nichts sehen. Nur heller, freundlich aussehender, gleichförmiger Nebel. War das der Himmel? Ich meine, der Himmel des Himmels? War ich dort? Aber der Nebel bekam langsam Konturen, löste sich auf. Kanten erschienen, dann eine Gestalt. War das meine Puppe Sandra-chen, die hier war? Hatte ich sie gerufen und sie war mir zu Hilfe gekommen?
Aber auch ihr Gesicht zerfloss jetzt, bekam harte Konturen, dann Struktur, ich erkannte Mund und Nase, Haare, Augen. Meine Puppe Sandra-chen sah jetzt aus wie Piere. Nein, eigentlich waren es sogar zwei Gestalten, die wie Piere aussahen. Mal waren sie weiter auseinander, mal weiter zusammen, und noch sah ich sie ziemlich verschwommen, aber es waren wirklich Piere und Piere. "Sandra! Ich bin so froh, dass du wieder wach bist", sagten die beiden Sandra-chens mit den Gesichtern von Piere. Sie sprachen synchron. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass diese doppelten Sandra-chens Piere sind. Jedenfalls alle beide. Komische Welt hier im Himmel, dachte ich. Alle doppelt.
"Piere", sagte, oder eher, flüsterte ich. So leise, dass ich mich selbst kaum verstehen konnte. Mein Mund war total trocken und das Sprechen strengte mich an. "Was macht ihr hier im Himmel? Und wo ist die Vogelspinne?"
"Welche Vogelspinne? Ach, du meinst wohl meine Hand? Wir sind auch nicht im Himmel, Sandra. Kein Mensch auf der Welt käme auf die Idee, ein Krankenhaus als Himmel zu bezeichnen. Es ist eher das Gegenteil. Sowohl für die Patienten als auch für die Mitarbeiter."
"Ihr hattet schon immer einen Sinn für makabre Witze", flüsterte ich. "Wieso bin ich hier?"
Piere schaute mich ernst an. "Wieso wir? Du hattest einen Unfall. Erinnerst du dich an ihn?"
Ich schüttelte den Kopf, versuchte es zumindest, und schon der Versuch endete in einer schlimmen Kopfschmerzattacke, die Ewigkeiten dauerte, bis die Kopfschmerzen wieder auf dem vormaligen Schmerzniveau angekommen waren. Aber auch mein Hals tat weh.
"So ganz dunkel. Friedhof. Auto. Und ein Hänger. Richtig?" Ich merkte, wenn ich mich anstrengte, dann flossen beide Pieres zusammen, aber das war zu schwierig. Also ließ ich es so, wie es war. War diese Sehstörung eine Unfallfolge? "Ich sehe dich irgendwie doppelt."
"Das liegt wohl an der Kopfverletzung. Da war noch ein anderer Mann vorher auf dem Friedhof, meinte die Polizei."
"Ach ja, der. Ich weiß nicht mehr ..."
"Schon gut, Sandra. Die Erinnerung wird schon noch wiederkommen. Wie fühlst du dich?"
"Wie eine Bratwurst nach dem Abfüllen in einen Darm."
"So schlimm?"
"So schlimm. Wie schlimm ist es?"
"Ernst, aber nicht schlimm. Das wird wieder!"
"Das sagst du doch nur, um mich zu beruhigen." Ich wagte den Versuch eines Lächelns, der in einer vermutlich makaber aussehenden Miene endete. Zumindest fühlte es sich für mich so an. Sehen konnte ich es ja nicht.
"Wetten, dass doch!"
"Wie kann ich denn dagegen wetten, wenn die Gleichung von meinem Gesundheitszustand mehr Unbekannte in der Formel hat als das Alphabet."
"Ach, Sandra, das liebe ich an dir. Egal, was mit dir ist, du bleibst immer lustig."
"Sonst etwa nicht?"
"Doch. Also normalerweise bist du das. Und jetzt auch. Trotz all der passierten Sachen."
"Also ist es doch schlimm!"
"Umsonst sind diese Piepsdinger ja nicht da."
"Wie spät?"
"Fünfzehn Uhr dreißig."
"Nein. Ich meine, wie lange liege ich schon hier?"
"Zehn Tage."
"Auweia. Ich brauche mein Handy. Ich muss doch im Laden Bescheid sagen!"
"Quatsch. Das hat deine Anwältin Ellen doch schon gemacht."
"Also, wie geht es mir?"
"Fühlst du das nicht?"
"Doch. Alles tut weh und ist Matsch."
"Na, siehst du, geht doch!"
"Piere!"
Ich sah, dass er grinste. Beide grinsten sie. "Ach, so schlimm ist es eigentlich gar nicht. Du hast ein paar Prellungen ..."
"Piere!!!"
Er seufzte. "Okay, dann auf die harte Tour. Schädelhirntrauma mit inneren Blutungen, eine schwere Gehirnerschütterung, sowie ein Schleudertrauma an der Halswirbelsäule. Dein rechter Daumen ist gebrochen. Und dein Bein ..." Er machte eine Pause.
"Was ist denn mit meinem Bein? Links, oder? Es tut weh, aber ich kann es nicht bewegen."
"Da ist allerhand kaputtgegangen. Das war ein offener Trümmerbruch. Da bestehst du nun zu einem Teil aus Metall. Willst du mal sehen?" In seiner Stimme war jetzt keine Fröhlichkeit mehr. Ich nickte. Piere hob die Bettdecke hoch. Ich versuchte, mich aufzurichten, aber es ging nicht. Ächzend entspannte ich meine Muskeln wieder und fiel die 0,5 Millimeter wieder herunter, die ich mich gerade versucht hatte hochzustemmen. "Warte mal", sagte Piere, zückte sein Handy, machte ein Foto, und hielt es mir hin.
"Oh nee, 'ne!" Es sah schrecklich aus. Aus meinem Bein ragten etliche Metallstäbe, welche über andere dickere Metallstäbe zusammengehalten wurden. Das mit dem Doppeltsehen wurde langsam besser und ich sah meist nur ein Handy.
"Keine Angst, Sandra. Es sieht schlimmer aus, als es ist", sagte Piere allen Ernstes.
"Und mein Gesicht?"
"Willst du das wirklich sehen?"
"Piere, bitte!"
"Na gut, aber ich habe dich gewarnt!" Piere zückte erneut sein Handy, machte ein Foto von mir, und zeigte es mir.
"Oh nee, 'ne!" Mein Gesicht war aufgedunsen, mit zahlreichen Blutergüssen übersät, und meine Augenhöhlen waren blutunterlaufen.
Mit: "Es sah zuerst noch schlimmer aus", versuchte Piere mich zu beruhigen.
"Kannst du mir eine geladene Pistole besorgen? So nimmt mich doch kein Mann mehr! Niemals nicht!"
"Ich nehme dich. Würde ich, wenn ..."
"Evelyn hieß die, oder?"
"Heißt sie. Und Justus."
"Ach ja, da war ja noch wer!"
"Mein Gott, Sandra, du hast ja einen ganzen schönen Dachschaden bekommen."
"Das Gefühl hab ich auch." Ich stöhnte. "Kann ich was trinken? Ich hab so einen trockenen Mund", flüsterte ich.
"Da muss ich mal vorne fragen. Momentan trinkst du noch intravenös." Piere zeigte zur anderen Seite. Da hing so ein komischer Beutel an einem Gestell. Ein Tropf also. Sah so ähnlich aus wie damals bei Antonio im Krankenhaus, nachdem er auf dem Friedhof zusammengeklappt war. "Die Magensonde haben sie schon entfernt."
"Wieso hat dir der Arzt denn das alles gesagt?"
"Schon vergessen? Vor deiner Feier? Du hast mit mir und deiner Anwältin Ellen Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht, und Betreuungsverfügung gemacht. Gerade noch rechtzeitig vor deiner bescheuerten Aktion, wenn ich mir mal die Bemerkung erlauben darf."
"Du sprichst jetzt genauso blasiert wie dieser Leichenfledderer von diesem einen Tatort."
"Lass ihn das mal nicht hören. Außerdem ist der nur eine Filmfigur."
"Jawohl, Herr Professor Weißgerber!"
"So'n Quatsch!"
"Ist kein Quatsch. Uwe hat damals gesagt, du rezitierst gerne bei Meetings. Wie ein Professor."
"Da hatte er recht. Ich liebe es, wenn mich Frauenaugen dabei anschmachten."
"Meine Frauenaugen hatte ich dir ja auch schon zugeworfen damals. Auch ohne Gequatsche und Meetings."
"Sandra, ich glaube, du bist schon auf dem Weg der Besserung. Kannst schon Witze machen, einfache Sätze verstehen ..."
"Hahaha ...", der Rest ging in einem schmerzhaften Husten unter.
"Ich frage jetzt mal, ja? Nicht weglaufen!"
Fast hätte ich einen weiteren Hustenanfall bekommen, aber da der erste schon so weh tat, ließ ich es. Nach ein paar Minuten, die sich für mich wie Stunden angefühlt hatten, kam so ein Weißkittel herein, gefolgt von Piere, der ein Glas mit Wasser in der Hand hatte. Es sah immer noch ein wenig so aus wie bei einem Fernseher mit Bildstörung, da auch der Arzt manchmal doppelt zu sehen war. Aber es wurde nun weniger anstrengend, die Bilder zusammenzuführen. "Hallo Frau Neuhaus. Ich grüße sie. Wie fühlen sie sich?"
Ich ignorierte ihn erst einmal und fragte Piere: "Ist da mein Todescocktail drin?"
"Klar doch", sagte Piere, der Arzt griente, stellte mit dem Bedienteil die Lehne des Bettes steiler, und Piere gab mir was zu trinken. Der Arzt wartete geduldig.
"Wie lange dauert es, bis es wirkt?", fragte ich den Arzt.
"Uhhhhh, ich würde sagen, so etwa 40 bis 50 Jahre. Ist das für Sie okay?"
"Na gut, bringe ich mich eben anders um!"
Der Arzt schaute jetzt ganz besorgt und wollte schon was sagen, aber ich schob hinterher: "Das war ein Witz!"
"Puh, ich wäre froh, wenn alle meine Patienten so gut gelaunt wären wie sie. Hat sie Herr Weißgerber schon informiert?"
"In Ansätzen. Werde ich wieder eine Frau?"
"Sie sind doch eine! Zäh, lustig, und ..."
"Nein, sexy war ich vielleicht früher mal. Schauen sie sich doch mal mein Bein an!"
"Hab ich schon gemacht. Als ich sie operiert hatte. Stundenlang! Das wird wieder! Es dauert halt nur!"
"Wetten, dass nicht?"
"Die Wette nehme ich an!" Piere schaute nur staunend zu.
"Also, sie müssen sich jetzt erst mal eine Weile schonen. Sie hatten ein Schädelhirntrauma und eine Gehirnerschütterung, da brauchen sie vor allem erst mal Ruhe. Den Bruch in Ihrem Bein haben wir mit Fixateuren geheftet. Beim Hals machen wir dann eine Halskrause drum, wenn sie so weit sind. Vielleicht schon nachher. Den gebrochenen rechten Daumen haben wir mit einem Draht provisorisch geflickt. Den dürfen sie noch nicht voll belasten. Momentan müssen sie ohnehin erst mal liegen. Die Geräte lassen wir zur Sicherheit noch bis morgen dran, dann schauen wir mal. Der Bruch am Bein war offen, da sind auch Bakterien hineingekommen. Dagegen bekommen sie Antibiotika, das wird noch eine ganze Weile dauern." Er schaute mir aufmerksam in die Augen. "Haben sie Sehstörungen? Man sieht ein leichtes Schielen."
"Ja, manchmal ist alles doppelt."
"Das ist bald weg. Das machen die Medikamente und die Augen müssen sich auch wieder an das normale Sehen gewöhnen. Haben sie noch Angehörige?"
"Keine direkten. Ich habe einen Stiefsohn, der momentan bei mir wohnt. Wieso wollen sie das wissen?"
"Beim Bein mit dem Bruch sollte das Bein und der Fuß so etwa ab nächsten Wochenende regelmäßig bewegt werden, damit sich das Gelenk nicht versteift und die Sehnen wieder gedehnt werden. Anfangs nur sehr behutsam. Wir machen das zwar auch, aber ein wenig mehr zur Ergänzung kann nicht schaden. Haben sie da jemanden, der das machen könnte?"
"Ich kann das doch machen!", sagte Piere.
"Quatsch! Du musst deine Firma leiten! Kann das nicht jemand anders machen?"
"Ich organisiere das jedenfalls. Und sonntags kann ich das auch selbst machen."
"Ist heute Sonntag?"
"Ja", sagte der Arzt.
"Wie heißen sie eigentlich?"
"Karsten."
"Und weiter?"
"Bitte nicht lachen! Karsten Neuhans."
"Ach! Klingt ja fast wie mein Nachname. Kennen sie denn einen Uwe Neuhaus?"
"Nee. Wer ist das?"
"Mein Mann. Als er noch lebte."
"Oh! Mein Beileid!"
"Arschloch! Also nicht sie, sondern mein Mann."
"Sie hat recht!", beeilte sich Piere zu sagen.
"Obwohl er mir letztens das Leben gerettet hat."
"Davon hast du mir gar nichts erzählt", sagte Piere erstaunt.
"Ich gehe dann mal", sagte der Arzt. Er merkte wohl, dass das Gespräch jetzt privater werden würde.
"Es war auf dem Friedhof", sagte ich, als der Arzt die Tür geschlossen hatte.
"War das sein Geist?", fragte Piere.
"Nee. Einfach sein Dasein oder besser gesagt das Dasein seines Grabsteins. Da kam ja der Typ an, dieser Solco, und wollte mich erwürgen, und als der die Gravur von Uwe auf dem Grabstein gesehen hat, war er so perplex, dass ich ihn abwehren konnte. Und dann mit den beiden Männern ..."
"Erwürgen? Welche Männer? Und wer ist Solco?"
"Mein Stiefsohn."
"Ich dachte, der heißt Andrea."
"Tut er ja auch. Aber er hat noch einen Zwillingsbruder mit Namen Mario. Sein Spitzname ist Solco. Er hat mich auf dem Friedhof angegriffen. Also, erst hatten wir geredet, und als er nicht bekommen hat, was er wollte, hat er mich angegriffen. Und zwar mit einem Messer."
"MIT EINEM MESSER?!!!" Piere war ganz aus dem Häuschen und seine Stimme überschlug sich."Und das hast du überlebt?"
"Siehst du doch! Ich mache doch jetzt diesen Selbstverteidigungskurs. Da lernt man so einiges."
Piere raufte sich die Haare. "Mann, oh Mann, Sandra! Weiß das die Polizei?"
"Ich dachte, die Männer hatten was gesagt! Ich musste doch den verfolgen und dabei hatte ich diesen Unfall, glaube ich."
"SANDRA!!!!" Piere schaute mich jetzt richtig böse an. "Hat schon jemand mit dir geschimpft?"
"Nöööö."
"Dann mache ich das jetzt! SANDRA!!!!!"
"Ich liebe dich auch!"
"Evelyn liebt mich!"
"Ach die ...!"
"Trotzdem. Ich schicke mal die Polizei vorbei. Das stellt diesen Unfall ja in ein ganz anderes Licht."
"Mach das, Piere." Die Sache hatte mich jetzt ziemlich aufgeregt, und ich wurde wieder müde und verlor all meine Energie. "Ich glaube, ich muss jetzt schlafen."
"Gut, Sandra." Piere gab mir noch einen Kuss auf die Wange. "Ich komme morgen Abend nach der Vorstandssitzung nochmal vorbei, ja?"
Ich nickte nur mit den Augen, mit dem Kopf konnte ich das ja noch nicht. Er war noch gar nicht raus, da musste ich bereits eingeschlafen sein. Im Nebel bekam ich mit, dass ab und zu jemand ins Zimmer kam und nach mir sah, irgendwas an mir machte, aber ich war viel zu müde und zu schlapp zum richtigen Aufwachen. Das änderte sich am anderen Morgen.
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Teil3: Drah di net um!
"Guten Morgen", rief eine unglaublich scheißfreundliche Frauenstimme und riss mich aus meinem Schlaf. Ich öffnete meine Augen und stöhnte auf, da ich mein Bein versuchte zu bewegen wie sonst jeden Morgen, also es anzuspannen und zu strecken. Das hätte ich nicht machen sollen, es tat weh.
"Na, wie fü ..."
"Kommt jetzt dieses 'wie fühlen wir uns'?", fragte ich. Dann erst schaute ich sie an. Eine schlanke und sehr hübsche junge Frau mit langen blonden Haaren in einem dieser obligatorischen Kittel schaute mich an. Ihr Gesichtsausdruck war total passend zu ihrer Begrüßung. Jetzt schmunzelte sie. Und sie war alleine gekommen. Kein doppeltes Sehen mehr.
"Wie fühlen Sie sich, Frau Neuhaus? Ich bin Schwester Kristin."
"Irgendwie zwischen tot und lebendig, nur nicht so schlimm."
"Oh, klingt so, als hätten wir noch viel Freude miteinander", sagte Kristin.
"War das jetzt ironisch gemeint?", fragte ich.
"Nein, genauso wie ich es gesagt habe. Sie sind lebendig und witzig und nicht so mürrisch, herrisch oder verhuscht wie viele andere ... Patientinnen."
"Und die Männer?"
"Die nicht. Die schauen mich immer an oder sogar hinterher und stellen sich wohl irgendwelche Sachen mit mir vor."
"Einer der Vorteile, wenn man Frau ist."
"Wie haben sie das denn geschafft, Frau Neuhaus?"
"Was? Der Unfall? Ich habe versucht, einen gefährlichen Verbrecher zu stellen, und das ist schiefgegangen. Ziemlich gründlich offenbar."
Sie hielt mir ein Gerät auf die Stirn, welches nach ein paar Sekunden piepte. "37", sagte sie.
"Nee, ein wenig älter bin ich schon."
"Ich meine ja auch ihre Körpertemperatur", sagte sie, und fing an, an meinem Kopf herumzufummeln. Es klopfte, die Tür öffnete sich, und Jens Mehnert steckte seinen Kopf hindurch, sah mich und lächelte.
"Autsch", sagte ich.
"Ja, tut ein wenig weh, aber ich muss den Verband wechseln."
Jetzt erst sah Schwester Kristin ihn. "Was machen sie denn hier? Bitte warten Sie draußen, bis ich fertig bin."
Er machte sich auf den Weg hinaus. "Der ist von der Polizei. Wenn die 'ne Hausdurchsuchung machen, kommen die immer so früh." Das dürfte er noch gehört haben.
"Wenn der sie anfasst, schreien sie, ja? Durchsuchen ...!" Sie schüttelte den Kopf.
"Der durfte es wirklich schon mal. Beides."
"Sie sind mit einem Polizisten verheiratet? Sie sind mir ja eine! Ihr Ring ist übrigens im Safe, falls Sie ihn brauchen oder die anderen Sachen." Dabei lächelte sie mich aber an. Vielleicht waren wir ja zwei Seelenverwandte.
"Sandra. Sie können gerne Sandra zu mir sagen. Egal ob mit du oder sie. Ist mein Handy auch dabei? Da, im Safe?"
"Gut, Sandra. Sie können sich jetzt durchsuchen ... verhören lassen. Ich schick ihn rein und bringe ihnen noch das Handy vorbei, ja?"
"Danke, Kristin."
Es klopfte. "Nun kommen sie schon rein!", rief ich. Das Rufen hörte sich aber eher wie Krächzen an. "Hab eh schon auf sie gewartet", letzteres aber mit wesentlich sanfterer Stimme.
Er kam auf mich zu, sowohl lächelnd als auch besorgt. "Wie geht es dir?"
"Ah, du bist also privat hier." In seinem Gesicht bildete sich ein leichtes Grinsen. "Gut so weit. Es sind nur ein paar Kleinigkeiten. Und ich hab eigentlich Herrn Mehnert erwartet."
"Der bin ich auch. Trotzdem wollte ich natürlich zuerst wissen, wie es dir geht."
"Sieht nicht gut aus. Siehst du ja. Ich werde wohl zukünftig immer unter dem Radar fliegen können. Stealth-Sandra!"
"Mein Radar unterfliegst du nicht. Vermutlich meintest du damit die gierigen Blicke der Männer."
"Exakt, Herr Detektiv!"
Jetzt wurde er ernst und schaute mich mit dem dazu passenden Augenausdruck an. "Was ist passiert, Sandra?"
"Müsstest du nicht Frau Neuhaus sagen?"
"Ja, aber ich übersetze das dann im Protokoll automatisch in die korrekte Form."
"Na gut. Ich war blöd."
"Blöd, ja? Mehr nicht?"
"Doch. Ich war blöd und habe mit dem Feuer gespielt."
"Lass mich raten: dieser Solco?" Ich nickte, soweit Nicken bei mir überhaupt ging. Gestern hatte ich das nicht so gespürt, aber heute merkte ich deutlich, dass ich da so eine Halskrause umhatte. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie mir so eine umgelegt hatten. "Mann! Ich hab dir gesagt, du sollst die Finger von der Sache lassen!"
"Du kennst mich ja." Das Geständnis kam jetzt so richtig kleinlaut aus meinem Mund.
"Eben! Also ...?"
"Ich hatte ihn ja angeschrieben. Über seine E-Mail-Adresse. Zumindest an die, welche ich mit ein wenig Überlegungen und Recherchen für seine Mailadresse gehalten hatte. Es passierte lange gar nichts. Und plötzlich, als ich an unserem Jahrestag Uwe treffen wollte ..."
Er unterbrach mich: "Dein Mann LEBT?"
"Natürlich nicht! Es ist nur ... wenn ich ihn oder besser gesagt sein Grab auf dem Friedhof besuche, rede ich manchmal mit ihm. So, als ob er noch da wäre. Verstehst du?"
"Ja, verstehe ich. Erzähl weiter!"
"Jedenfalls saß ich auf der Bank, Uwe war noch nicht da - weißt du, es ist immer so, als spürte ich seinen Geist - da schwang sich auf einmal jemand von hinten über die Lehne und saß neben mir. Ein echter Mensch, verstehst du?" Er nickte. "Er redete mich an, und dann sah ich Andrea. Er war es aber nicht. Er hatte einen wilden Bart und darunter war schwach diese Narbe zu sehen. Also war mir dann klar, dass es Mario alias Solco ist. Wir haben erst ein wenig geredet, es ging hin und her, gegenseitige Vorwürfe, und dann hat er die Katze aus dem Sack gelassen. Er dachte, ich oder Uwe hätten die Drogen noch, und er wollte sie haben. Dann war ich natürlich in der Bredouille."
"Also wusste er auch gar nicht, dass dein Mann tot ist?"
"Du zerstörst ja die Pointe", tadelte ich ihn. "Der hatte also echt gedacht, dass die Drogen nach dem Unfall nicht gefunden, und später Uwe wiedergegeben wurden."
"Wieso glaubte er das? Und wieso weiß der von dem Unfall?"
"Na, den Unfall hat der doch gesehen."
"DEN HAT DER GESEHEN? Wieso weiß ich davon nichts?"
"Ähm ... ich hatte wohl vergessen, dir das zu sagen", antwortete ich kleinlaut.
"Und woher weißt du das?"
"Ich habe die Zeugen gesprochen, welche damals hinter seinem Auto fuhren. Die sagten, dass Solcos Wagen, der hinter ihnen fuhr, angehalten hatte, dann stieg der aus, schaute in die Schlucht, und dann ist er mitsamt seinem Wagen umgedreht."
"Also jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Woher kannten die Zeugen denn seinen Wagen? Haben die damals gelogen?"
"Nein. Ich habe mit jemandem gesprochen, der Solco kannte, und der hat mir gesagt, welche Art Auto er damals fuhr. Den Zeugen hab ich ein Bild von so einem Auto gezeigt und dann haben sie sich daran erinnert, dass es so eines war, nur in einer anderen Farbe. Ein sehr auffälliges Auto für hiesige Verhältnisse, so ein Amischlitten."
"Bist du 'ne verdeckte Ermittlerin, Sandra? Das geht weit über das hinaus, was normale Menschen machen."
"Keine Ahnung. Find es raus." Dann prustete ich aber, und das zauberte ein Lächeln in das Gesicht von Jens.
"Okay, der dachte also, Uwe hat den Unfall überlebt und er oder du hättest die Drogen bekommen, ja?"
"Genau das. Verstehe auch nicht, wieso. Das war naiv, oder?"
"Gar nicht mal. Die waren in der Reisetasche in einem verborgenen Fach versteckt. Entdeckt wurde die nur, weil die Tasche an einer Stelle beim Unfall etwas aufgeschlitzt wurde und da schaute dann ein Stück einer Umverpackung heraus. Da sind die italienischen Kollegen stutzig geworden und haben die Tasche genauer untersucht, und haben dann die Beutel mit dem Fentanylpulver gefunden."
"Ach so. Jedenfalls wollte er die Drogen, und als ich ihm gesagt habe, dass diese von der Polizei gefunden worden sind, wollte er Geld von mir haben. Und das, obwohl er von Uwe bereits Geld dafür bekommen hatte, der die Drogen wohl dann vernichten wollte, damit Solco nicht weiter auf die schiefe Bahn gerät."
"Hat er dir das gesagt?"
"Genau das hat er gesagt. Und er ist ein Betrüger. Er hat von Uwe das vereinbarte Geld für die Herstellungskosten des Fentanyl angenommen, aber Uwe Puderzucker angedreht, wie er mir gesagt hat. Aber Uwe ist dann noch mal wiedergekommen, hat ihn ausgetrickst, die Drogen an sich genommen, und ist damit stiften gegangen. Und dann gab es ja den Unfall. Und wie ich erfahren habe, ist Solco ihnen hinterhergefahren, hat aber nicht eingegriffen. Vermutlich wollte er ihnen die Drogen wieder abnehmen, aber das ging dann ja nicht mehr so ohne Weiteres. Und dann kam die Polizei und fand diese, ehe Uwe sie vernichten konnte, da er dann ja diesen Unfall hatte."
"Bist du deswegen nach Italien? Wolltest du deinen Mann sozusagen reinwaschen?"
"Darum ging es mir anfangs gar nicht. Ich wollte nur mehr herausbekommen. Die Wahrheit. Das, was ich herausfand, war ein willkommener Nebeneffekt, der mir zeigte, dass Uwe doch nicht durch und durch verdorben war. Aber seine andere Schuld mindert das nicht."
"Wie bist du denn an die Zeugen gekommen?"
"Die wurden mir vermittelt. Von einem Bekannten."
"Ach! Heißt der vielleicht Ricardo? Hat der von dir eine Belohnung bekommen?"
"Das ist Betriebsgeheimnis."
"Ich hab mir schon gedacht, dass du auch deine kleinen Geheimnisse hast, die du hütest wie deinen Augapfel. Wie ging's denn dann weiter?"
"Ja, gutes Stichwort. Als der also gemerkt hat, dass er weder die Drogen noch das Geld von mir bekommen würde, ging der dann auf mich los, zückte ein Messer und bedrohte mich, bereit zuzustechen." Er bekam große Augen. "Er hat zuerst mit dem Messer vor mir so einmal herumgeschwungen, dann hat er zugestochen, aber ich konnte ausweichen und ihm das Messer aus der Hand schlagen. Er bekam es aber wieder zu fassen und ging erneut auf mich los. Ich bin nach hinten ausgewichen. Da blieb ich leider mit dem Fuß hängen und bin rückwärts ins Grabbett gestürzt. Und als der mich abstechen wollte, als ich so lag, da habe ich ihn in die Eier getreten und ihn am anderen Arm gezogen. Er stürzte, verlor das Messer, bekam es aber wieder zu fassen, dann habe ich ihn in die Hand gebissen, er hat das Messer fallen lassen, das habe ich gegriffen und ins Gebüsch geschleudert. Aber dann hat er angefangen, mich zu würgen."
"Ach, daher die Würgemale!", entfuhr es ihm. "Die beiden Zeugen waren sich nicht so sicher."
In diesem Moment kam Kristin noch einmal ins Zimmer und brachte mir das Handy. "Ist aufgeladen", sagte sie noch, ehe sie wieder verschwand, kopfschüttelnd, denn das mit den Würgemalen und den Zeugen müsste sie noch gehört haben.
"Die beiden Männer kamen ja erst später dazu. Jedenfalls war er schon kurz davor, Erfolg zu haben, da hat er auf einmal von mir abgelassen, da er auf dem Grabstein mit Staunen gesehen hat, dass sein Erzeuger Uwe tot ist. Da konnte ich mich ihm entziehen und fliehen sowie um Hilfe rufen, er hat aber nachgesetzt und mich zu Fall gebracht und wieder gewürgt. Und dann kamen diese beiden Männer auf mich zu, er hat von mir abgelassen, ist dann geflohen, hat sich in sein Auto gesetzt und ist weggefahren. Und ich dann hinterher. Ich wollte ihn stellen. Und das Resultat siehst du jetzt hier. Da kam dann irgend so ein Unimog und ein Hänger."
"Puh. Das war ja aufregender als meine Arbeit! Und es war total leichtsinnig von dir! Ich bin aber trotzdem froh, dass du noch okay bist."
Ich versuchte, höhnisch zu lachen, aber es misslang mir. "Das nennst du okay?"
"Ausbaufähig, Sandra, ausbaufähig. Wollen wir wetten?"
"Nee, ich hab schon eine Wette deswegen am Laufen!"
"Worum geht es da?"
"Keine Ahnung. Das Objekt der Wette ist mein zukünftiger Zustand. Er sagt ja, ich sage nein."
"Lustige Wette! Falls der Einsatz sittenwidrig ist, dann weißt du ja. Auf jeden Fall danke für deinen Hinweis. Wir haben kein Messer gesucht und daher auch keines gefunden. Ich schreibe dann noch das Protokoll deiner Zeugenaussage, das musst du später noch unterschreiben. Dann gehe ich mal suchen, ja?"
"Viel Erfolg." Er ging aus der Tür und der Arzt von gestern kam gerade herein.
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Teil4: Schlechte Nachrichten
"Hey", sagte er.
"Hey Karsten Neuhans. Sagen Sie mal, wie war eigentlich der Einsatz für diese Wette?"
"Suchen sie sich was aus. Essen gehen wäre okay."
"Mit allem? Das hätte ich vielleicht sogar dann gemacht, auch wenn ich die Wette nicht verliere. Klingt also ganz annehmbar."
"Was ist denn alles?"
"Na Essen und Nachspiel. Vielleicht."
"Gut." Leider ging er auf die Sache mit dem Nachspiel nicht ein. Ich spürte, wie ich meine Stirn runzelte. "Wie haben sie geschlafen? Tut irgendwas weh? Und wie fühlen sie sich?"
"MhMh-Überraschung."
"Überraschung?"
"Schauen Sie keine Werbung? Drei Fragen mit einmal ..."
"Ach so, das. Aber mal in Ernst!"
"Schlafen: wie ein Murmeltier. Wehtun: ja, vor allem das linke Bein, der Kopf, der Hals, der Oberkörper, also eigentlich alles. Dann brauche ich ja nicht mehr zu sagen, wie ich mich fühle."
"Ich meinte mit der Frage eher, ob sie zuversichtlich sind, wieder gesund zu werden. Wissen Sie, das Körperliche, das können wir meist heilen. Mit Medikamenten, Skalpell und so weiter. Aber gestern schienen sie mir doch sehr deprimiert. Auch wenn nicht alle Ärzte so sind, aber ich lege da großen Wert drauf." Er blickte mich nun fragend an.
"Ja, ich war gestern depri. Hatte wohl auch meine sarkastische Ader. Entschuldigung. Vielleicht werde ich ja wirklich wieder so gesund, dass alles funktioniert. Aber ich werde dann keine Frau mehr sein, oder? Jedenfalls keine, nach der man sich umdreht."
Er lächelte. "Sie meinen Mann mit Doppel-N, ja? Dafür kann dann aber mein Bruder sorgen."
"Mit Flirten, oder wie?"
"Nee. Plastische Chirurgie. Er ist spezialisiert auf Rekonstruktion. Hinterher sehen sie dann genauso aus wie vorher. Fast."
"Klingt so, als müsste ich schon wieder gegen sie wetten!"
"Verlieren sie gerne?"
Ich schaute ihn an. Er sah schnuckelig aus. Wie 25, 26. "Gegen sie ja."
Er hob seine Hand in die Höhe, an der ein Ring prangte. "Ich nehme die Wette trotzdem an, tausche sie gegen die erste. Hatten sie eigentlich eine Nahtoderfahrung?"
"Nee, also so eine richtige nicht. Als kein Licht und dass man auf seinen eigenen Körper schaut und so. Aber ich träumte, ich sei im Hades. Dem Fährmann habe ich Falschgeld gegeben und dann ist der wieder abgedampft. Und ich war in einer Bergbaumine. Da waren Minenarbeiter und die haben gehämmert und so. Es klang jedenfalls so."
Er schmunzelte. "So einen Bericht habe ich auch noch nicht gehört. Aber diese Minenarbeiter im Traum, das war wohl die Arbeit unseres MRT."
"Was ist denn ein MRT? Das medizinische Rettungsteam?"
"Na, das ist so eine Röhre, in die man geschoben wird. Die kann mit starken Magneten 3D-Bilder vom Körperinneren machen. Das ist ziemlich laut und das haben sie wohl im Unterbewusstsein gehört. In einigen Tagen schieben wir sie nochmal dort rein, denke ich."
"Ich freue mich schon", sagte ich mit ein wenig Ironie.
"Ich komme nachher nochmal vorbei. Mit der Visite. Arbeiten Sie an der Gesundheit. Mit dem Kopf!" Er ging aus dem Zimmer. Dann bekam ich endlich etwas zu essen. Kurz danach kam die Reinigungskraft. Dann wieder Kristin. Zeitweise gaben sie sich die Klinke in die Hand, dann wiederum verstrichen Stunden ohne nichts. Das Mittagessen kam. Danach wurde ich müde und schlief ein.
Am späten Nachmittag klopfte es an der Zimmertüre und nach dem "Ja!" kam erneut Jens Mehnert ins Zimmer hinein.
"Hallo Sandra Neuhaus", sagte er.
"Oh! Ist das eine neue Variante von: Ich bin dienstlich hier, will aber auch schauen, wie es dir geht?"
"So ungefähr. Vielleicht sollte ich dich auch gleich als neue Mitarbeiterin rekrutieren. Vor dir kann man aber auch nichts geheim halten."
"Ich tue mal so, als wäre das nicht ernst gemeint. Was führt dich denn zu mir?"
"Sehnsucht?"
"Dann zeig mal deine Sehnsucht!"
"Erst die dienstliche Sache. Ich muss dich leider erst mal konfrontieren." Er zog aus einer Umhängetasche, die er mit sich führte, etwas heraus. Eine Plastiktüte. In der lag ein Messer. "Kommt es dir bekannt vor?"
"Ich konnte es ja nicht richtig sehen, aber so ein Messer in der Art war es."
"Es sind seine Fingerabdrücke drauf. Deine auch."
"Wieso habt ihr die?"
"Die waren noch im System vom Einbruch damals. Irgendwer hat wohl vergessen, sie zu löschen."
"Hieß der vergessliche Typ vielleicht Jens Mehnert?"
"Nee. Ich habe den Fall ja nicht gehabt, eine Kollegin hat den weiter bearbeitet, aber da wir dann alle Hände voll zu tun hatten, wird sie es wohl vergessen haben."
"Dann hatte es ja doch noch einen Sinn. Also wie gesagt, das könnte das Messer sein, aber genau ... es hat da jedenfalls so ein metallisches Geräusch gegeben und dann war die Klinge herausgesprungen."
"Ja, so eine Art Messer ist es auch. Ist kein Blut dran. Auch keine Hautpartikel. Wir haben eine Fahndung gestartet." Dann schwieg er.
"Kommt da jetzt noch was?"
"Wir haben auf jeden Fall ein Verfahren wegen versuchten Totschlags eingeleitet. Für Mord wird es leider nicht reichen."
"Und wo ist der Typ jetzt?"
"Die französischen Kollegen haben ihn aufgespürt."
"Ach! Ist er ... ist er tot?"
"Nein. Er ist den Kollegen in Frankreich bedauerlicherweise durch die Lappen gegangen und konnte dann entkommen. Wo er jetzt ist, wissen wir nicht."
Mein Puls erhöhte sich sprunghaft. Das konnte doch nicht sein! Ich war in großer Gefahr! "Jens! Ihr müsst da was tun! Wenn er hier auftaucht! Hier, im Krankenhaus! Krieg ich Polizeischutz?" Ich sah es seinen Augen schon an, bevor er es sagte. NEIN! NEIN! So ein Mist!
Jens lachte, aber es war so die Art von Lachen, die einem im Hals stecken bleibt. "Wenn du Senatorin wirst sicher, aber für normales Fußvolk wie du und ich haben die nur eine: 'Dann müssen sie halt mit der Gefahr leben' - Floskel über. Und die: 'Wir haben kein Geld für sowas' - Floskel. Von deinem Unfall weiß der ja vermutlich nichts. Wir haben einen Busfahrer ausfindig gemacht, der zu der Zeit an der Ampel am Friedhof stand. Laut Befragung ist dieser Solco schon vorher über die Ampel darüber und aus dem Friedhof herausgefahren. Der Fahrer stand direkt hinter ihm und hat sich über das italienische Nummernschild gewundert. Erst als der Bus hinausgefahren ist, hat der Busfahrer den lauten Knall von deinem Unfall gehört. Da war der schon weitergefahren. Der Busfahrer hatte etwas über den Unfall in der Zeitung gelesen und sich die Sache daher gemerkt."
"Aber Mario alias Solco könnte irgendwann später zu meinem Haus kommen. Oder zu meinem Laden."
"Er wird sich wohl erstmal hüten, aber irgendwann könnte das sein."
"Und dann?"
"Musst du beten. Oder du beantragst einen Waffenschein. Dann musst du aber auch bereit sein, die Waffe zu benutzen."
"Ich dachte mir sowas schon. Und eine Waffe will ich nicht. Wie geht's eigentlich diesem Unimogfahrer? Ist dem was passiert?"
"Der hatte Glück. Er hat nur einen Schreck bekommen. Noch nicht mal ein Schleudertrauma, da der Hänger von der Kupplung gesprungen ist. Du hast trotzdem ein Verfahren am Hals wegen Verursachung eines Verkehrsunfalls. Aber wenn du die Sachlage schilderst, inklusive des traumatischen Zustandes wegen der Attacke, werden sie wohl ein Auge zudrücken und die vermutliche Geldstrafe wird nicht ganz so hoch ausfallen."
"Na gut. Wie war das noch mal mit der Sehnsucht?"
Jens schaute zum anderen Bett, zu meiner Mitgefangenen, die aber auf der Seite lag und schlief. Dann gab er mir einen Kuss direkt auf den Mund. Er fühlte sich gut an, erzeugte aber nicht so wie sonst Lust. Schade. Dann verabschiedete sich Jens und ging danach sicher weiter seiner Arbeit nach. Vorher gab er mir aber noch die Zeugenaussage, die ich durchlesen und unterschreiben sollte. Ich war für heute aber zu müde und schlief wieder ein.
Später kam noch Piere vorbei. Zusammen mit seiner Vogelspinne. Seine Hand kletterte wieder auf meinem Gesicht herum, davon wachte ich auf. Dieses Mal nahm ich sie aber gefangen. "So, Spinnchen, habe ich dich!" Dann schlug ich die Augen auf und drückte meinem Gelegenheits-Lover einen Kuss auf die Hand.
"Deine Reflexe sind also schon besser geworden", sagte Piere.
"Alles! Bin schon fast wieder auf dem Damm", sagte ich.
"Haha, Sandra. Kann ich ja das Gift wieder wegstecken."
"Du hast doch gar keines!"
"Du kennst mich ja sehr gut. War aber nicht schwer, oder? Wie schaut's aus?"
"Die Polizei war hier. Die haben das Messer gefunden, dann nach meinem kriminellen Stiefsohn gefahndet und ihn auch aufgespürt, aber er konnte entkommen."
"Oh! Hast du jetzt Angst?"
"Ein wenig schon. Aber ich kann ja Selbstverteidigung!" Piere lachte, dann wurde er aber wieder ernst. "Ich hab mir mit Uwe ganz schön was eingebrockt, oder?"
"Du solltest ihn nicht komplett verurteilen. Für die kriminelle Karriere deines zweiten Stiefsohnes kann er sicher nichts. Und das andere wird sich so ergeben haben. Manchmal rutscht man da so in etwas rein, was man nicht will. Er und ihr hattet sicher auch gute Momente."
"Ja, schon, aber das war wirklich ein bisschen viel. Viel zu viel. Ich hasse ihn!"
"Sandra! Tu dir das nicht an. In deinem eigenen Interesse. Du würdest dabei selbst zugrunde gehen."
Ich seufzte. "Aber diese vielen Rätsel, die noch im Dunkeln sind. Ich habe wohl erst die Spitze des Eisbergs gesehen."
"Jetzt werde erstmal gesund."
"Ich geb mir Mühe." Da fiel mir noch etwas ein. "Piere?"
"Ja?"
"Als du mich aufwecktest, da hast du den Namen meiner Puppe gerufen. Woher kennst du denn deren Namen?"
"Davon hast du mir nie was gesagt. Ich wusste gar nicht, dass du eine Puppe hast. Wie heißt die denn?"
"Na Sandra-chen!"
"Also das habe ich nicht gerufen. Ich habe deinen Namen gerufen. Also, geflüstert. Sandra. Einfach nur Sandra."
"Dann habe ich das im Halbkoma wohl geträumt."
"Das wird's wohl sein. Ich muss jetzt auch los, habe versprochen, Melli mit der Betreuung von Justus bis 21 Uhr abzulösen. Ich schaue mal, ob ich nächsten Sonntag wieder herkommen kann."
"Bis dann, Piere. Und danke!" Er gab mir noch einen Kuss auf die Wange und entschwand. Ich auch bald, nämlich erneut in den Schlaf.
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Teil5: Himmlische Grübeleien
Dann hatte ich einen Traum. Das wusste ich zu dem Zeitpunkt natürlich nicht, denn wenn man träumt, hält man das Geträumte ja in der Regel für wahr und denkt nicht darüber nach. Wieder kam in diesem Traum meine Puppe vor, die mit mir sprach. Ich behielt, als ich aufgewacht war, nichts von diesem Unsinn, den die Puppe plapperte, dachte dann aber über meine Gedanken beim ersten Aufwachen hier nach. Über meine Gedanken, ob man, wenn man stirbt, in den Himmel kommt. Und träumte dann weiter, so in der Art, dass es nahezu nahtlos in einen Tagtraum überging. Der Tagtraum war das Resümee eines späteren Treffens mit Hannes, dem blinden Mann, der beim damaligen Einbruch bei mir vor der Tür gerade vorbeiging und dabei leicht verletzt wurde.
Es war wieder in der Pasta-Gaststätte neben seinem Hotel gewesen. Ich hatte mir Schuhe angezogen, die er noch nicht kannte. Halbhohe Hackenschuhe, so eine Vorstufe zu High-Heels. Trotzdem schaffte er es wieder, mich zu erkennen.
"Guten Abend, Sandra."
"Ich habe heute extra andere Schuhe angezogen. Also kannst du doch sehen!"
"Kann ich nicht. Aber auch meine Nase ist während und nach dem Erblinden feinsinniger geworden. Du trägst das gleiche Parfüm wie letztens. Black Orchid."
Ich lachte auf, vielleicht ein wenig zu schrill, war belustigt. "Ach, kennst du so viele Frauen, dass du ein wandelbares Parfümlexikon bist?"
"Das nicht! Meine Frauenauswahl ist doch sehr beschränkt, wie du weißt, aber dieses Parfüm kenne ich. Außerdem sind hier heute nur Kellner da, die in der Regel keine Hackenschuhe tragen. Ich war mir also ziemlich sicher, dass du das bist. Sehr zu meiner Freude übrigens."
"Nicht erschrecken!", sagte ich, und gab ihm einen Kuss auf die Wange, ehe ich auf meiner Seite des Tisches Platz nahm.
"Oh, so früh schon der Austausch von Zärtlichkeiten?", war seine Antwort.
"Ich habe ja keine andere Verabredung heute, also ist die Chance recht groß, dass es nachher sogar noch mehr Zärtlichkeiten von mir geben wird."
"Darauf habe ich gehofft", sagte er, schob aber hinterher: "Aber auf das Essen mit dir freue ich mich natürlich auch."
"Ist es mit mir besser als sonst mit deinen Studentinnen?"
"Aber ja. Du hast andere Themen. Die Studentinnen kommen immer zu schnell zur Sache."
"Zum Sex?" Ich war verwundert.
"Nein. Zum Reden über Sex. Natürlich meistens nicht so direkt. Es wird verklausuliert vorgetragen. Die haben ja schließlich studiert und können das perfekt."
"Hab ich auch. Und das willst du nicht? Es ist ja manchmal die himmlischste Sache, die Mann oder Frau so kennt."
"Ja, aber darüber nur zu reden ist eher langweilig. Dann lieber über den Himmel."
"Ja, heute war er blau. Klarer Himmel. Kann mich Uwe also gut sehen, wie ich so mit dir hier sitze."
"Wie soll er das denn?"
"Na, mit seinen Augen?"
Hannes lachte kurz auf. "Und wo sollen die sein? Augen sind komplexe Organe. Ich glaube, du bist auch so ein Opfer der Kirche ... oder besser gesagt, der Kirchenerzählungen."
"Was erzählen die denn so?"
"Weißt du doch ... dass man in den Himmel kommt, wenn man schön lieb ist, oder in die Hölle, wenn nicht."
"Ja, da hab ich schon von gehört. Soll also nicht so gut sein, da im Himmel?"
"Doch, als Pilot oder Passagier bestimmt, wenn das Flugzeug intakt ist. Sonst eher nicht."
"Wegen der Augen?" Der Kellner kam und nahm unsere Bestellung auf. Hannes nahm dieses Mal einen Nudelauflauf und ich Spaghetti.
"Nicht nur, aber auch derentwegen. Weißt du, die meisten denken da gar nicht darüber nach. Die denken, man lebt nach dem Tod genauso weiter wie vorher, nur eben im Himmel. Alles Quatsch. Das geht alles nicht. Ohne Augen kein Sehen, ohne Ohren kein Hören, ohne Hände kein Hausbauen, heiraten oder auch nur lieben ist nicht, Kinder kriegen auch nicht, und so weiter."
"Aber vielleicht haben die ja eine andere Art von Augen?"
"Ohne Photonen die man absorbiert, gibt es kein Signal, was man weiterverarbeiten kann. Ohne Gehirn übrigens auch nicht."
"Vielleicht hat die Seele ja so eine Art Gehirn!"
"Auch die Seele ist ein Produkt des Gehirns. Wo soll die denn existieren? Es müsste im Himmel einen wie auch immer gestalteten inneren Zusammenhalt geben, damit so etwas funktioniert. Aber da ist nichts vorhanden. Nur Luftmoleküle, ein wenig Staub, und weiter oben das Weltall mit umher flitzenden Elementarteilchen. Also nichts, womit man denken kann. Und sehen auch nicht. Alles, was wir wahrnehmen und denken, ist im Gehirn verankert. Hirnforscher können sogar die Areale lokalisieren, wo bestimmte Fähigkeiten beheimatet sind, das wissen sie von Unfällen, wo bei Menschen bestimmte Areale zerstört wurden. Also das, was die Leute unter Seele verstehen, das ist im Gehirn selbst und kann ohne es nicht weiterexistieren."
"Du zerstörst gerade alle meine Illusionen!"
"Hattest du die?"
"Irgendwie schon." Ich sah seinen skeptischen Gesichtsausdruck. "Na ja, nur ein wenig." Sein Gesichtsausdruck wurde nicht wirklich milder. Also dann auf die harte Tour. Die ganze Wahrheit, welche die letzten Reste meiner Selbstlüge zusammenbrechen lassen würden. Eigentlich musste ich dafür auch nicht lügen. Auch ich hatte schon öfters darüber nachgedacht und war zu ähnlichen Ergebnissen gekommen, wenngleich aus anderen Gründen. "Hast recht. Es ist Quatsch. Was würde ich denn da sehen? Kinder habe ich nicht. Wenn ich welche hätte, dann könnte ich wohl maximal bis zu den Kindern der Urenkel mithalten und das wäre es dann. Und was müsste ich alles ansehen ... Lügen, Streit, Betrug. Und irgendwann wären das alles Fremde für mich. Dann, viel, viel später, vereist die Erde, oder bekommt einen Hitzschlag, oder es schlägt so ein Asteroid ein. Und irgendwann noch viel später verschlingt die Sonne die Erde. Was dann? Spätestens dann wäre ich heimatlos. Würde heimatlos im Weltall driften. Und die ganze Zeit Lieder auf der Harfe spielen mit Händen, die ich nicht habe, ist auch nicht so der Hit."
"Siehst du. Geht doch!" Er schmunzelte. Ich musste schlucken. Trotz meiner Gedanken, die ich früher dazu schon hatte, war es, das noch mal so klipp und klar von jemand anderem zu hören, eine ganz andere Nummer, als selbst darüber nachgedacht zu haben. "Außerdem gäbe es dann noch das Zustandsparadoxon."
"Was ist das denn?"
"Na, kann dir die Kirche erklären, in welchem Zustand du in den Himmel kommst? Der Demente bleibt dement, das Baby oder Kind bleibt so dumm? Er hat ja nichts gelernt, und beim Demenzkranken ist die Erinnerung zerstört. Und ein Gehgeschädigter? Humpelt der dann im Himmel?"
"Ja, gute Fragen. Dann glaubst du also nicht an Gott?"
"Doch! Na klar!"
"Und wo ist der deiner Meinung nach?"
"Na, überall!"
"Überall? Wie geht das denn?"
"So, wie ich es gesagt habe. Zum Beispiel hier auf der Erde. Die ganze Erde, du, ich, und das gesamte Weltall. Jeder ist ein winziges Stückchen von Gott."
"Dann bin ich also auch ein Gott?"
Hannes lachte. "Du bist zwar als Frau göttlich, aber nicht Gott. Du bist aber ein kleiner Teil von Gott."
"Und wie kommst du zu dieser Erkenntnis?"
"Eigentlich ist es einfach. Alles hängt mit allem zusammen. Erde, Sonne, andere Planeten, auch andere Galaxien, das ganze Weltall. Jedes auch nur winzige Teilchen hat einen gewissen Einfluss auf jedes andere Teilchen. Mal direkt, mal indirekt. Der Effekt ist sehr, sehr klein, oft auch sehr stark verzögert, aber er ist da. Das ist Gott."
"Eine interessante Theorie. Und wo ist da Gottes Wille?"
"Was willst du denn mit dem Willen von Gott? Den gibt es zwar, aber nicht so, wie du ihn dir vorstellst."
Ich lächelte ihn an. Er konnte es nicht sehen, aber es gab meiner Stimme den richtgen Klang für die Frage: "Wie stelle ich ihn mir denn vor?"
"Wie ein Wesen, das von oben herabschaut, alles sieht und eingreift."
"Stimmt. Aber doch erst nach dem Tod."
"Das wäre aber Quatsch. Ein denkendes und mitfühlendes Wesen würde das doch vorher erledigen, wenn es das kann. Es ist ja offensichtlich, dass es kein Wesen gibt, was so etwas tut. Die wenigen Fälle, wo es jemanden trifft, der es verdient hat, sind Zufälle. Statistisches Rauschen. Was schließt du daraus?"
"Das es kein solches Wesen gibt. Du sagtest doch aber, es gibt Gottes Wille!"
"Ja, aber nicht so. Keinen wertenden Willen. Noch nicht mal einen beobachtenden Willen. Oder eher, letzteren nur sehr eingeschränkt. Die Beobachtung macht etwas, ändert sogar etwas, macht also aus einer Möglichkeit einen konkreten Impuls, aber auch das ist im Endeffekt auch nur zufälliges Rauschen."
"Jetzt weiß ich: Du meinst Elementarteilchen!"
"Ja, also Quanten. Du weißt ja, die Wirkung von diesen ist furchtbar klein, aber wenn die auf ein System wirken, welches sich an einem Kipppunkt befindet, können die doch etwas bewirken. Irgendwas im Kleinen, aber auch im Großen oder ganz großen. Nimm zum Beispiel das Erbmaterial einer Zelle. Wenn so ein Quant, ein energiereiches Teilchen, in einer Zelle an einer kritischen Stelle eine DNA beschädigt, kann sich die Zelle zu einem Tumor entwickeln, der dann das große Lebewesen tötet. Das ist zum Beispiel Gottes Wille. Es kann einen Mörder treffen, oder eine Nonne, die ihr ganzes Leben lang nur Gutes getan hat. Gottes Wille ist also da, aber er wertet nicht, und arbeitet rein zufällig. Mal für, mal gegen uns, und meistens bemerken wir ihn gar nicht."
"Das ist also deine Religion?"
"Wenn du es so nennen willst, ja." Er wechselte nun zum Glück das Thema. "Kannst du die auch richtig essen wie ein Italiener?"
"Was meinst du?"
"Deine Spaghetti."
"Ach so. Na ich versuche es zumindest. Ich glaube, das bekommst du nicht mit, wenn ich schummele, oder?"
"Wenn ich es mitbekäme, dann würde ich es übergehen. Wie ein Gentleman. Ich war übrigens vorgestern in deiner Gegend, wieder zu meinem Professor. Leider warst du nicht da."
"Ach du warst das. Ich war da gerade mit einem Liebhaber zu Gange."
"Jetzt flunkerst du aber!"
"Stimmt. Ich war erst spät zu Hause an dem Tag. Wolltest du dadurch wissen, ob ich wieder jemanden festen habe?"
"Hast du?"
"Nein. Und du?"
"Meine Freundin von damals."
"Echt jetzt? Und dann verabredest du dich trotzdem mit mir?"
"Sie hatte kein Problem damit. Ich habe ihr gesagt, du bist eine Maneater. Das fand sie gut."
"Glaube ich nicht!"
"Doch, genau das habe ich ihr gesagt. Aber ich vergaß dir gegenüber zu erwähnen, dass wir nur wieder befreundet sind. Freundschaft ohne Plus. Also kein Paar. Wir reden nur, wenngleich auch ziemlich oft, wenn ich hier bin."
"Das reicht dir?"
"Ja, auch wenn du das nicht glaubst. Die verzehrende Liebe von damals ist einer Freundschaft gewichen. Eine Seelenverwandtschaft, wenn du so willst."
"Was macht sie denn jetzt?"
"Sie arbeitet in einem Labor und forscht an Viren."
"Klingt spannend. Und gefährlich. Hat sie Kinder?"
"Zwei Kinder. Sie ist geschieden, und die Kinder sind schon ziemlich groß. Zwölf und vierzehn."
"Schwierige Tiere!"
"Menschen sind doch keine Tiere!"
Ich lächelte ihn an, trotz des Wissens, dass er das nicht sehen konnte. Aber vielleicht konnte er mein Lächeln ja hören. "Das sagt man so. Pubertiere. Von Pubertät."
Er lachte. "Stimmt, den Begriff habe ich schon mal gehört. Ich nehme alles zurück."
"Wie, wollen sie jetzt doch was anderes?", fragte der Kellner, der auf einmal mit dem Essen aufgetaucht war.
"Nein, den Satz, den ich meiner charmanten Begleiterin gesagt hatte."
"Dann guten Appetit", sagte der Kellner, wir wünschten uns dann auch gegenseitig guten Appetit, und aßen unser Essen. Ich stellte fest, dass Hannes mit seinem Auflauf wesentlich geschickter war als ich mit meinen Spaghetti. Und nach dem Essen verschwanden wir genauso wie die wenigen Male zuvor natürlich wieder in seinem Hotelzimmer. Die Entdeckung der Langsamkeit und der Zärtlichkeit, wie immer, wenn ich mit Hannes intim wurde. Es war seine Art von Sex, und ich mochte es ab und an, auf diese Art verwöhnt zu werden und zu verwöhnen. Er hatte sich dazu an diesem Abend ein besonderes Spiel ausgedacht, und ich spielte es mit. Er band mir einen dünnen Schal um die Augen und so sah ich genauso wenig wie er - nichts. Es war irre, nur zu spüren, wie die Hände, Finger, oder auch die Lippen überall über den Körper wanderten.
Die Erinnerung verblasste. Ich war wieder im Hier und Jetzt. Normalerweise würde alleine das Erinnern an diese frühere Situation ein Kribbeln bei mir auslösen, aber das tat es dieses Mal nicht. Ich sinnierte weiter. Ja, der Himmel. So ziemlich jedes Kind glaubte dieses Märchen, viele Erwachsene auch noch. Ich nicht mehr. Es ist eine bestimmte Art der Selbstlüge. Eine Selbstlüge, die das Unvermeidliche scheinbar erträglicher machen sollte. Manche Leute brauchten das noch. Ich nicht mehr. Oder? Ich schlief dann noch ein wenig, und dann hatte mich der Krankenhausalltag wieder.
Bevor die Visite kam, schaute mein Stationsarzt Dr. Neuhans noch vorbei. "Na, Frau Neuhaus, wie geht's? Haben sie sich schon ein wenig bei uns im UKE eingelebt?"
Ich war überrascht. "Wieso UKE? Bin ich nicht im AK Barmbek?"
"Nein, sie sind im Universitätskrankenhaus Eppendorf."
"Wieso denn nicht im AK Barmbek? Das lag doch viel näher beim Unfallort."
"Keine Ahnung! Ihre Notaufnahme haben die dann wohl abgemeldet. Das kommt gelegentlich mal vor, wenn die überlastet oder unterbesetzt sind, sodass die Fahrer des RTW ihre Patienten woanders hinliefern müssen. Aber bei uns sind sie auch in guten Händen."
"Dann glaube ich ihnen das mal. Ja, mir geht es gut. Das wollten sie doch hören, oder?"
"Wie haben sie es geschafft? Mit dem Vaterunser beten oder mit Hare Krishna murmeln?"
"Weder noch. Ich bin doch Atheistin."
"Hätte ich mir denken können. Was ich eigentlich wollte: Nachher ist Visite. Nicht erschrecken, da kommen eine ganze Menge Leute rein, fast alle sind Ärzte. Und die reden nicht mit ihnen, sondern über sie, mich eingeschlossen. Also, es ist keine Unhöflichkeit, sondern ärztliche Routine, das so zu machen. Okay?"
"Meine Genehmigung gilt als erteilt." Er hob den Daumen und ging wieder raus. Nachher hatte ich tatsächlich ein volles Zimmer. Ich fühlte mich wie ein Affe im Zoo. Der Oberarzt von der Visite ließ dann die Geräte abstellen und ich kam später in ein anderes Zimmer. Da war noch eine andere Frau drin, eine ältere, die von Zeit zu Zeit vor Schmerzen stöhnte. Ich startete mein Handy, erinnerte mich zum Glück noch an meinen PIN und rief Vanessa an.
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Teil6: Besuche und der Murmeltier-Tag
"Sandra! Bist du wieder auf dem Damm?"
"Schön, deine Stimme zu hören, Vanessa. Ich kann von hier die Krone des Dammes sehen, aber noch bin ich ziemlich weit unten. Wie läuft der Laden?"
"Wie immer, aber wir kommen mal vorbei, Sanne und ich. Sanne mit dem Schriftkram und ich mit ein paar genähten Stücken. Geht das bei dir?"
"Jetzt wieder ja. Heute noch?"
"Ja, nachher. Bis dann."
"Ich freue mich."
Es dauerte ungefähr zwei Stunden, dann klopfte es an der Tür, und Vanessa kam herein, gefolgt von Sanne, die eigentlich Susanne hieß, aber immer Sanne gerufen wurde. Beide lächelten mich an und schauten dann staunend auf meine Metallaufbauten. Beide umarmten mich. "Wie hast du das nur geschafft, Sandra? Ist das Titan?", fragte mich Vanessa.
"Meinst du, den Unfall überleben?" Vanessa nickte. "Also, ich weiß es nicht genau, ob es so war, aber es könnte daran liegen, also wenn ihr mal in der Situation seid, dann versucht dem Fährmann, diesem ..."
"Meinst du Charon?", fragte Sanne.
"Ja, diesem Charon darfst du nicht die Münze geben, die du dafür bekommen hast, sondern Falschgeld. Ich hab mir einen Knopf abgerissen und ihm den gegeben. Da hat er von mir abgelassen und ist davongefahren."
"WOW Sandra, du hast das ewige Leben gefunden", scherzte Vanessa.
"Nennst du das hier Leben?", fragte ich zurück.
Vanessa nickte dazu. "Heavy Metal Life", schob sie nach.
"Besser als Heavy Metal Love", sagte ich, und wir alle drei verzogen das Gesicht. Nicht unser Musikstil! Ich seufzte. "Dann zeigt mal her. Wer fängt an?"
"Ich", sagte Sanne, und zog einen Stapel Papier aus ihrer mitgebrachten Tasche. Vanessa zog dann aus ihrer Jumbotüte einen fertigen Entwurf nach dem anderen heraus und ich versuchte im Multitasking zwischen den Entwürfen und den Unterlagen zu switchen. Nach einer Stunde waren wir fertig, ich aber auch. Ich konnte mich dann nicht mehr konzentrieren. Die beiden verabschiedeten sich und wollten nächste Woche wiederkommen. Ich wurde müde, aber mitten beim Einschlafen fiel mir auf einmal siedend heiß etwas ein. Mein Urlaub! Teneriffa! Das würde ich unmöglich schaffen! Ich rief also beim Reiseveranstalter an und stornierte. Zum Glück hatte ich eine Reisekrankenversicherung über die abgeschlossen, sodass ich nur eine geringe Selbstbeteiligung bezahlen musste. Danach schlief ich aber wirklich ein.
Ich informierte, als ich mich wieder vom Besuch erholt hatte, alle Freunde und Bekannte darüber, was mir passiert war und in welchem Krankenhaus ich liege. Die ersten, die kamen, und zwar gleich am anderen Tag frühmorgens, waren Angelika und Markus. Sie statteten mir einen Besuch ab. Sie hatten Blumen dabei, einen verführerischen Pralinenkasten, und ein Medikament, wie sie sagten. Es war eine Schachtel. Ich nahm diese, etwas skeptisch, da mir nicht klar war, ob ich das nehmen durfte und ob sich das mit dem anderen Medikamentencocktail vertrug, den ich hier bekam. Auf der Packung stand: Die ultimative Medizin! Wirkt immer! Ich öffnete die Schachtel. Dort drin lag nur ein mehrfach gefalteter Zettel, auf dem in großen Buchstaben stand: 'Gesund werden'. Ja, gesund werden. Das war ja einfach! Nur gesund werden. Etwas kleiner darunter stand: Bitte lesen Sie auch unbedingt die Nebenwirkungen! Ich schaute etwas tiefer. In sehr kleiner Schrift stand dort:
- gesund älter werden - noch schöner werden - alles klaglos wegstecken - dich unsterblich verlieben - Freundschaften pflegen ... und vieles mehr. Achtung! Weitere, noch unerforschte Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen.
"Danke! Na, dann kann ja bei mir nichts mehr schiefgehen, oder?" Ich strahlte die beiden an.
"Genau! Wir hoffen, es hilft. Jetzt bist du mal in der Situation wie Markus letztens. Aber das sieht ja schon gefährlich aus. Wie hast du das denn geschafft?"
"Hab ich doch geschrieben. Unfall. Ich habe einen Verbrecher verfolgt."
"Wie bist du denn an den gekommen?"
"Ein Polizist würde jetzt sagen: Die größte Gefahr geht von der eigenen Verwandtschaft aus."
"Wie, dein Cellist? Sonst hast du doch keinen mehr, oder?"
"Nein, sein Zwillingsbruder. Der ist auf die schiefe Bahn geraten und kommt da wohl nicht mehr von weg. Manche wollen es einfach nicht mit normaler Erwerbstätigkeit versuchen."
"Und was hat denn der Arzt zu deinen Verletzungen gesagt?"
"Das wird wieder, meint er. Es braucht nur Zeit."
"Na, die hast du ja jetzt. Zwangsweise."
"Ach, ist doch schön hier. Full-Service-Urlaub mit Fünf-Sterne-Gourmetrestaurant."
Markus verzog das Gesicht. "Zumindest kannst du hier gut abnehmen", sagte er.
"Muss ich das?"
"Nein, ist alles genau richtig bei dir."
Angelika schaute ihn wie strafend an. Dann lächelte sie. "Ich glaube, wir gehen dann mal, ehe er sich noch um Kopf und Kragen redet. Wir kommen bald wieder. Alles Gute für dich, Sandra."
"Viel Spaß bei der Arbeit." Die beiden gingen aus dem Zimmer. Ich wusste, dass Markus wieder einen Job hatte.
So ging der Krankenhausalltag ein paar Tage weiter. Eine merkwürdige Haftanstalt war das hier. Eintönige Abschnitte wechselten sich ab mit hektischer Betriebsamkeit. Abends kamen mal Piere, mal Andrea mit Lena, und tagsüber auch mal Ellen, wenn sie zwischendurch Zeit hatte, und natürlich besuchte mich auch ab und zu jemand anders. Ein Therapeut hatte ihnen die Übungen beigebracht und die führten sie mit mir durch.
"Und, wie läufts?", fragte ich Ellen, als sie das erste Mal alleine zu mir kam.
"Ach, wie immer!", antwortete sie.
"Das meinte ich nicht. Ich wollte wissen, wie es mit Julian läuft."
Sie griente. "Immer neugierig, die gute Sandra. Ich wollte nichts sagen, weil ..."
"Weil ich mal was mit Julian hatte? Das ist nun vorbei! Das ist jetzt euer Ding!"
Ellen lachte. "Ich bin voll verliebt. Er geht ja richtig aus sich raus!"
"Ja, das konnte er damals bei mir auch gut. Er hat es dir also erzählt?"
"Ja. Schlimm?"
"Nein. Wichtig! Für eure weitere Beziehung."
"Ich bin so froh, dass du nicht eifersüchtig bist, Sandra!"
"Ich hab ja die volle Auswahl. Hatte."
"Sandra, schau nach vorne. Ich kenne eine, bei der war es ganz ähnlich. Die war hinterher sogar noch besser drauf!"
Ich kicherte. "Steh-Auf-Frauchen Sandra."
"Genau!" Ellen machte dann die Fußmassage bei mir. Die war anstrengend und tat auch ein wenig weh. Aber das Bein tat ja auch schon ohne Übungen weh.
Und dann begann es in den nächsten Tagen so langsam. Nicht so wie in diesem Film, wo die Uhr herunterklappt und dann Sunny & Cher ihr Lied trällern. Aber im Prinzip war es ganz ähnlich. Krankenhaus-Murmeltiertag. Jeden Tag der gleiche Trott. Da ich aber total unmobil war, hatte ich keine Chance, dem zu entgehen. Ich konnte also nicht den Toaster nehmen, in die Badewanne steigen, und den Toaster hineinwerfen. Hier gab es sowieso keinen Toaster, eine Badewanne natürlich erst recht nicht, und zur Vollendung hätte ich auch diesen FI-Schalter überbrücken müssen, wovon ich keine Ahnung hatte. Einen Giftcocktail brachte mir auch niemand. Ich musste es also aushalten, was anderes blieb mir nicht über. Bei mir würde dann auch kein neuer Tag anfangen wie bei dem im Film, vermute ich mal, es wäre also eh besser, es nicht zu machen.
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Teil7: Kirchenfragen
Ab der dritten Woche begannen die Ärzte, sich Sorgen zu machen. Genaugenommen, über die Entzündungswerte. Und einige Wunden eiterten. Mein Lieblingsarzt Karsten kam dann zu mir rein.
"Frau Neuhaus, wir haben ein Problem. Sie haben beim Unfall wohl Keime in ihr Bein bekommen, gegen die unsere Antibiotika nicht wirken."
"Und was heißt das?"
Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. "Früher hieß das oft Amputation."
Ich bekam einen Schreck. Nein, es war sogar ein Riesen-Schreck. "Und heute?"
"Haben wir noch Möglichkeiten. Die wirkungsvollste von denen heißt Phagen."
"Was ist das?"
"Das sind Viren, die Bakterien zerstören. Sie wirken, sind aber in Deutschland und in den meisten Staaten der EU noch nicht als Standardtherapie zugelassen. Zum Glück sind wir ja eine Uniklinik."
"Und sie haben diese Waagen?"
"Nicht Waagen, Phagen. Also, weil wir eine Uniklinik sind, haben wir hier eine Studie zur Erforschung der Anwendung. Haben sie Lust, daran teilzunehmen?"
"Am besten schon gestern!"
"Zeitmaschinen überlassen wir mal der Science-Fiction-Literatur!"
"Von wegen! Wir selbst sind doch auch Zeitmaschinen, oder?"
"Ja. Leider nur Einbahnstraße. Oder zum Glück, wie auch immer. Ich komme nachher mit den Unterlagen. Da brauche ich noch etwa 100 000 Unterschriften von ihnen, und dann können wir loslegen."
"Gibt's Gefahren?"
"Das sprechen wir dann durch. Die größte Gefahr wäre, dass wir keine wirksamen Phagen finden. Was anderes kann eigentlich kaum passieren. Aber trotzdem ..." Er seufzte. "Trotzdem bleibt uns dieser Bürokratiekram nicht erspart." Dann ging er aus dem Zimmer, kam später wieder, und gefühlte drei Stunden später waren wir fertig. Er hatte nur wenig übertrieben. So langsam merkte ich auch selbst was am Bein. Es wurde heiß, und tat weh. Immer mehr weh. Aber Doktor Neuhans verschrieb mir dann ein Schmerzmittel. Als ich verlangte, kein Fentanyl zu bekommen, verzog er das Gesicht. Er hatte also auch schon damit zu tun gehabt. Vielleicht würde ich ihm das mal erzählen. Vielleicht ja beim Essen. Ich freute mich schon darauf, zu verlieren, erst mal seinetwegen, und dann natürlich wegen meiner Gesundheit. Dann ging es noch am selben Tag los. Mein Bein wurde punktiert, und man nahm Abstriche, um Erreger zu gewinnen.
Der Krankenhausdreikampf ging weiter. Störung, Warten mit Langeweile, Lagerkoller. Es dauerte zwei Wochen. Ich war schon voll genervt. Endlich hatten sie einen Giftcocktail für mich zusammengestellt, wie Karsten es nannte. Dessen Erwähnung erinnerte mich an meine Verzweiflung kurz nach dem Aufwachen. Mittlerweile hatte ich aber damit abgeschlossen und kämpfte. So gute Laune wie zu Anfang hatte ich aber nur noch selten. Ich bekam Injektionen und nach weiteren zwei Wochen begannen die endlich zu wirken. Die Wunden am Bein schlossen sich ganz langsam, die Rötung und die Schmerzen gingen zurück. Trotzdem sollte es noch viele Wochen dauern. Zumindest hatte das aber den Vorteil, dass die anderen Probleme zum Teil weg waren. Schleudertrauma weg, von der Gehirnerschütterung war nichts mehr zu spüren, keine Kopfschmerzen mehr. Zumindest bekam ich fast jeden Tag Besuch, manchmal sogar gleich zweimal. Andrea und Lena kamen immer zusammen. Zweimal hatte mich auch Oliver besucht, der dann aber alleine kam. Und am häufigsten kamen Julian und Ellen, und am Wochenende auch Piere.
Aber dann bekam ich einen unerwarteten Besuch. Es klopfte und ein Mann im dunklen Anzug erschien. Trotz meines Zustandes konnte ich mir meine Emotionen bei seinem Anblick nicht verkneifen und musste schmunzeln.
"Guten Tag, ich ..."
Ich unterbrach ihn. "Sind Sie der Bestatter?" An meinem Gesichtsausdruck und der Stimmlage hätte er eigentlich merken müssen, dass ich nur scherzte, aber er nahm das voll ernst.
"Die sagten mir aber, dass sie auf einem guten Weg sind und nur noch ..."
"Hereingelegt!", grätschte ich dazwischen. Ja, ich weiß, das war blöd, und respektlos noch dazu, aber bei diesem Krankenhausblues, den ich mittlerweile schon hatte, war mir jede Abwechslung recht. "Und ja, sie vermuten richtig. Ich habe so ziemliche psychische Probleme. Kein Wunder, wenn man hier so eingesperrt ist, oder?"
Zum ersten Mal kam ein klein wenig Lächeln in sein Gesicht. Nur ein winziges Quäntchen, aber ich bemerkte es. "Nein, ich bin auch kein Psychiater. Ich bin der Pastor der hiesigen Gemeinde und ..."
"Ich will aber nicht eingemeindet werden!"
Man sah es ihm jetzt an, dass er seinen Ärger unterdrücken musste, den ich in ihm wegen meiner ständigen Unterbrechungen erzeugt hatte. Kühl und distanziert sagte er: "Das hatte ich auch nicht vor!"
"Was dann?"
"Ich wollte ihnen seelischen Beistand anbieten!"
"Ach, meine Seele ist okay. Mein Körper ist kaputt. Wollen sie mal schauen?" Ich strengte mich an und hob die Bettdecke von meinem 'Terminatorbein', wie ich es mittlerweile nannte. Er schaute drauf. Man sah ein wenig Ekel. Eigentlich sollte er das doch gewöhnt sein. "Wissen sie, ich habe mit der Kirche nichts am Hut. Immer nur Vorschriften, Drohungen und Ängste schüren, Verdammungen anderer Lebensentwürfe, und dann der Versuch, so zu tun, als wüssten sie und nur sie, wie die Welt funktioniert und wie sie erschaffen wurde. Das ist ein Märchen für kleine Kinder, wirkt bei vielen Erwachsenen aber nicht mehr. Darum ja auch die vielen Austritte."
"Sind sie auch ausgetreten?"
"Nein, ich war gar nicht drin. Ich hatte aber Fehltritte. So welcher sexueller Art. Jetzt müssen sie mich verdammen. Meine Seele muss im Fegefeuer und ewiger Verdammnis schmoren."
"So einer bin ich nicht. Ich will ihnen wirklich helfen. Zumindest will ich es versuchen. Das kann ich aber nur, wenn sie es auch wollen."
"Wer sind sie denn eigentlich?"
"Sorry. Also ich bin Pastor Nando." Das 'o' sprach er lang aus.
"Oh", sagte ich. Kleiner Scherz, das musste jetzt sein.
"Sie lieben es, mit den Menschen zu spielen, oder?"
"Ja, vor allem mit Männern." Er hob eine Augenbraue. Irgendwie tat er mir jetzt leid. Er machte ja nur seine Arbeit, also er versuchte es, und ich machte sie zunichte. "Tut mir leid. Ich bin wohl nicht gut gelaunt momentan. Das macht wohl die Langeweile und die ausweglose Situation hier."
"Kann ich jetzt mit ihnen reden?" Ich griente ihn einfach nur an. Mehrere Sekunden. "War das jetzt auch wieder falsch?"
"Das Fernsehen ist schuld. Das ist sozusagen mein Lieblingsspruch, bei dem ich immer dazwischengrätsche. Diese komische Frage kommt dort immer wieder vor. Was machen wir denn gerade?"
"Na, Reden!"
"Sehen Sie! Dann schießen sie mal los. Wenn ich nicht mit ihnen hätte reden wollen, dann hätte ich das schon gesagt." Den Satz sagte ich jetzt so milde wie möglich, nicht dass er das wieder als Ironie auffasst.
"Man sagte mir, sie hätten einen Überfall erlebt. Wie geht es ihnen mit dem Gefühl? So, im Nachhinein?"
Ich überlegte. Ziemlich lange. "Ehrlich gesagt, habe ich da noch gar nicht drüber nachgedacht. Die Situation kam, ich meisterte sie, und dann war sie wieder vorbei."
"Aber sie hatten dann doch auch noch einen Unfall, habe ich gehört."
"Ja, der war aber erst hinterher. Als ich den Übeltäter verfolgt hatte." Ich sah seinen strafenden Blick. "Ich weiß, das war nicht besonders klug, aber ich war so wütend in dem Moment. Ich konnte einfach nicht anders."
"Das verstehe ich. Manchmal geht mir das auch so. Und der Überfall hat in ihnen nichts hinterlassen? Keine Albträume?"
"Nein. Der ging mit einem Messer auf mich los. Ich konnte ihn abwehren. Aber dann hat er mich gewürgt. Es hatte nicht viel gefehlt, und dann wäre ich ..." Ich stockte. Die Szenen kamen in mir hoch. Die Angst. Mein Kampf. Seine Hände, die mich würgten. Der Schmerz. Meine Luftnot. Das Gefühl, gleich zu sterben. Ich konnte es nicht verhindern - erst kam eine Träne, dann noch eine, und dann ein ganzer Wasserfall. Schluchzen. Ich kam in einen regelrechten Weinkrampf. Es musste mehrere Minuten gedauert haben, aber als er ganz allmählich endete, saß er neben mir und hielt meine Hand. Er hielt sie einfach nur und schaute mir mitfühlend ins Gesicht. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und lächelte ihn an. "Danke", sagte ich.
"Sehen sie. Nun habe ich ihnen ja doch geholfen."
"Das haben sie. Danke. Obwohl ich anfangs so gemein zu ihnen war!"
"Ach, das war noch gar nichts. Sie sind sogar recht lustig dabei, das hatte mir gefallen. Da gibt's ganz andere."
"Wieso konnten sie das? Haben sie das gesehen, in mir?"
"Nein, ich ahnte es. Und dann fühlte ich es. Die Menschen zeigen oft nur ihre Fassade. Aber wenn sie von den Gefühlen übermannt werden, verlieren sie ihre Beherrschung und versuchen noch mit aller Macht, die Fassade aufrechtzuerhalten. Dann ändert sich die Stimme, die Mimik wird verkrampfter. Auch wenn man es nicht gezielt wahrnimmt, aber man fühlt es. Ich zumindest."
"Ich hatte eine Fassade? Ich dachte mir, ich bin immer ich, immer echt."
"Nein, sind sie nicht. Sie nicht, und ich auch nicht. Wir alle haben Fassaden. Für andere Menschen, und auch eine für uns selbst. Auch uns selbst machen wir oft genug eine Fassade vor. Als Selbstschutz."
"Echt jetzt? So habe ich mich noch nie gesehen."
"Daran ist doch nichts Schlimmes! Wir brauchen die. Im Beruf für ihre Kollegen und Kolleginnen. Für ihren Mann oder Freund. Für Fremde. Selbst für ihre Eltern. Jeder der Leute, die sie in ihrem Leben getroffen haben, kennt eine andere Frau Neuhaus. Sie erzählen nicht jedem alles, und sie erzählen das, was sie erzählen, nicht jedem Menschen im selben Tonfall. Das machen sie ganz automatisch, es fällt ihnen gar nicht auf. Denken Sie mal nach!" Ich überlegte. Ja, es stimmte. Als ich damals Uwe wiedergetroffen hatte, erzählte ich meinen Eltern von ihm. Erst meiner Mutter, alleine, und dann meinem Vater, auch als er alleine war. Meiner Mutter gegenüber ziemlich euphorisch, meinem Vater gegenüber aber zurückhaltend. Und meinen Kolleginnen gegenüber ... ja, er hatte recht. Meine Kolleginnen kannten eine ganz andere Sandra als zum Beispiel Piere, Peter kannte eine ganz andere Sandra, Julian ebenso, und auch dieser Polizist, Jens Mehnert kannte mich ein wenig anders als meine anderen Freunde.
"Ich sehe, sie haben es gefunden. Die Unterschiede, meine ich."
Ich lächelte ihn an. "Es stimmt. Aber eben, beim Weinen, da haben sie die echte Frau Neuhaus kennengelernt. Da konnte ich meine Fassade nicht mehr aufrechterhalten."
"Ich weiß."
"Warum können nicht alle so sein wie sie?", fragte ich.
"Sie meinen wohl alle Pastoren? Mir wäre wohler, wenn ich das wüsste. Aber die meisten sind tatsächlich so ähnlich wie ich, und denken auch so."
"Das mag sein. Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass diese Kirche völlig aus der Zeit gefallen ist. Wenn ich da nur alleine an dieses Friede-Freude-Eierkuchen-Getue auf diesen Kirchentagen denke. Idealistisches Gutmenschentum! Und dann dieses Buch!"
"Sie meinen die Bibel?"
"Ja, die. Ist das nicht völlig überholt, sich auf dieses uralte Buch zu berufen?"
"Ich gebe ihnen mal Feuer für ihre Flamme, mit der sie die Bibel verbrennen wollen: Die Schriften, auf denen sie beruht, also die Evangelien, sind allesamt von Leuten erstellt worden, die Jesus nicht direkt gekannt haben, also gar nicht selbst Zeuge der Ereignisse gewesen sind. Und dann geriet die sich im Aufbau befindliche Organisation noch in die Fänge einer Obrigkeit, welche den Aufbau der Kirche für sich benutzen wollte. Um die Menschen ruhig zu stellen. Trotzdem sind dort auch viele Weisheiten drin. Darin besteht der eigentliche Wert."
"Meinen Sie die Zehn Gebote?"
"Ja, auch. Über die Sinnhaftigkeit einiger von denen kann man viel streiten. Aber die sind ja nicht als Gesetz gedacht, sondern eher als Wegweisung. Sozusagen eine Gebrauchsanleitung, um gut mit anderen Leuten zusammenzuleben. Aber es gibt ja auch noch mehr. Denken Sie zum Beispiel an den Spruch 'Wer von euch ist ohne Schuld, werfe den ersten Stein'. Nur als Beispiel. Es gibt ja noch mehr."
"Also sie meinen, man sollte sie befolgen, um mit den anderen im Reinen zu sein?"
"Das auch, aber auch, um mit sich im Reinen zu sein. Jeder muss aus der Bibel, oder meinetwegen auch aus den anderen Büchern das für sich heraussuchen, was er im Zusammenleben als wichtig oder machbar erachtet. Es soll ja das eigene Leben nicht mehr als nötig beeinträchtigen. Aber man soll auch immer die anderen Menschen achten."
"Sie sprechen für einen Pastor bemerkenswert. Offenherzig, und nicht dogmatisch. Warum kann nicht die ganze Kirche so sein? Ich meine, als Ganzes, als Institution?"
Er zog seine Augenbrauen nach oben. "Manchmal, wenn auch selten, habe ich auch das Gefühl, in der falschen Organisation zu sein."
"Kann ich verstehen. Wenn sie mal wieder mit mir reden wollen, ich kann ja hier nicht weg."
Er stand auf, griente und zeigte mit dem Finger auf mich. "Guter Konter, Frau Neuhaus!"
"Sagen Sie ruhig Sandra", sagte ich noch, als er dabei war, hinauszugehen. Nur netten Leuten bot ich meinen Vornamen an, und dieser Pastor, in dem ich aber eher den Menschen sah, der war nett. Und er war kritisch reflektiert, was man nicht bei allen Kirchenleuten findet.
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Teil8: Reflektionen
Der Krankenhausaufenthalt ging weiter. Anfangs bekämpfte ich meine Langeweile mit Fernsehen auf diesem kleinen Display, aber ziemlich bald wurde mir das Vormittagsprogramm zu schwachsinnig, selbst bei den öffentlich-rechtlichen. Ellen brachte mir dann Musik mit, die ich mit so einem altmodischen MP3 Player hörte. Meinen Laptop hatte ich auch längst bekommen und konnte ein wenig Vanessa mit den Entwürfen helfen. Jetzt lastete alles auf ihr. Zum Glück hatten wir aber recht viel Vorlauf und es bestand noch kein Mangel. Sie hatte sich nach Rücksprache mit mir auch eine ganz junge, aber talentierte externe Helferin mit ins Boot geholt, die ein mal in der Woche aushalf.
Und außerdem las ich jede Menge Bücher. Endlich schaffte ich es auch, das Buch der Bücher zu lesen. Nein, nicht die Bibel. Das Buch Null. Das, welches Uwe damals gelesen hatte, als wir uns das erste mal über den Weg gelaufen waren. 'Dunkle Kammern'. Ich wusste schon, warum ich mich so lange gesperrt hatte, damals, als Uwe den Unfall hatte, und ich das Buch später vom Bücherschrank in die Hand genommen hatte. Es würde alleine durch das Anfangen des Buches jede Menge unterdrückte Emotionen freisetzen. Aber irgendwann musste es ja doch mal sein! Und ich stieg ein. Das Buch nahm mich mehr und mehr in den Bann. Eine stetige Steigerung der Emotionen. Und es brachte mich auch schnell an meine Grenzen. Es war - wie soll ich das beschreiben - schmerzhaft schön. Es gab Parallelen. Eine Frau, aus dem Autowrack geborgen. Dunkle Geheimnisse. Immer wieder musste ich beim Lesen weinen. Und ich bekam Flashbacks.
"Für mich ist deine Stimme der lieblichste Gesang der Welt."
"Soll ich mal singen?" Uwe nickte. "Kommt ein Vogel geflogen ..."
"Nicht schlecht", sagte Uwe.
"Ach komm!" Dieser Typ namens Uwe Neuhaus gefiel mir. Ein spitzbübisches Lächeln. Aber auch Entschlossenheit. Soll ich ihn mal auf die Probe stellen? Oder würde ihn das vergraulen? Ich kicherte. "Bestimmt hast du an Vögeln gedacht!"
Er schaute mich total ernst an. "Nein! Was denkst du von mir! Das kommt erst nach der Liebe!"
"Und wie sieht es damit aus?"
"Ich hab schon ein Stück geschafft, oder?"
"Weiß nicht. Find es raus!"
"Wann treffen wir uns denn wieder?"
"Keine Ahnung. Hier?"
"Klar, geht. Bin aber nicht mehr so lange hier."
"Was studierst du denn?"
"BWL."
"Oh. Interessant."
"Die Menschen haben eine merkwürdige Sprache. Sie sagen interessant, meinen aber langweilig."
"Scheiße, du hast mich durchschaut."
"War nicht schwer. 99 Prozent aller Leute denken das. Na, bis dann. Ich muss los!"
"Tschüss Uwe!"
"Ach, du kommst aus Hamburg?"
"Ja."
"Ich auch."
Und Uwe ging dann tatsächlich. Mehrere Wochen hoffte ich, ihn wiederzusehen. Schon in den ersten Minuten hatte ich mich in ihn verliebt. Aber er blieb verschwunden. Ich recherchierte dann und traf einige Kommolitonen von ihm. Der letzte sagte mir dann, dass Uwe ins Ausland gegangen ist und dort zu Ende studieren würde. Ich war damals am Boden zerstört. Das erste mal richtig verliebt und dann diese Vollbremsung. Das hört sich jetzt an, als wäre ich damals ziemlich nassforsch zur Sache gegangen, aber es war tatsächlich das erste mal gewesen, dass ich mich getraut hatte, jemanden anzusprechen. Und dann gleich so! War es seine Anziehungskraft auf mich gewesen? Oder war ich einfach 'reif' dafür? Keine Ahnung. Vorher war ich jedenfalls eines dieser Mauerblümchen gewesen. Zwar schön, aber versteckt hinter Schüchternheit.
Die Erinnerung verschwand und ich kam wieder ins Hier, in meinem Hiersein im Krankenhaus. Das Buch musste ich erst mal weglegen. Ich hatte noch nie so ein fesselndes Buch gelesen, aber ich konnte einfach nicht mehr. Emotional ausgeknockt. Aber am nächsten Tag las ich schon weiter. Irgendwann beim Lesen bekam ich den nächsten Flashback:
Ich war damals zurückgekehrt nach Hamburg. Hier war eine der Modezentren. In Münster war nichts. Ich hatte zu Ende studiert, wollte aber was anderes machen. Ich hatte erst ein wenig gemodelt, dann in einem Modehaus angefangen, hatte dort im Einkauf gearbeitet. Das war mir aber alles zu altbacken. Ich wollte frischen Wind hereinbringen. Alles, besser gesagt, fast alles mit Stoffen. Ich wollte was mit Strickmode machen, in eine Nische vorstoßen. Ich suchte dafür ein Geschäft mit Atelierbereich. Meine Eltern würden mich finanziell unterstützen. Für dieses Vorhaben suchte ich eine leerstehende, kleine Ladenzeile. Ich musste erst mal klein anfangen. Daher war ich in der Neustadt unterwegs. Da sah ich ein scheinbar geeignetes Geschäft. Es war innen natürlich dunkel. Ich drückte meine Nase an das Schaufenster und versuchte was zu erspähen. Da hörte ich neben mir eine Stimme.
"Ich bin aber hier!"
Ich wirbelte herum. Da stand er. "Uwe!"
Er griente. "Ich hätte nie gedacht, dass du dir meinen Namen merkst, Sandra."
Das ging runter wie Öl! Er hatte sich auch meinen Namen gemerkt! "Und warum hast du dir meinen Namen gemerkt?"
"Weil ich die Ahnung hatte, dass wir füreinander bestimmt sind."
"Deswegen hast du gleich die Flucht ergriffen!" Ich wusste noch, dass mir dabei die Tränen in die Augen kamen. Uwe kam etwas näher, nahm mein Gesicht in seine Hände, wischte mir die Tränen weg.
"Nein! Ich lass dich jetzt nie wieder allein!"
"Ist das so ein Männertrick?"
"Nein. Ein Versprechen. Ich hatte dir doch damals gesagt, dass ich nicht mehr lange da sein kann. Da hatte ich doch schon alles mit dem Auslandsstudium klar gehabt. Ich hatte gehofft, dich noch mal in der Bibliothek zu treffen, aber ..."
"Ich war doch da!"
"Ich auch! Aber ich dachte, dass es nicht so gezündet hatte bei dir und dass du deswegen nicht da warst."
"Hatte es bei dir gezündet?"
"Und wie!"
Ich machte ein Geräusch als würde ich einen Motor starten. "Kleine Ausfahrt gefällig?"
Der Flashback verschwand. Ein wenig Nostalgie kam in mir hoch, und nachdem ich nur wenige Zeilen weiterlas, zündete sogleich der nächste Flashback:
Ich dachte an meine Entjungferung. Es hatte auch ein wenig weg getan. Aber nur ganz kurz unterbrach der Schmerz meinen emotionalen Höhenflug. Meinen Ausnahmezustand. Uwe hatte sich ganz lieb angestellt. Und ich war froh, dass er gewartet hatte bis ich soweit war. Etwa einen Monat. Für damalige Verhältnisse war das viel. Er hatte mich erst überall geküsst, den ganzen Körper rauf und runter und ich konnte es kaum erwarten und hatte geradezu danach gefiebert, dass er es tat und dabei wäre ich fast in Ohnmacht gefallen. Nicht vor Schmerz, sondern vor Glück. Er war meine Bestimmung!
Erneut kamen mir die Tränen, wischten den Flashback weg und katapultierten mich in die Gegenwart zurück. Beklemmung überfiel mich. Ich war ja damals unter diesem Beschuss von der Polizei. Es passierte nichts, aber wenn es schlecht gelaufen wäre ...! Ach, Uwe! Wie konntest du nur! Wieder kam der Flashback.
Ich mit den Typen alleine im Verhörraum, später mit Ellen. Ja, Ellen. Die Beklemmung wich und machte einer warmen Morgenstimmung Platz. Meine Morgendämmerung der bisexuellen Liebe. Das Öffnen neuer Horizonte.
Ich las das Buch zu Ende, unter Einsatz etlicher Liter Flüssigkeit, welche ich gleich wieder über meine Augen ausschied. Ich war beeindruckt, aber es hinterließ auch Fragezeichen. Und ich grübelte weiter. Wieso konnte Uwe so in kriminelle Machenschaften abgleiten? Und dieses Doppelleben! Es waren Fragen, auf dich ich wohl nie eine Antwort finden würde. Aber zumindest mit den Drogen hatte ich ja jetzt eine plausible Theorie, und irgendwie hatte mir das dieser Solco dann ja auch bestätigt. Er wollte Solco damit aus dem kriminellen Milieu loseisen. Würde wohl jeder Vater so machen.
Irgendwie ließ mich Uwe nicht los. Würde er wohl nie wieder. Saß da ganz tief drinne in mir und würde da nie wieder herauskommen. Und wenn, dann nur scheibchenweise. Ich hatte bis in die Nacht gelesen. Es war nicht alles schlecht gewesen an Uwe. Immerhin hatte er über viele Jahre meinen Namen behalten und mich dann sogar geheiratet. Und die anderen Frauen? Gab es noch andere? Vor Evelyn? Vor oder neben Lorena? Hätte ich Anzeichen bemerkt? Was war das mit Uwe? Lag es an den Genen? Das männliche Jäger-Gen? Und was war das bei mir? Unterlag ich auch diesen Zwängen der Gene? War es deswegen zu dieser Sache zwischen mir und Julian gekommen? Sandra, die gengesteuerte, willenlose Männerverführerin? Nein, ich hätte es nicht stoppen können. Es zog mich, und ich konnte nicht gegen die Strömung ankämpfen. Aber ich hätte quer schwimmen können.
Und das was danach kam? Nein, das wollte ich. Egal ob mit oder ohne Gen-Sog. Vielleicht würde es mir irgendwann über sein, aber noch genoss ich es. Ich hatte den Vorteil, dass ich niemanden umbringen müsste. Weder den Ehemann noch einen aufdringlichen Ex-Liebhaber. Genau das Lesen dieses Buches führte bei mir jetzt auch zu dem Entschluss, dass ich vielleicht auch mal meine Erlebnisse aufschreiben sollte. Schon am nächsten Tag wollte ich damit beginnen. Das tat ich dann auch. Zuerst machte ich einen Rahmenplan, dann schrieb ich drauflos. Von Ellen hatte ich mir dann auch meine Tagebuchaufzeichnungen bringen lassen. X-mal warf ich alles über den Haufen, stellte um, und bis ich endlich meinen Stil gefunden hatte kam es mir wie eine weitere Erlösung vor. Aber das sollte noch dauern.
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Teil9: Die Zettelwirtschaft und die Gefühle
Mittlerweile - ich war ja hier an das Bett gefesselt - kannte ich jeden Zentimeter des Zimmers. Einfach durch den Scan mit meinen Augen. Jeden Huckel. Jeden Kratzer. Die kleinen Risse in den Wänden, vor allem in den Ecken. Der Pfusch am Türrahmen da unten. Den vermutlichen Kaffeefleck über dem Tisch. Bei der Höhe war die Ursache wohl ein Wutanfall gewesen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, als eine Reinigungsfrau ihre Arbeit machte. "Du, Abena?", fragte ich sie. Sie hatte afrikanische Wurzeln, konnte aber gut Deutsch.
"Ja Frau Sandra?" (das bekam sie nicht hin!)
"Kannst du mal schauen? Da ist doch was kaputt da unten am Türrahmen links, oder?" Sie ging hin und bückte sich. "Das andere links!" Sie grinste und wechselte die Seite.
"Nee, ist nicht kaputt! Da steckt was!" Sie fummelte ein bisschen und hatte dann zwei zusammengefaltete Zettel zu Tage befördert. Sie gab sie mir. "Werd mal Handwerker beauftragen!"
"Gut, Danke." Ich wartete, bis sie mit dem Zimmer fertig war, erst dann faltete ich sie auseinander. Sie sahen nicht mehr neu aus, und mussten sicherlich eine ganze Menge Angriffe mit Reinigungsmitteln überstanden haben, aber man konnte sie lesen. Staunend las ich den Inhalt:
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17.4. Da liege ich hier und meine Adern fühlen sich bleischwer an. Ich weiß, es ist nur Gift, Köder für meinen Krebs, der dort hineinfließt, aber es fühlt sich wie Blei an, nimmt mir alle Energie, macht mich schwerer. Sie lächeln mich immer freundlich an, wenn sie hereinkommen, verbreiten Zuversicht, aber wenn sie sich umdrehen, glaube ich, entdecken zu können, dass sie mich schon aufgegeben haben. Vielleicht sollte ich das auch? Noch ist es nicht so weit, aber ich beginne darüber nachzudenken, wie ich mich von dieser Welt verabschieden kann, die für mich nur noch eine Bürde, eine Last geworden ist.
19.4. Wieder ein klein wenig besser. Aber diese Anfälle von Übelkeit! Heute war ich fünfmal auf Toilette. Essen tue ich nur, um es gleich wieder auszukotzen. Ich habe begonnen, Schlaftabletten zu sammeln, welche ich mir habe geben lassen. Der blöde, bärtige, dicke Arzt, von dem ich nicht mal den Namen weiß, hat mich so angeschaut, als wäre ich gar nicht da. Ich weiß, es klingt blöd, aber er schien durch mich hindurchzuschauen. Als ob ich ein Geist wäre. Jetzt schon nicht mehr da! Diese schlanke Ärztin Sabrina wäre dagegen genau meine Kragenweite. Mit der würde ich gerne. Aber das kleine, nutzlose Teil da unten hat nur noch wenig Energie und dieses schlaffe Stück Mensch, das ich nur noch bin, wäre für jede Frau eine Zumutung. FÜR JEDE!
20.4. Wieder ein Rückfall, wieder schlechter. Total schwach. Aber zumindest keine Übelkeitsanfälle mehr. Heute noch mal Bestrahlung von der Metastase, die sie letztens gefunden haben. Ich weiß, angeblich soll man es nicht fühlen, aber mir war so, als würde ich jede einzelne Zelle spüren, die vom Strahl zertrümmert wurde! Jetzt habe ich schon fünf Tabletten gesammelt. Sind gut versteckt.
21.4. Ich bin so schwach, dass ich mir einen Rollator geben ließ, um ins Bad zu kommen. Es geht bergab mit mir! Immer weiter bergab!
24.4. Endlich schaffe ich es, wieder zu schreiben. Ich war in einer Art Delirium. Säbelzahntiger knabberten an meinem Körper und schienen den Krebs herauszufetzen. Es tat richtig weh! Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Boden des Zimmers. Ich war zu geschwächt, um wieder hochzukommen. Ist das schon das Ende? Schwester Melanie und Karina hatten geholfen. Alleine hätte ich es nicht geschafft, wieder hochzukommen. Melanie roch gut! Hatte mich nicht getraut, sie nach dem Parfüm zu fragen. Wozu auch? Im Himmel braucht man das nicht! Und in der Hölle auch nicht. Wo komme ich hin? Ich habe versucht, über meine bösen Taten nachzudenken, aber mein Gehirn ist ein einziger Brei. Nur deshalb sind mir keine Taten eingefallen. Es müsste welche geben. Sonst hätte der Krebs ja jemand anderen befallen.
25.4. Wieder Delirium. Ich lag vor der Tür, gekrümmt. Ich sah Nelli und Ann im Traum. Ich habe geträumt, sie hielten meine Hand und ich bin gestorben. Dabei sind sie doch damals vom Tsunami erfasst worden! Es wird nicht mehr lange dauern. Meine Lieben, ich komme! Ich hoffe nur, dass ich sie dort finde. Gibt es einen Suchdienst im Himmel? Mein Körper schüttelt sich, ich friere vor Kälte. Dabei bin ich zugedeckt bis oben hin. Dafür sind meine Beine ganz heiß. Sie glühen fast! Karina hat meine Beine aufgedeckt, und so gehts.
26.4. Irgendwas hält mich noch am Leben. Verlängerung bekommen. Warum? Es ist alles so sinnlos!
27.4. Nicht gut heute. Könnte kotzen. Das tue ich auch. Jede Stunde zweimal. Kann schon nichts mehr essen. Kommt eh wieder ...
28.4. Jetzt geht es mit den Haaren los! Gleich ein ganzes Büschel. Hab so was schon geahnt. Konnte meinen Kopf schon gar nicht mehr anfassen. Alles schmerzt dort.
29.4. Wodrum bisam ich in
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Das Dahinterstehende war nicht mehr zu lesen. Sah aus wie arabische Schriftzeichen. Das anfängliche Staunen wich Entsetzen. Dann Betroffenheit. Was war mit dieser armen Person passiert? War er oder sie gestorben? Wie gelangte der Zettel dorthin? Aus der Betroffenheit wurde tiefe Traurigkeit. Ich fing an zu schluchzen, dann richtig an zu heulen. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hatte, es war jedenfalls lange. Endlich schaffte ich es, aus dem Tief herauszukommen, und bekam wieder ein wenig Energie. Das Leid dieses Menschen baute mich auf, so blöd das jetzt klingt. Bei dem, was ihm passiert ist, waren meine Entbehrungen hier die reinste Lappalie. Der ist gestorben! Oder fast gestorben! Kristin kam herein und nahm sofort meine Stimmung wahr.
"Sandra, hast du Krankenhauskoller?" Wortlos, und noch mit Tränen in meinen Augen gab ich ihr den Zettel. Sie las ihn. "Wer ist das? Wo hast du das her?"
"Das war hier versteckt. Hast du eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?"
"Nee. Keine Ahnung. Frag mal Dr. Neuhans."
Der kam tatsächlich später noch vorbei, wusste aber auch nicht viel weiter. Er wusste nur, dass vor langer Zeit die Onkologie in diesem Trakt war. Unterlagen dafür gab es nicht mehr, und wenn doch, hätte er mir das nicht sagen dürfen. Dennoch ließ mich die Sache nicht los und ich musste immer wieder daran denken.
Und dann machte ich mir Sorgen. Um mich. Nein, nicht nur wegen der Verletzungen. Genauer gesagt machte ich mir Sorgen um sie. Meine kleine Miss Sandra. Jahrelang hatte sie mich begleitet und mich das eine oder andere Mal auch in Konflikte manövriert, aber seit dem Unfall war sie stumm. Nichts, gar nichts, niente. Ich empfand schlicht keinerlei Lust. Gab es da eine unerkannte Verletzung? Was sollte ich tun? Ich traute mich nicht, Karsten zu fragen. Aber dann kam eine Neurologin vorbei, die Tests mit mir machte wegen des Schädelhirntraumas und der Gehirnerschütterung. Frau Amina Yousri. Sie sah so ein wenig nach Herkunft aus Vorderasien aus, war aber normal gekleidet, also hatte kein Kopftuch um. Sie wollte nach den Tests schon gehen, und war mit meinen Resultaten sehr zufrieden, da sprach ich sie noch mal an: "Frau Yousri, ich hab da mal eine pikante Frage."
"Schießen Sie los!"
"Also das Problem ist, ich fühle da nichts mehr unten."
"Was? Kein Gefühl am Bein? Zeigen Sie mal!" Sie hob die Bettdecke etwas hoch.
"Doch, das fühle ich, das Bein tut weh, immer noch ein wenig."
"Das ist ja normal. Sie sagten aber, sie fühlen da nichts. Von sonstigen neurologischen Problemen hat mir mein Kollege nichts gesagt."
"Das meine ich ja nicht. Ich meine das andere unten."
"Welches andere? Ach so! Jetzt weiß ich, was sie meinen!" Ihr permanent vorhandenes Lächeln wandelte sich in ein Grienen.
"Wissen sie, wie soll ich das erklären ... Stellen sie sich vor, sie sind in einem schicken Haus, und auf einmal kommt ein ... Meteorit und macht alles kaputt. Das Haus, das ist ihr Körper. Und in dem wohnen sie. Was würden sie dann tun? Sicher würden sie sich doch erstmal um die Reparatur kümmern und nicht um ... Männer. Und das macht ihr Körper, und das ganz alleine, völlig automatisch, ohne dass sie was tun müssen. Die Reparatur hat oberste Priorität, damit die Handwerker schnell fertig werden. Ihr Körper schüttet also viel Geld für die Handwerker aus, das ist das Stresshormon Cortisol. Für die anderen Hormone, Oxytocin und so weiter, ist kein Geld oder Zeit da. Aber wenn das Haus wieder heil ist, kommt alles wieder ins Lot. War das jetzt verständlich?"
"Ja klar. Bin ja kein Baby mehr."
"Na sehen sie. Das hätten sie aber auch meinen Mann fragen können."
"Ihr Mann? Wer ist das denn?"
"Der Stationsarzt."
"Karsten? Aber der heißt doch anders mit Nachnamen!" Innerlich schlug ich mir gerade die Hand vor den Mund. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Mein Gesichtsausdruck musste aber zumindest betreten aussehen.
Sie lächelte es aber weg. Und ging darauf ein. "Sie müssen sich nicht verstellen. Ich mag es, wenn er mit Patientinnen flirtet. Das gibt eine familiäre Atmosphäre hier. Er hat mir längst erzählt, dass er sie mag."
"Puh", sagte ich erleichtert.
"Mich mag er ja auch. Und er liebt mich. Obwohl ich zehn Jahre älter bin als er."
"Echt? Sieht man ihnen gar nicht an. Meine Lover sind auch meistens jünger als ich. Also, waren sie früher, als ich noch welche hatte."
"Das wird wieder", sagte sie, strich mir über den Kopf, und ging lächelnd mit ihren Unterlagen aus dem Krankenzimmer.
Ich war nun beruhigt und übte mich in Geduld. Dann kam eines Tages Karsten ins Zimmer. "Jetzt wird's schmerzhaft", sagte er zu mir.
"Wieso?" Schon hatte ich erste Tränen in den Augen.
"Wollen sie ewig in diesem Krankenhausknast verschimmeln?" Ich schüttelte den Kopf. "Sehen Sie! Ich schicke ihnen gleich den Torsten vorbei. Er war mal bei der GSG9, also machen sie sich schon mal auf was gefasst!"
"Mann!"
"Stimmt aber. Nein, erst mal übt er mit ihnen das Stehen."
"Stehen? Nur Stehen?"
"Wieso nur? Sie werden schon noch merken, dass ich nicht gelogen habe. Sie haben kaum noch Muskeln. Die Sehnen sind geschrumpft durch das lange Liegen. Und ihr Körper ist das alles gar nicht mehr gewöhnt. Aber nur Mut. Bis Ende der Woche schaffen sie das!"
"Sie wollen doch nur ein Essen mit mir!"
"Stimmt, aber das dauert noch! Aber sie werden sehen, ich werde gewinnen!"
"Das tun sie erst, wenn ich wieder hübsch bin! So war die Abmachung!" Er hob die Daumen und ging grußlos aus dem Raum. Es dauerte dann noch zwei Stunden. Das war hier aber so üblich. Schnell ging hier nur, wenn es aus irgendeinem Grund störend war. Murphys Law für Krankenhäuser. Torsten war supernett, war aber tatsächlich mal bei der GSG9, wie ich dann von ihm selbst erfuhr. Ich verkniff mir die Frage, wieso er dann gerade hier gelandet war, denn jetzt hatte ich erst mal mit mir selber zu tun. Karsten hatte nicht gelogen. Schon nach 10 Sekunden war es kaum noch auszuhalten und ich musste mich wieder hinlegen. Kreislauf, schmerzende Beine, Puddingmuskeln, das volle Programm. Torsten sagte allen Ernstes: "Nicht schlecht für den Anfang!", und grinste.
Ich gab ihm leider eine böse Antwort, für die ich mich heute noch schäme: "Ja, du mich auch!" Hatte mich nie dafür entschuldigt. Seinen Umgang mit mir änderte das aber nicht, er war immer gut gelaunt und supernett. Er machte auch einige Male spitze Bemerkungen über mein Krankenhausoutfit, dieses blöde Ding, was man hier immer bekommt.
"Schickes Minikleidchen", sagte er mehrmals. Nachdem er mir erzählt hatte, dass er schwul ist, störte es mich gar nicht und auch sonst hätte es mich nicht gestört. Ich liebte solche Komplimente ja normalerweise.
"Willst du mal sehen?", fragte ich, und scrollte mich auf meinem Handy durch die Sammlung mit meinen Dessous.
Er pfiff durch die Zähne. "Hetero müsste man sein!"
"Bist du deswegen weg von der Truppe?"
"Nein, das wussten die nicht. Ich war einfach zu alt. Das Outing kam erst später."
"Gut, dass du hier bist!" Daumen hoch von Torsten. Karsten hatte nicht gelogen. Am Sonntag konnte ich erstmals länger stehen und zeigte dem staunenden Piere meine Fortschritte. Und am Montag ging es dann los. Ich bekam einen Rollstuhl. Ausgang oder besser gesagt Ausfahrt im Krankenhausgefängnis! Anfangs war es schwierig, wegen fehlender Muskeln, aber einige Tage später und nach Überwindung so manchen Muskelkaters machte ich dann die Krankenhausflure unsicher. Dann kam wieder mein Arzt Karsten vorbei.
"Mann, ist das schwer, dich mal zu erwischen!" Vor einigen Tagen hatte ich ihn gefragt, ob wir uns duzen können, und nach kurzem Überlegen hatte er zugesagt.
"Quatsch! Abends bin ich immer da! Wo brennt's denn?"
"Das Essen mit dir rückt immer näher."
"Echt jetzt?"
"Wow! Du freust dich!"
"Natürlich. Du bist mein Lieblingsarzt."
"Die anderen nicht?"
"Doch. Die sind auch ganz in Ordnung. Ärztinnen bestimmt auch, oder?"
"War das jetzt ein Vorfühlen bezüglich meines Beziehungsstatus?"
"Nö, den kenne ich. Deine Frau hat es mir schon gebeichtet. Gut getarnt mit dem anderen Nachnamen, oder? Außerdem gehen wir ja nur essen. Vielleicht."
"Gut, dann also auf die harte Tour!" Er versuchte einen sadistischen Gesichtsausdruck, aber es sah einfach nur lächerlich aus. "Du musst gehen!"
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Teil10: Der Abschied und ein Neuanfang
"Gehen? Aber wohin denn?" Ich bekam trotzdem schon wieder erste Tränen in meine Augen.
Er bekam jetzt einen traurigen Zug in seinem Gesicht. "Abschied gehört zum Leben dazu. Ich meinte das im doppelten Sinne des Wortes. Erstens: Deine Behandlung hier ist abgeschlossen. Die Phagen haben gewirkt und werden den Rest auch noch vernichten. Unterstützend bekommst du noch Antibiotika, aber jetzt über Tabletten. Das ist alles auf einem guten Weg. Die Brüche sind so weit verheilt, aber wegen der Entzündung sind die im Bein noch nicht ganz so stabil, wie wir uns das wünschen. Der Fixateur bleibt also noch ein oder zwei Wochen dran. Trotzdem kannst du dann schon langsam wieder mit Gehen lernen anfangen. Wir haben dir dafür einen Rehaplatz besorgt. Der fängt leider erst in zwei Wochen an. Hast du zu Hause eine behindertengerechte Wohnung?"
"Ich glaube nicht. Eine Toilette ist im Erdgeschoss, dort ist aber kein richtiges Bad. Und zum Halten gibt es da auch nichts. Und das Waschbecken ragt so weit in den Raum hinein, mit dem Rollstuhl würde ich da nicht vorbeikommen. Obwohl ..." Ich überlegte. Nein, das ginge nicht. Im Haus von Angelika war die Situation ganz ähnlich wie bei mir. Der Raum mit der Toilette im Erdgeschoss ist ganz schmal und nicht behindertengerecht. Nur bei Jakob und Meike würde es gehen, aber die waren gerade für zwei Wochen an den Gardasee gereist. "Nein, da geht es auch nicht."
"Okay, solange müssen wir dich dann erst mal in der Kurzzeitpflege parken. Es wird krass für dich werden!"
"Was ist denn da so krass?"
"Alles alte Leute. Also so richtig alte Leute!"
"Also so in meinem Alter?"
"Sandra Neuhaus, ich werde deinen Humor vermissen!"
"Ich dich auch." Seine linke Augenbraue hob sich. Ahnte er Ärger von meiner Seite? Ich war mir da selbst nicht so sicher. "Wo ist denn der Rehaplatz?"
"Timmendorfer Strand."
"WOW!"
Jetzt griente er. "Ich bin mir sicher, du wirst beim Rennen den ersten Platz belegen." Er war aber ein kleiner Fiesling, denn er schob hinterher: "Beim Schneckenrennen!" Meine Kinnlade fiel mir herunter. "Mach dir nichts draus. Das ist ganz normal. Es wird von Tag zu Tag besser werden. In der Ostsee baden wird aber nicht gehen. Ist zu kalt. Die haben da aber ein Schwimmbad in der Reha."
"Ich kann mich ja schon für die Paralympics anmelden", sagte ich, und grinste.
"So etwas in der Art wollte ich hören! Wir sehen uns morgen früh noch mal." Er ging aus dem Raum raus, und ließ mich allein. Mist. Karsten weg. Ich wurde traurig. Ich rekapitulierte, dass ich mich tatsächlich wohl ein wenig in ihn verliebt hatte. In letzter Zeit passierte mir das immer häufiger. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Und dann ging es los. Wie üblich mit einer kleinen Frotzelei mit meiner Lieblingskrankenschwester Kristin, die stabile und ebenso humorige Birgit stieg mit ein. Beide packten alles in eine Tasche, welche mir Ellen längst besorgt hatte, ich zog meine Zivilklamotten an, die trug ich ja schon seit meiner Rollstuhlzeit tagsüber. Ich bekam noch ein Frühstück und dann hieß es: warten. Und dann kam er. Sofort füllten sich meine Augen mit Tränen und mein Herz krampfte sich zusammen. "Aber Sandra! Wer wird dann da weinen!"
"Ich weiß auch nicht, ich habe ... ich habe mich in dich verliebt!"
Karsten lächelte, holte aus seiner Kitteltasche einen kleinen Notizzettel und einen Kuli, und malte Striche darauf. Viele Striche. Diese Art Zählstriche mit dem Schrägstrich beim 5er-Block. Ich schaute ihn fragend an. "So viele?"
Er lachte. "Ich habe sie nicht gezählt. Aber es waren schon so einige. Aber ich liebe meine Frau. Und dich ... mag ich. Aber da ich gewinnen werde, freue ich mich schon auf das Essen mit dir. Ich lege dir die Unterlagen in deine Reisetasche, ja?"
Ich nickte, denn antworten konnte ich wegen der vielen Tränen nicht. "Bis demnächst, Sandra", sagte er, blickte sich verschwörerisch um, und gab mir einen Kuss. So ein ganz normaler, kurzer Kuss. Aber es traf mich wie ein Blitz. Und der Blitz lähmte mich. Er ging aus der Tür. Ich war wie erstarrt. Wie immer, wenn man viel Zeit bräuchte, war keine da.
Der Typ vom Transport kam. Er schaute auf den Zettel. "Frau Neuhaus?", fragte er. Ich nickte. "Dann will ich sie mal abliefern. Sind sie verwandt mit Doktor Neuhaus von hier?"
Ich nickte. Dann wurde mir aber bewusst, wie blöd das war. "Nee, der heißt doch Neuhans", quetschte ich mir heraus. Ich verfrachtete mich selbst in den Rollstuhl, der Typ nahm meine Tasche. Am Tresen der Station gab es noch einige Abschiede von den Schwestern und zwei Reinigungsfrauen, die gerade da waren, und dann ging es los. Kristin war auch dabei. Ich hatte ihr dann natürlich gesagt, dass ich nicht mit Jens verheiratet bin. So recht wollte sie mir das aber nicht glauben. Tatsächlich hatte er mich doch recht oft besucht, da natürlich privat und nach Feierabend. Dass es auch noch einen anderen Grund hatte, sollte ich erst viel später erfahren. Unten wartete der Transporter. Er schob mich eine ausgeklappte Schräge hoch, in den Innenraum. Eine halbe Stunde später waren wir in der Kurzzeitpflegeeinrichtung angekommen. Karsten hatte nicht zu viel versprochen. Ich senkte den Altersdurchschnitt erheblich. Im Speisesaal war ich die strahlende Königin. Nur leider niemand zum Bewundern da. Die meisten von denen waren ziemlich gebrechlich und nahmen kaum Notiz von mir. Aber schon am Folgetag bekam ich Gesellschaft.
Sie fuhr auf mich zu. Auch im Rollstuhl. Typ nassforsche Göre. Sommersprossen. Zwei bis drei Handlängen langes, dünnes, straßenköterblondes Haar, welches zu solchen Rastalocken gewickelt war. Sie starrte mich an. "WOW!"
"Wer waut?", fragte ich.
Sie schmunzelte. "Man hat mir hier 'ne Greisparty versprochen. Stattdessen treffe ich auf die schönste Frau der Welt!"
"Solche Komplimente kriege ich sonst nur von Männern. Oder Lesben. Ich bin Sandra."
"Ich summe auch."
"Dann heißt du Sabine?"
"Nee. Nix Biene. Aber zumindest wegen des Ssssss. Ich bin Sue."
"Weswegen bist du hier, Sue?"
"Vermutlich aus dem gleichen Grund wie du. Ich bin hin, und in meiner Wohnung geht's nicht. Die suchen noch nach einem Langzeit-Rehaplatz und einer richtigen Bleibe."
"Was war es bei dir?"
"Autounfall. Und du?"
"Ich auch. War die Fahrerin."
Sue griente. "Ich auch. Crash Kid Nummer ... ach, was weiß ich."
"Wie stehen die Chancen?"
"Schlecht, und deine?"
"Bodennebel und dann soll die Sonne durchkommen. Und du? Querschnittslähmung?"
"Ja, so ziemlich. Ein wenig fühle ich da noch, aber bewegen geht nicht."
"Das tut mir leid!"
"Hab's mir ja selbst eingebrockt! Die meinen, vielleicht geht noch was, aber ich muss Geduld haben."
"Und, hast du die?"
"Nö. Aber die Zeit vergeht ja auch ohne mich, also brauche ich die Geduld nicht. Höchstens Glück."
"Ich drück' dir die Daumen."
"Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du da unten wie Terminator aussiehst?"
"Ja, ich selber."
"Die anderen haben sich nicht getraut, oder?"
"So sieht's aus." Die von der Einrichtung brachten jetzt die Tasche von Sue und räumten alles in den Schrank ein. Sie würde also meine Zimmergenossin werden. Dann ließen sie uns allein.
"Deine Wohnung geht wohl nicht dafür?"
"Nee. Die schmale Toilette im Erdgeschoss ist nur für normale Menschen und Stufen müsste man da auch hoch. Man hat die früher in so eine ehemalige Abstellkammer hineingebaut. Der Raum ist so schmal, dass man vermutlich auch keine Haltegriffe einbauen kann. Außerdem ist da ein Waschbecken im Weg. Konnte ja nicht ahnen, dass mir mal so etwas passiert. Tatsächlich ist mein Haus aber gar nicht so weit weg."
"Wo denn?"
"Saselbergweg 37b."
Sue griente mich an. "Wer zuerst da ist!"
Ich fing an, sie zu mögen. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl hinunter. Das Rennen ging los. An der Eingangstür hatte sie einen winzigen Vorsprung. Als ich auch endlich durch war, da hatte sie schon 15 Meter zwischen uns gebracht. Ich gab mein Bestes, aber sie war bestimmt zwei Minuten eher da als ich. Sie grinste. "Was kriegt der Gewinner?"
Jetzt war es an mir zu grienen. "Einen Blick in meinen Besenspind!"
"Hast du einen?"
"Der Besen steht im Hauswirtschaftsraum. Das ist aber ziemlich gefährliches Terrain. Da ist schon mal ein Einbrecher dran zerschellt."
"Dann verzichte ich besser auf den Gewinn. Wollen wir in dein Haus rein?"
"Geht leider nicht. Hab den Schlüssel nicht mit. Der ist irgendwie in meiner Tasche dort, hoffe ich. Aber wir können in den Garten!" Andrea würde um diese Zeit noch nicht da sein. Ich öffnete das Tor und fuhr voran, am Haus seitlich vorbei in den Garten hinten. Ich schaute auf mein Reich und seufzte. Vor ein paar Monaten hatte ich hier noch die Schnipselparty gefeiert und vor über einem Monat, eigentlich fast zwei, meinen Geburtstag.
Prompt sagte Sue, die mir gefolgt war: "WOW! Hier kann man bestimmt klasse Partys feiern!"
"Hatte ich auch schon mal gemacht."
"Wie war das Motto? Trinken bis zum Exzess?"
"Nö. Spaghetti ..." Ich klopfte den Rhythmus auf dem Rollstuhl und sang einen kleinen Teil des damaligen Neue-Deutsche-Welle-Hits: "Carabonaaaaara."
"Du bist lustig, weißt du das? Ist dein Mann nicht zu Hause?"
Ich schüttelte den Kopf und antwortete nicht. Ich würde es ihr schon noch erzählen. "Komm, lass uns wieder zurück. Sonst verpassen wir das Mittagessen!" Eine halbe Stunde oder etwas mehr würden wir dafür schon brauchen.
"Na gut! Bist übrigens ganz schön fit!"
"Danke, du auch!" Auf dem Rückweg alberten wir ziemlich herum. Sie hatte einen guten Einfluss auf mich. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart 10 Jahre jünger. Wir aßen und dann holten wir uns ein Kartenspiel. Schnell verging die Zeit. Wir machten jeden Tag einen Ausflug, oft auch zu meinem Haus. Über die ebenerdige Terrasse konnte man ja sogar hineinfahren. Einmal trafen wir dabei am Wochenende sogar auf Andrea, dem ich Sue vorstellte. Sue gefiel meine Wohnung. Und oft fuhren wir in das Alstertal-Einkaufszentrum, da gab es ja sogar eine Behindertentoilette. Mittlerweile kannten wir fast jeden Laden. Nach 10 Tagen hier bekam ich Bescheid. Morgen würde die OP sein. Die Fixateurstangen würden entfernt werden. Ich müsste dazu noch einmal für einen Tag in die Klinik. Wir verabschiedeten uns voneinander. Ich kam auf die gleiche Station und fühlte mich auch sofort wieder heimisch. Man sprach alles mit mir durch und am nächsten Tag würde die OP sein. Es war das erste Mal, dass mir so etwas bewusst bevorstand. Bei meinem Unfall wurde ich ja gleich in ein künstliches Koma versetzt. Karsten war leider nicht da. Urlaub, sagte man mir.
Ich war am OP-Tag ganz schön aufgeregt, bekam aber vorher eine Spritze zur Beruhigung. Eine sogenannte Scheißegal-Spritze. Nachdem ich dann verkabelt wurde, war ich auf einmal weg und wachte im Krankenhausbett auf. Noch schläfrig, aber irgendwie wach. Und ich sah zum ersten Mal mein Bein wieder. Mein richtiges Bein. Noch waren allerdings einige Pflaster draufgeklebt, dort, wo vorher die Fixierstangen in die Knochen gebohrt worden waren. Aber man konnte schon einige große Narben erkennen. Sah nicht so gut aus. Wie sollte ich denn mit diesem Bein wieder eine begehrenswerte Frau werden? Erneut beschlichen mich Zweifel. Aber es nützte ja nichts. Ich musste da durch! Wie auch immer. Ich blieb noch eine Nacht da, dann gab es erneut eine Verabschiedung, und ich wurde wieder in die Kurzzeitpflege geschickt. Schwungvoll fuhr ich aus dem Fahrstuhl des Krankenhauses und bog um die Ecke, und stieß mit jemandem zusammen. Kein schlimmer Zusammenstoß, aber er fiel. Und er rappelte sich wieder auf.
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Teil11: Den Musikantenknochen knapp verfehlt
"Ah Sandra. Ich gehofft zu treffen dich noch hier."
"Und nun wurdest du von meinem Rollstuhl getroffen. Sorry."
"Du bist fulminöse Frau, Sandra."
"Fulminant meinst du wohl? Energiegeladen würde aber besser passen. Bist du der mit dem Zauberstab, der mich wieder gesund macht?"
Er grinste. "Den hab ich in der Ernst. Andrea meinte, eine Aufmunterung du braucht ganz unselten."
Auch ich musste jetzt grienen. "Und da schickt er seinen Chef!?"
"Absolutly! Die anderen doch keinen Zauberstab haben." Ich verkniff es mir, dorthin zu schauen, wo die anderen ihren Zauberstab haben, weil ich erstens immer noch nicht viel fühlte und zweitens macht man das nicht mit einem Maestro. Sein Zauber war woanders.
"Wollen wir auf meine Gefängniszelle gehen?"
Er griente. "Ist in jeder Land gleich. Ich nicht viel Zeit haben. Gleich Probe für", er zog aus einer Tasche ein Papier und gab es mir, "diese schönes Konzert sein. Und du kannst hören es."
"Wie soll ich denn da hinkommen? Ich bin doch schwerbehindert."
"Andrea die Probleme berichtet. Das Rollstuhlplatz sein. Und du kannst jemanden nehmen mit der begleitet dich!" Er zeigte auf meine Arme und machte das Pssssst-Zeichen.
"WOW! Womit hab ich das denn verdient?"
"Mit deines Mut! Andrea hat erzählen und ich dachte, muss unbedingt sehen dich wieder!"
"Mit Nachbesprechung?"
"Natürlich! Ich komme vorbei hin nach die Schluss." Er gab mir noch einen Kuss auf die Wange und winkte mir hinterher. Ich war total happy. Und blamiert hatte ich mich. Immer tat er was für mich, aber ich nie was für ihn! Wen sollte ich mitnehmen? Andrea, Lena,und Oliver gingen nicht. Die mussten sicher spielen. Julian? Ging nicht, Ellen auch nicht. Ich wollte keine Eifersucht riskieren. Piere? Ich schaute auf die Eintrittskarten. An dem Tag war er nicht da. Peter! Ich simste Peter an. Nach wenigen Minuten kam die Antwort. Der konnte da auch nicht. Dieter würde ich gerne nehmen, aber der war verschollen und ich hatte keine Telefonnummer. Jens! Vielleicht konnte der ja! Ich rief ihn einfach an.
"Sandra! Wo brennts denn?"
"Ich dachte, du freust dich, wenn ich dich anrufe."
"Tue ich doch auch! Lass mich raten: Ich soll für dich einen Verbrecher finden?"
"Das sowieso. Kannst du auch einen Verbrecher spielen? Einen Schieber?"
"Das sagt man schon lange nicht mehr!"
"Ich bin das schwarz gehandelte Subjekt. Ich bin so schwach, du musst mich begleiten und mich im Rollstuhl wohin schieben."
"In die Unterwelt?"
"Nein, da war ich ja schon. Das nächste Mal Unterwelt hat Zeit. Nein, in die Elbphilharmonie. Ich habe Karten bekommen und brauche eine kräftige Begleitung."
"Wann denn?"
"Übermorgen um 20 Uhr."
"Geht klar! Ich werde die Verbrechen da pausieren!"
Ich lachte schrill auf. "Sei um 18:30 da in der Kurzzeitpflege in Poppenbüttel, im Hinsbleek, das ist gegenüber dem Seniorenheim, also auf der anderen Seite der Alten Landstraße. Als Chauffeur."
"Jawohl, Maaaahm!" Er legte auf. Ich fuhr hoch ins Zimmer. Sue war noch da. In der ganzen Zeit hatte sie niemand besucht. Ich hatte sie mehrfach versucht auszufragen, erfuhr aber nur, dass sie sich mit ihren Eltern total verkracht hatte. Zumindest hatte sie aber, nicht ohne einen gewissen Stolz, erzählt, dass der Wagen, den sie geschrottet hatte, ihrem Vater gehört hatte. Ein Mercedes.
Zwei Tage später holte mich Jens ab. Ich hatte nicht wirklich was Schickes zum Anziehen, aber dachte mir, in dem Zustand würden alle darüber hinwegsehen. Ich wartete schon unten, ungeduldig, quälte mich in sein Auto hinein und der Rollstuhl wanderte nach hinten. Dann fuhren wir. Eine Dreiviertelstunde brauchten wir. Ich versuchte, ihn ein wenig auszuhorchen, aber biss bei ihm auf Granit. Aber er bei mir auch, als er versuchte zu erfahren, ob ich irgendwie schon wieder eine feste Beziehung habe. Ich foppte ihn ein wenig und genoss es irgendwie, wenn seine scheuen Blicke kurzzeitig zu mir herüber huschten. Natürlich freute ich mich auf das Konzert. Die Stücke waren alle neu für mich. Dieses Mal mussten wir den Fahrstuhl der Elbphilharmonie nehmen, und einmal umsteigen. Dann waren wir im Saal.
"Da sieht man mal, wo unsere Steuermillionen geblieben sind", kam von ihm.
"Es hat sich doch gelohnt, oder? Hast du ja schon öfters gesehen."
"Ja, stimmt."
"Nur für ausreichend Damentoiletten war nicht mehr genug da."
"Wie immer", sagte er. Ich fuhr auch gleich dorthin, in die für Behinderte, denn gehen konnte ich immer noch nicht, nur stehen und ein paar Trippelschritte mit Festhalten machen. Und dann ging es zum Platz.
"Warst du schon mal in der alten Musikhalle?", fragte ich.
"In der alten Halle war ich schon zwei Mal. Sieht auch nett aus. So im Barockstil."
"Ich war nie dort."
"Ach, ich dachte, du wärst Expertin!"
"Jetzt ja. Damals noch nicht."
"Wie kam's?"
"Es hatte mich mal jemand erpresst, hierher in die Elbphilharmonie zu kommen."
"Echt jetzt?"
"Nein! Das war jetzt übertrieben. Er hat es mir nur nahegelegt, es steckte so eine Art Geheimnis dahinter, welches ich ergründen sollte. Aber er hat sich dann als ganz harmlos herausgestellt. Meine Leichen im Keller hat er nicht gefunden." Ich kicherte.
"Ich bin mir sicher, so etwas versteckst du gut."
Ich seufzte. "Es wäre mir lieber gewesen, es hätte das alles nicht gegeben. Aber dann hätte ich wohl meinen lieben Stiefsohn nie kennengelernt und Uwes Doppelleben nie enttarnt. Ich fasse es bis heute nicht! Es gab aber auch nie irgendwas, bei dem ich hätte Verdacht schöpfen können. Ohne das alles wäre es wohl bis in alle Ewigkeit weitergelaufen, zumindest bis zu ihrem Tod. Aber vielleicht hätte es den dann auch nicht gegeben."
"Wie meinst du das?", fragte Jens.
"Na, alles hängt doch mit allem zusammen. Kleinste Änderungen führen zu leicht abweichenden Reaktionen. Vielleicht hätte es dann also diesen Unfall von ihr und deren Mann nicht gegeben. Ein kurzer Anruf von Uwe zu ihr: sie wären zwei Minuten später losgefahren, dann wäre der LKW auf ein anderes Auto aufgefahren."
"Vielleicht. Wer weiß das schon!"
"Manchmal frage ich mich, was gekommen wäre, hätte ich Uwe nie kennengelernt."
Jens griente mich an. "Man sollte nie nie sagen."
"Genie! Ironie. Agonie. Diakonie. Mülldeponie. Leistenhernie. Telefonie. Brownie. Da gibt's doch noch viel mehr. Dem kann man nie aus dem Wege gehen. Weißt du eigentlich, dass du ein sehr angenehmer Gesprächspartner bist? Ich meine, so abseits von Verhörraum und so."
"Ist das jetzt der erneute Versuch eines Flirts?"
"Ich bin nicht in Stimmung. Aber vielleicht hilft es ja, dahin zu kommen."
"Sandra, du bist merkwürdig. Du kannst doch nicht alle wohl gehüteten Frauengeheimnisse verraten! Ich werde mich jedenfalls an keine Frau heranmachen, die mir gerade gesagt hat, dass sie keine Lust mehr hat."
"Schade. Bestimmt liegt es doch an meinem Bein."
"Zeig mal!" Jens fuhr jetzt tatsächlich ganz zart mit seiner Hand an meinem Bein nach oben, hörte aber auf, als er sah, dass uns einer der Leute aus dem Publikum beobachtete.
"An deinem Bein liegt es nicht!"
Ich grinste ihn an. So langsam füllte sich der Saal und wir beobachteten ein wenig die Leute. Dann ging es los. Mein Maestro kam herein, empfing die Huldigung, und zückte seinen Zauberstab. Und damit entfachte er tatsächlich ein Wunder. Vielleicht nicht biologisch. Aber psychisch. Ich fühlte mich wie neugeboren. Ein Klavierkonzert von Tschaikowski. Typ Klavier hält lustige Zwiesprache mit dem Orchester. Mal schimpfte der eine, mal der andere, dann wieder Besänftigung des Streits. Es war nicht schwer zu erraten, was es bedeutete. Das Klavier, das war ein aufmüpfiger Jugendlicher. Und das übrige Orchester, das waren die Eltern. Am Schluss hatten sie sich aber tatsächlich versöhnt. Dann begann die Pause. Ich gab Jens 'frei', da ich selbst ja relativ unbeweglich war. Rechtzeitig kam er zurück. Ich war auf das neue Stück gespannt.
Es begann ganz langsam und steigerte sich dann. Immer wieder aufwühlende, bedrohlich klingende Passagen, wechselnd zu lieblicher klingenden Stellen. Hörte ich hier schon wieder mein Leben? Immer wieder schien ein Hauptthema durch, variierte, entwickelte sich mal zu einem Sturm, dann wieder zu einem lauen Lüftchen. Andrea, Lena, und Oliver waren dieses Mal bei der gesamten Aufführung dabei. Lena spielte sogar die erste Flöte, die im zweiten Satz eine sehr wichtige, prägnante Rolle hatte. Und alles endete mit einem langen und lauten Tutti des ganzen Orchesters. Wie eine Aufforderung, dass ich mich von allen Widrigkeiten des Lebens befreien sollte. Es klang aufwühlend. Schicksalhaft. Fast wie mein Schicksal. Und dennoch endete es versöhnlich. Würde mein Schicksal auch versöhnlich enden? Nein, das ganze Schicksal nicht. Das würde mit dem Tod enden. Wie bei allen Lebewesen. Aber mein näheres Schicksal? Würde es wieder so sein wie früher? Zumindest wie das nach Uwe?
Ich bekam sofort wieder Pipi in die Augen, als ich an alles dachte. Dennoch klatschte ich zusammen mit allen anderen, bestimmt 5 Minuten lang. Der Saal begann sich zu leeren. Immer noch flossen einige Tränen. Jens sprach mich ganz entsetzt an: "Sandra! Hab ich was falsch gemacht?"
"Nein. Es ist nur ... es sind die Emotionen. Mach dir nichts draus. Es ist so ein Frauending. Wenn die Musik die Seele berührt, weißt du?"
"Ja, kann ich mir denken. Es war ja auch sehr berührend, und dramatisch. Ich hatte dabei auch an deine Schicksalsschläge gedacht."
"Ach, du auch?", sagte ich, versuchte zu lächeln, und wischte mir die Tränen aus den Augen.
"Natürlich. Ich bin nicht so ein emotionsloser Klotz. Ich darf es nur nicht so zeigen. Soll ich dich hinausfahren?"
"Nein. Der Maestro kommt noch."
"Du kennst den Dirigenten?"
"Nein. So heißt der ja nicht mehr. Man nennt den heutzutage musikalischer Leiter. Das ist mehr als nur Dirigieren. Er entwickelt zusammen mit dem Orchester den Klang des Stückes. Dirigieren ist nur der letzte Teil davon."
"Hast du von dem die Karten bekommen?"
"Ja, sei also lieb zu ihm!"
"Ich werde ihn nicht festnehmen." Er griente. Wir plauderten noch ein wenig, alle Leute waren schon längst weg, da kam der Maestro tatsächlich herein.
"Sandra! Geht es dir gut? Überstanden alles?" Jens schaute ungläubig, dass ich tatsächlich von ihm angesprochen wurde.
"Deine Musik hat in mir neue Kräfte geweckt. Es war aber eine Achterbahn der Gefühle."
Er schmunzelte. "Das kann verstehen ich. Dein neuer Mann an die Seite?"
"Das ist mein Begleiter Jens Mehnert. Er arbeitet sonst bei der Polizei. Manchmal verhaftet er mich, aber sonst ist er ganz okay." Er schüttelte ihm die Hand, aber Jens brachte kein Wort heraus.
"Polizei also, ja?" Jens nickte. "Kommt mit!" Er ging voran, Jens an meiner Seite. Einige verspätete Leute vom Publikum schauten verwundert zu uns rüber. Es ging in den Fahrstuhl und von dort fuhren wir in den Hotelbereich.
"Heute ein neues Hotel?", fragte ich.
"Nein, oft hier. Letztens aber kein Zimmer mehr war frei."
"Zum Glück", sagte ich. Wir waren angekommen und er führte uns in sein Hotelzimmer. Auch hier alles vom Feinsten.
"Warum Glück? Hier viel besser."
"Ich glaube, das hat mir viel später über viele Umwege das Leben gerettet."
"Sandra? Was machst du Sachen für!"
"War es wegen dem Überfall damals?" Jens schaltete sich ein. Und er schaute zweifelnd. Genau wie der Maestro.
"Ja, deswegen. Es war zwar kein Automatismus. Aber ohne den Überfall hätte ich den Selbstverteidigungskurs nicht gemacht. Dann hätte der Typ mich vielleicht abgestochen, weil ich mich nicht hätte verteidigen können."
"Dich wollte abstechen jemand?" Die Stimme des Maestros war total schrill.
"Es war ihr Stiefsohn", sagte Jens.
"Andrea? Das ich nicht kann glauben!"
"Nein, nicht Andrea! Sein Zwillingsbruder Mario."
"Zwilling, was das sein?"
"Twin", sagte Jens.
"Andrea hat gesagt nichts!"
"Wer erzählt schon gerne von seinem kriminellen Bruder. Hätte ich auch nicht gemacht!" So langsam kam Jens in Fahrt.
"Bist du deswegen so?", fragte er, und zeigte auf meine Beine. "Andrea wollte nicht geben raus mit die Sprache."
Ich schaute ihn ganz traurig an. "Damit fing es an, aber das war nicht die eigentliche Ursache. Das kam von einem Verkehrsunfall bei der Jagd nach diesem Verbrecher. Meine Schuld!"
Er grinste. "Du ganz schön dickes Kopf hat, sagt man so das?"
"Das können sie ruhig laut sagen!", Jens grätschte dazwischen.
"Oh", sagte der Meastro. "Wann denn sein Hochzeit? Darf ich kommen auch?"
"Nein. Wir sind doch nur Bekannte!", beeilte ich mich zu sagen.
Der Maestro grinste aber. "Kannst mir erzählen Märchen, oder auch nicht sein." Dann fragte er mich: "Was macht die Stein?"
Oh verdammt! An den hatte ich ja noch gar nicht gedacht! "Der liegt ... also der liegt irgendwie ... noch nicht auf diesem Berg." Ich fühlte mich jetzt wie in der Schule, wenn ich dabei erwischt wurde, dass ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Nein, schlimmer: dass ich meinem Vater erklären musste, woher die schlechte Note kam, weil ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Sofort fühlte ich mich in die Defensive gedrängt. "Also es war nicht so, dass ich nichts gemacht hatte. Ich hatte ja schon mit Üben angefangen. Dreimal die Woche gewandert. Immer zwei Stunden. Aber ich war einfach noch nicht ... bergtauglich genug!" Ich war froh, dass mir auf die Schnelle dieser Begriff eingefallen war. "Und dann kam das hier dazwischen!" Ich zeigte auf mein Bein. Jens schaute völlig ungläubig darüber, dass ich mal nicht die Coole war, die obenauf schwamm.
"Mein Liebe, ich weiß. Note für Note. Du angefangen. Gut Ding will Weile haben. Mozart nicht gemacht haben Meisterstück an die erste Tag. Sibelius nicht gemacht diese tolle Stück an die erste Tag. Musste üben, üben, üben. Kamen Ruckschläge. Mussten springen über das Hurden. Ich sehr trotzdem stolz sein auf dich, dass begonnen du." Mir fiel ein Stein von Herzen. Er hatte es mir also nicht übelgenommen. Er schaute zu Jens. "Du gute Wahl getroffen. Sandra starke Frau sein. Nicht die ganze Tag, aber die meiste Tag."
Jens wurde rot. "Aber wir sind gar kein Paar! Wirklich nicht!"
"Wer weiß. Vielleicht später. Liebe geht Umwege oft. Wie heißt auf chinesisch? Um-Lei-Tung. Hahaaaa!"
Jens griente. Ich musste das traute Gespräch aber unterbrechen. "Ich sag's nur ungern, aber ich muss spätestens Mitternacht zurück in meinem Luxusdomizil sein. Höflich, wie mein Chauffeur ist, hat er nichts gesagt. Aber ich kriege sonst Ärger, werde herausgeschmissen, lande auf der Straße."
Der Maestro grinste und schaute Jens an. "Chauffeur auch gefallen die Stuck?"
"Das war spitzenmäßig! Danke für die Karten!"
"Ja, danke für die Karten", sagte ich auch.
"Was ist spitze? Frau Sandra oder Musik?"
"Natürlich Beides!"
"Machts gut ihr beides!" Ich umarmte ihn und Jens schüttelte ihm die Hand. Wir kämpften uns vom Fahrstuhl bis zum Parkdeck durch, und Jens fuhr los.
"Wie hast du das denn geschafft?", fragte er. "Hattest du mal was mit dem?"
"Höre ich da ein kleines bisschen Eifersucht heraus? Nein, er ist eher so etwas wie ein väterlicher Mentor. Nicht mit jedem Mann, den ich treffe und der mir gefällt, gehe ich ins Bett."
"Natürlich, das ist mir klar."
"Weißt du, es ist nicht so, dass du mir nicht gefällst. Aber nach all den Sachen bin ich vorsichtiger geworden. Und gieriger. Wenn mich irgendwann mal jemand kriegt, muss er teilen können, ohne Schmerzen zu empfinden. Glaube ich jedenfalls."
"Spielst du damit auf seine Bemerkung an? Darüber habe ich nie nachgedacht. Oder überhaupt daran zu denken gewagt. Ich lebe in dieser Hinsicht tatsächlich immer so in den Tag hinein, so ähnlich wie du. Mache keine Ziele. Ich habe auch meine Gründe."
"Na gut, dann frage ich mal nicht. Und auch ein Maestro kann sich ja mal irren."
"Was ist das eigentlich für ein ominöser Stein? Oder ist das ein Goldklumpen?"
"Ja, das ist tatsächlich sowas wie Gold. Im ideellen Sinne. Er sieht aus wie ein einfacher, aber schöner Stein, aber wenn man ihn an den richtigen Punkt bringt, wird alles gut."
"Wie das Schwert des Excalibur?"
"So ähnlich. Nur andersherum. Also man muss ihn wo hineintun, aber nicht mehr wegnehmen."
"Vielleicht kann ich ja helfen."
"Vielleicht kannst du das ja tatsächlich. Aber erst muss das hier in Ordnung kommen." Ich zeigte auf mein Bein.
"Warst du mir eigentlich böse? Weil ich dich da gestreichelt hatte?"
"Nein. Ich war mit mir böse. Weil es nicht die Empfindung in mir ausgelöst hat, die es sollte."
"Was sollte es denn?"
Ich lachte auf. "Na was schon? Sexlust! Ich habe innere Entzugserscheinungen, weil die Lust fehlt. Fühle mich nicht mehr als Frau."
"Und was hast du für einen Plan dagegen?"
"Kommt Zeit, kommt Lust, hat man zu mir gesagt. Die ist Ärztin, muss es also wissen."
"Verstehe!"
Er erzählte mir dann während der Fahrt doch noch von einigen Sachen, die sie unternommen hatten, um Solco zu finden. Aber nichts von den Ermittlungsergebnissen. Das durfte er sicher auch nicht. Dann waren wir bei der Kurzzeitpflege angekommen.
"So, da wären wir!" Er kümmerte sich um den Rollstuhl und ich war dann im Gebäude, rechtzeitig und mit Zeitreserve. "Ich danke dir, mein lieber Chauffeur."
"Ich muss danken für das schöne Konzerterlebnis und dass ich mit dir zusammen sein durfte. Sehen wir uns wieder?"
"Ich freue mich schon!" Das klang besser als 'sicherlich', oder 'demnächst', oder gar 'mal sehen'. Aber es ließ mir genug Raum, um über Zeitpunkt und Anlass mitentscheiden zu können. "Gute Nacht, Jens."
"Gute Nacht Sandra. Schlaf schön!" Ich fuhr zum Eingang, klingelte, und Schwester Karina, mit der ich das vorher abgesprochen hatte, lotste mich hinein. Sue war noch wach. Ich umarmte Sue erst einmal. "Na, wie hieß der Typ, mit dem du den Abend verbracht hast?", setzte sie nach.
"Jens. Glaub mir, du willst ihn nicht kennenlernen. Er ist Kriminalkommissar."
"Ist er wenigstens nett?"
"Wenn ich gewollt hätte, wäre er sehr nett gewesen."
"Du hattest schon mal was mit ihm?"
"Ich schlüpfe manchmal in eine Rolle und dann treibe ich es mit wem. Er war einer davon."
"Wie? So Opernrollen?"
"Nein." Ich musste lachen. "Ich ziehe mir sexy Sachen an und tue zum Beispiel so, als wäre ich eine Nutte."
"Das darf man doch nicht mehr sagen!"
"Ach, ich pfeife auf diesen politisch korrekten Sprachmist! Natürlich kann man etwas als das benennen, was es ist. Die können mich mal!"
"Das wollte ich hören!"
"Komm, wir schlafen. Ich bin todmüde!"
So ging der Alltag hier noch ein paar Tage weiter. Ich bekam viel Besuch in dieser ganzen Zeit hier. Jeden Tag kam irgendwer. Sue war schon ein wenig neidisch. Nach mehrfachem Nachbohren erzählte ich ihr endlich meine Geschichte. Und dann kam Weihnachten. Und mit der Weihnachtszeit ein wenig Melancholie. Ich hatte ja nur eingeschränkte Möglichkeiten, mich um alles zu kümmern, aber dank des nahen Einkaufszentrums war es trotzdem machbar. Für Andrea und Lena besorgte ich Karten für ein Musikfestival, zusammen mit einer Reise, und natürlich auch ein wenig Kleinkram, vor allem Naschsachen. Und auch die beiden hatten sich etwas überlegt. Es war eine Überraschung.
Das Personal der Kurzzeitpflege rief uns am Heiligabend allesamt in den Speisesaal, und es gab Kaffee und Kuchen. Natürlich war alles schön weihnachtlich geschmückt. Und dann, ich traute meinen Augen kaum, marschierten Andrea, Lena, Oliver und Gina in den Saal. Sie hatten solche Weihnachtsmützen auf, nahmen dann Platz, und führten einige Stücke auf. Es waren für ihre Instrumente arrangierte Stücke üblicher Weihnachtsmusik. Alle Bewohner der Kurzzeitpflege, zumindest die, welche dabei sein konnten, freuten sich. Und ich war natürlich richtig stolz auf die beiden. Lena verriet mir dann später, dass die Ausgangsidee von ihr kam. Wir machten dann noch eine kleine Bescherung. Ich bekam von ihnen zwei Gesellschaftsspiele, die wir dann zusammen mit Sue gleich allesamt ausprobierten. Es wurde ein schöner Abend und erst gegen 22 Uhr verließen uns die beiden.
Und dann war Weihnachten vorbei, und meine Zeit hier zu Ende. Und meine Reha würde anfangen. Auch für Sue würde hier bald Schluss sein. Anfang des Jahres würde sie in eine Behinderten-WG ziehen. Sie hatte also auch nur noch eine Woche. Ich verabschiedete mich von Sue und wünschte ihr alles Gute. Auf beiden Seiten flossen etliche Tränen. Ich versprach, Kontakt zu ihr zu halten. Schließlich war sie mehr als zwei Wochen lang meine Leidensgenossin gewesen und wir hatten viel Spaß miteinander gehabt. Dank ihr hatte sich auch meine Fitness verbessert. Ihre aber leider auch. Nur ein einziges Mal war ich dicht dran beim Rennen zu meinem Haus. Ganz dicht dran. Es hatte nur eine Haarbreite zum Sieg gefehlt, ehrlich!
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Teil12: Quälereien und ein neu erwachtes Gefühl
Ich wurde dann wieder in so einen Transporter verfrachtet. Die Fahrt dauerte dank Stau anderthalb Stunden. Die Rehaklinik war groß und machte einen guten Eindruck. Hier gab es Einzelzimmer für jeden. Ich hatte zwar meine Unterlagen mit, trotzdem machte man mit mir erst mal eine Eingangsuntersuchung und ich musste meine Fähigkeiten vorführen. Viel war das natürlich noch nicht. Stehen, Rollstuhlfahren, und mich auf den angebrachten Stützen für den Toilettengang hochheben. Immerhin, besser als nichts. Es würde hier drei Mahlzeiten am Tag geben. Mein geliebter Kuchen musste leider ausfallen, bis ich aber rechtzeitig noch checkte, dass die Klinik nicht weit entfernt von der Fußgängerzone lag. Hier gab es mehrere Cafés und in zwei von denen konnte man mit dem Rollstuhl hineinfahren. Ich war gerettet! Dann ging es los.
Ich bekam meinen Plan. Ein voll ausgebuchter Tag bis zum Gehtnichtmehr. Und streng waren sie. Fast schon so wie militärischer Drill. Alles war verboten. Fast alles. Kein Besuch auf den Zimmern der anderen. Treffen waren nur im Aufenthaltsraum erlaubt, und natürlich im Essensraum und bei den Anwendungen. Wer erwischt wird, fliegt. Das war ja schlimmer als in der Kirche! Aber zumindest konnte man raus, und dann dort machen, was man wollte, zumindest wenn man es konnte und zwischendurch Zeit war. Noch hatte ich aber keine Lust auf Männer und hoffte, das würde sich ändern. Wir bekamen unseren festen Personenkreis, welcher sich um uns kümmerte. Sabrina war im Schwimmbad, Elke machte Yoga, Helen war Psychologin, Noyas machte mit uns Kraftsport, Sibel Geschicklichkeitsübungen, und Volker war der für mich wichtigste Trainer. Gehen lernen!
In der ersten Woche kam ich in eine Art Gestell und machte darin die Schritte. In der zweiten Woche, direkt nach dem Jahreswechsel, bekam ich solche Gehhilfen. Das war irgendwie schöner, da man so mehr Selbstbestimmung hatte. Und in der dritten Woche hatte ich mich in ihn verliebt. Gut, das war übertrieben. Aber ich mochte ihn und war zumindest scharf auf ihn. Endlich wieder Lust! Zumindest ein wenig. In dieser Woche, es war meine letzte hier, war das freie Gehen dran. Er stellte sich vor mich und ich musste versuchen, zu ihm zu gehen. Es war schwierig. Koordination, Gleichgewicht, alles. Außerdem taten die Sehnen weh, da die sich vom vielen Liegen zusammengezogen hatten. Durch die ersten zwei Wochen war es schon besser geworden, aber trotzdem musste ich die Zähne zusammenbeißen.
Ich versuchte es, aber oft fiel ich nach wenigen Schritten, also klappte zusammen, und Volker fing mich auf. Irgendwann ertappte ich mich dabei, dass ich absichtlich fiel, obwohl noch zwei oder drei Schritte gegangen wären. "Sandra, reiß dich zusammen!", ermahnte er mich. "Schön durchziehen, auch wenn es schwerfällt!" Mich solltest du durchziehen, ertappte mich bei meinen Gedanken. Blöderweise oder zum Glück verbesserte sich meine Gehfähigkeit sehr schnell und nach vier Tagen war es vorbei mit dem Fallenlassen. Trotzdem wollte ich mich noch nicht so schnell geschlagen geben. Am Ende der Stunde sprach ich Volker an. "Du, sag mal, können wir mal reden? Nur du, und ich, in Ruhe?"
Volker lachte. "So nach dem Motto: Zieh dich aus, wir müssen reden?"
"So in etwa!"
"Sandra! Das geht nicht! Wenn das herauskommt, verliere ich meinen Job!"
Das war ja interessant! Er hatte also durchaus Interesse! Traute sich nur nicht! "Heute Abend?"
Er schwieg länger, bis er antwortete. Man sah es innerlich in ihm kämpfen. "Woran hast du denn gedacht?"
"Ein Hotel?"
"Die kennen mich doch hier!"
"Wart mal!" Ich nahm mein Handy, sah, dass eine meiner Ferienwohnungen heute noch frei wäre, und buchte die für mich. "Wir fahren zu mir. Hinter dem Kaffee 'Zum Kurgast' ist der Park, da gabelst du mich auf. 18:30 Uhr. Um zehn muss ich wieder zurück sein. Wir haben also zwei Stunden!"
"Sandra!" Er schaute irgendwie zwischen neugierig und verzweifelt. "Ja, ich komme!"
Ich frohlockte. Ich simste Ellen, die mich heute Nachmittag besuchen wollte, dass sie mir bitte Dessous mitbringen soll. Die schrieb natürlich sofort: 'Was hast du vor? Den Kurdirektor verführen?', und ich schickte ihr daraufhin nur einen Smiley, aber als sie dann kam, hatte sie tatsächlich ein Päckchen dabei. Ganz in Weiß würde die Sandra dann sein. Alleine vom Ansehen fluteten mich schon Wellen von Lust und ich war so froh, dass zumindest das wieder funktionierte. Natürlich führte ich Ellen auch meine Fortschritte vor und sie staunte. "Bald bist du komplett rehabilitiert", sagte sie. "Hauptsache, du lässt die Finger von Julian!"
Ich seufzte. "Es fällt mir sehr schwer, aber versprochen! Ist er bei dir auch so hemmungslos?"
"Pssst! Das darf ich doch nicht verraten! Im Päckchen sind auch ein paar Kondome dabei." Ellen musste dann los und auch bei mir begannen die Nachmittagsanwendungen. Schnell zog ich mich danach um, natürlich die sexy Sachen darunter, schnappte mir zur Unterstützung meine Gehhilfen, und hastete zum Treffpunkt. Mit den Dingern war ich schnell genug und die Ausdauer reichte damit auch. Das Abendessen musste ich ausfallen lassen. Ich würde es überleben. Es war schon ziemlich dunkel, da kam jemand vorgefahren. Ich ging hin und sah, dass er im Auto war. Ich verfrachtete meine Gehhilfen nach hinten, und setzte mich auf den Beifahrersitz. "Auf nach Grömitz", sagte ich.
"Hast du da 'ne Ferienwohnung gemietet?"
"Kann man so sagen!", sagte ich. "Meine eigene."
"Ach, bist du eine von den reichen Witwen, die sich einen Mann für gewisse Stunden angelt?"
"Ich gebe es ungern zu, aber es ist gar nicht mal so weit weg. Ich bin wirklich Witwe. Und ich bin froh, dass ich wieder Lust habe, mir wen zu angeln. Stört es dich? Hättest du es lieber, wenn die Frau dich richtig liebt?"
"Seit meiner Scheidung nicht mehr. Es hat ganz schön wehgetan."
"Das passiert dir öfters mal, oder? Dass eine Patientin dich fragt."
"Ab und an. Ich bin da auch nicht wählerisch. Alle haben es verdient, dass man sie verwöhnt. Aber man muss vorsichtig sein. Ich warte immer, bis sie mich anspricht. Aber so eine tolle Frau wie du kommt nur selten mal vor."
"Trotz dieses Beins?"
"Ach, da bist du zu streng mit dir. Das Schöne ist doch die gegenseitige Wirkung aufeinander und nicht das Aussehen irgendwelcher Körperpartien."
"Du magst es also auch?"
"Was mögen?"
"Das gegenseitige Genießen, ohne an das Morgen zu denken?"
"So ungefähr. Aber momentan denke ich nur an Heute-Abend."
Ich auch, und ich hoffte auf eine ganz bestimmte Körperpartie von ihm. Die bekam ich dann auch. Aber vorher waren noch allerhand Hindernisse zu überwinden. Nicht auf der Straße, aber in der Ferienwohnung. Volker stellte sich hin, ich musste meine Gehhilfen wegstellen und zu ihm kommen. Das schaffte ich, und dann zog ich ihn aus. So wie ich es mag. Mit ganz viel Knutschen zwischendurch und immer wieder die Hände wohin schieben, bevor die Klamotten ganz fielen. Unter dem Hemd an seine Brust, an seinen Po, und dann natürlich auch an das männliche Lustzentrum. Dasselbe machte er dann auch mit mir. Nach einer halben Ewigkeit standen wir beide nackt voreinander. "Stört dich mein Pelz?", fragte ich.
"Wenn ein Jäger sein Wild erlegt, weiß er, dass es Haare haben wird."
"Na, dann erlege mich mal!" Nein, er machte es nicht wild. Man merkte, er war ein Genießer. Ein weitgehend hemmungsloser Genießer. Aber er achtete immer darauf, wie es mir ging. Und auch ich nahm mich nicht zurück. Ich genoss es, endlich wieder mit einem Mann zusammen zu sein, genoss seine Zärtlichkeiten. Auch wenn am Schluss zwei Kondome auf dem Boden lagen, kopulierten wir nicht die ganze Zeit miteinander. Es war genauso, wie ich es mir erhofft hatte. Irgendwann, den Kopf an seine Schulter gelegt, seufzte ich dann. "Wir müssen los. Du hast mich wirklich schön verwöhnt!"
"Danke. Du mich aber auch. Schade, dass ich mich nicht in dich verlieben darf."
"Das darfst du. Aber du kriegst mich nicht. Ich liebe Männer, aber auch die Abwechslung. Frauen manchmal auch."
"Oh, toll. Ich hab es auch schon mal mit einem Mann versucht. Bei einem Dreier. Aber das war nur einmal und ich wollte keine Wiederholung." Mittlerweile waren wir angezogen. "Wollen wir?", fragte er.
Ich schnappte mir meine Gehhilfen, wir fuhren los und waren rechtzeitig da. Er ließ mich dort heraus und ich ging den Weg zurück und schlich in mein Zimmer, zufrieden, geschafft, happy. Und schlief dann wie ein Murmeltier. Wenn ich gewusst hätte, was mich am nächsten Tag erwartet, dann wäre das anders gewesen. Es war gleich beim Frühstück. Die meisten Patienten mit Gehproblemen bekamen ja zum Tisch gebracht, was sie brauchten. Ich war ja schon ein wenig weiter. Ich stellte mir mein Menü zusammen und legte es auf mein Tablett, es ging ja mittlerweile schon mit dem Gehen und gleichzeitigem Tragen, wenn auch langsam und vorsichtig. Da merkte ich, dass ich das Wichtigste vergessen hatte: das kleine Schälchen mit der Marmelade. Ich drehte um und stand auf einmal direkt vor ihr. Sie hatte eine Pflegerin an ihrer Seite, die sie stützte. Ich bekam einen Riesenschreck und musste leichenblass geworden sein. Alle Energie wich aus mir. Das Tablett fiel mir aus der Hand und ich fiel in Ohnmacht.
Es war nur kurz, denn gleich darauf wurde ich wieder wach, zwei Pflegerinnen waren um mich drumherum und halfen mir wieder auf. "Geht es ihnen nicht gut? Soll ich ihnen ein Glas Wasser holen?" Die andere Pflegerin räumte meine Sauerei weg.
"Nein, geht schon wieder. Es war wohl nur ... ich hatte gestern kein Abendbrot gegessen." Sie stand immer noch da, war genauso blass wie ich vermutlich auch. Sie schaute mich an. Ihre Augen sahen schreckgeweitet aus. "Aaan Aaa", sagte sie. Ich könnte in den Boden versinken, aber es ging nicht. Sie stand nun mal vor mir, leibhaftig, unerwartet, und lebendig. Aber offenbar ähnlich gehandicapt wie ich. Nur anders. Man sah, dass es innerlich in ihr arbeitete. Überlegte sie jetzt, was passiert war? Ich hatte keine Ahnung. Und auch keinen Plan, was ich jetzt machen sollte. Endlich reagierte ich, was man aber getrost als so etwas wie eine Übersprungshandlung werten konnte. "Evelyn!", sagte ich.
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Teil13: Der Schock
"Aaan Aaa."
"Ach! Sie kennen Frau Bollmann?", fragte mich die eine Pflegerin erstaunt.
"Ja, von früher." Evelyn stand einfach nur steif da und schaute mich an. Man sah, dass es innerlich in ihr arbeitete. "Was hat sie? Sie kann nicht richtig reden, oder?"
"Nein, das muss sie alles erst wieder lernen. Deshalb ist sie hier. Wollen sie sich mit an ihren Tisch setzen?", fragte sie. Das wollte ich nun auf keinen Fall. Jedenfalls nicht so. Ich war total unvorbereitet.
"Wir müssen mal kurz reden", sagte ich zur Pflegerin, und zeigte auf einen leeren Tisch weiter weg. Ich ging voran, die Pflegerin winkte einer anderen Pflegerin zu, welche Evelyn übernahm, und die Pflegerin folgte mir dann. "Ich habe ein Problem mit ihr! Sie ist damals mit meinem Mann durchgebrannt, hat ihn dazu verführt, Gelder zu veruntreuen, und ist schuld an dem Unfall, bei dem mein Mann dann gestorben ist. Vermutlich zumindest." Dass der eigentliche Anlass der Unfallfahrt Solco war, ließ ich erstmal weg.
"Ich verstehe ihre Verärgerung. Aber das ist nicht mehr die Person, die sie von früher gekannt haben. Sie ist im Prinzip wie ein dreijähriges Kind. Sie kann nicht richtig sprechen und offenbar erinnert sie sich auch kaum an Sachen von früher. Nur ihren Freund erkennt sie. Und an sie also offenbar auch. Waren sie befreundet?"
"Nur ein klein wenig. Zu einigen wenigen Anlässen haben wir mal miteinander geredet. Und Dessous gekauft."
"Dessous?", fragte die Pflegerin.
"Ja, Dessous. Die waren ihre Leidenschaft. Sie hat früher auch mal in so einem Laden gearbeitet. Mich hat sie dann auch damit infiziert."
"Mit Dessous?"
"Ja. Ich ziehe oft welche an. Zog. Früher."
Sie seufzte. "Ach, eine schöne Frau müsste man sein. So wie sie."
"Momentan bin ich die nicht mehr!"
"Doch, selbst in dieser Situation. Vielleicht sollten sie sich einen Ruck geben. Sie mag damals vielleicht schuldig gewesen sein, aber momentan ist sie einfach nur ein unschuldiges Unfallopfer. Oder eine, die sich ihrer Schuld nicht bewusst ist. Und als Unfallopfer sollten wir sie auch behandeln. Jedenfalls machen wir das so."
"Als sie im Wachkoma lag, habe ich sie zu Anfang ein paar mal beschimpft. Was ist, wenn sie sich daran erinnert?"
"Dann können sie sich immer noch zurückziehen!"
Ich seufzte. "Na gut."
"Ich wusste, sie sind eine gute Frau!" Sie stand auf und ich dann auch, ging im Schneckentempo zum Buffet zurück, füllte erneut mein Tablett, und ließ meinen Blick suchend kreisen. Dort hinten saß sie an einem Tisch, eine andere Pflegerin war bei ihr. Ich steuerte den Tisch an und setzte mich zu ihr. Sie wurde gerade gefüttert. Haferflocken, Milch und ein wenig kleingeschnittenes Obst. Sie hielt den Löffel, aber die Pflegerin führte den Löffel zu ihrem Mund. Das konnte sie wohl noch nicht alleine. Ihr Blick hatte sich wieder beruhigt. Er war scheu, wie ein Reh, das gerade äst und dabei ständig fluchtbereit ist.
Trotz meines wahnsinnigen Herzklopfens sprach ich sie an: "Guten Morgen Evelyn. Ich bin froh, dass du wieder aufgewacht bist." Sie hob den Blick, schaute mich an, kaute aber weiter.
Erst nach einer Weile kam wieder "Aaan Aaa."
Trotzdem ich innerlich ziemlich aufgewühlt war, konnte ich ein wenig lächeln. "Du kannst dich also an mich erinnern?" Evelyn nickte. "Und an wen noch? An Julian?" Wieder nicken. Ich startete einen Test. "Und Uwe?" Sie horchte auf, stockte aber kurz. Musste sie erst überlegen, wie sie reagieren sollte?
"Uuuuu - e." Natürlich erinnerte sie sich an ihn. Auch an ihre Wochen, die sie zusammen auf der Flucht waren. Oder? "Ohh i Uuuu - e."
Es war völlig ohne Betonung, aber ich glaubte zu wissen, dass es eine Frage war, wo Uwe ist. Das konnte ich ihr natürlich nicht sagen. Ihre Reaktion darauf war unvorhersehbar. Mein Gott, was sollte ich denn nur dazu sagen? Ich schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. "Er ist nicht mehr bei mir." Sie würde es schon noch früh genug erfahren.
Die Pflegerin fragte: "Wollen Sie mal übernehmen?"
"Wenn ich darf?" Ich schaute Evelyn fragend an, aber sie schien nichts dagegen zu haben. Also setzte ich mich neben sie, die Pflegerin rutschte auf den Stuhl daneben, und dann fütterte ich sie. Ich fütterte Evelyn! Also, sie hielt schon selbst den Löffel, aber sie war einfach noch nicht geschickt genug, den Löffel selbst zum Mund zu führen. Obwohl ich erst Angst vor einer Kurzschlussreaktion von Evelyn hatte, machte mir das nun irgendwie Spaß. Ich bildete mir ein, damit zumindest ein klein wenig wieder gutzumachen, was ich ihr mit meinen damaligen Beschimpfungen angetan hatte. Nach einiger Zeit war der Teller leer. "Gut gemacht, Evelyn", sagte ich.
"War es dieselbe Ursache wie bei Ihnen?", fragte mich die Pflegerin.
Ich schüttelte den Kopf. "Nein. Mein Unfall war erst vor kurzem und hatte andere Gründe. Aber es hing zumindest ein klein wenig mit den Sachen zusammen, die zu ihrem Unfall geführt haben. Ihr Unfall ist aber sehr lange her und es ging dann über viele Umwege."
"Wir gehen dann mal, ja?", richtete die Pflegerin die Frage an sie. Die immer noch scheu dreinblickende Evelyn nickte ihr zu, die Pflegerin half Evelyn hoch, dann gingen sie aus dem Speisesaal. Schleichender Gang. Da war nichts mehr sexy an Evelyn. Zumindest momentan nicht. Auch ich nahm nun mein Frühstück ein. Der Kaffee war natürlich kalt geworden. Ich beeilte mich dann, rechtzeitig zu meinen Anwendungen zu kommen, war spät dran. Heute stand ich aber voll neben mir. Vor dem Mittag war ich dann wieder mit den Gehübungen dran. Volker sah mir sofort an, dass etwas mit mir nicht stimmte.
"Hat das wer herausgekriegt mit uns?" Er sah erschrocken aus. Ich schüttelte den Kopf und er entspannte sich wieder. "Oder hast du Besuch von einem Geist bekommen?", fragte er lachend.
"Das war tatsächlich so. Ein Geist aus der Vergangenheit. Die Frau, welche mir damals den Mann ausgespannt hatte."
"Oh! Als Besucherin oder als Patientin?"
"Patientin. Sie lag ganz lange im Wachkoma."
"Kann sie denn gehen?"
"Ähnlich schlecht wie ich. Weiß nicht, ob du sie auch haben wirst. Sie heißt Evelyn Bollmann. Aber ich hab ihr kein Haar gekrümmt. Sie hat ihre Strafe schon bekommen. Deshalb ist sie ja hier."
"Was ist passiert?"
"Sie hatte einen Unfall, vor Jahren. Zusammen mit meinem Mann. Er tot, sie Wachkoma, jahrelang. Sie war damals schwanger und hat die ersten Jahre verpasst, ihren Sohn aufwachsen zu sehen."
"War das Kind von deinem Mann?"
"Nee. Von ihrem Freund. Aber mein Mann hatte da früher auch so einige Sachen in der Richtung produziert. Deshalb bin ich hier."
"Sandra! Du musst vor den Sachen davonlaufen!"
"Wie denn?"
"Das lernen wir heute!" Volker bekam einen sadistischen Zug um den Mund. Und dann fingen wir tatsächlich an. Gehen, welches immer schneller wurde, und in langsames Laufen überging. Tatsächlich schaffte ich es einige Male, ein paar Meter langsam zu laufen, Volker dabei immer zur Sicherheit direkt neben mir. "Es wird langsam. Samstag tanzen wir!"
"Nee! Das schaffe ich doch nie!"
"Wetten, dass doch?" Angesichts der anderen Wette verzichtete ich auf noch eine weitere. Es sah ja alles so aus, als würde ich sie verlieren. Zumindest, wenn irgendwann mal die schrecklichen Narben an meinem Bein verschwunden waren. Da ich heute keine Verabredung hatte, ging ich zum Abendessen. Zum Glück war keine Evelyn dort. Ich wollte danach schon auf mein Zimmer gehen, da sagte mir die Frau an der Rezeption: "Frau Neuhaus? Sie haben Besuch! Wartet in Gesellschaftsraum E2." Hmm, wer könnte das sein? Ich ging hin und da drinnen saß Piere.
Ich ging zu ihm hin. Und ich war ziemlich geladen! Piere sah auch sehr schuldbewusst aus, als er mich sah. Ich pflaumte ihn auch gleich an. "Sag mal, hättest du mich nicht vorwarnen können?!! Ich kam da heute früh rein und da stand sie vor mir! Ich bin glatt in Ohnmacht gefallen!!!!"
"Sandra, es tut mir leid, das wollte ich machen, aber du warst gestern Abend nicht aufzufinden, als ich sie hierher gebracht hatte, und dann wollte ich dich natürlich gleich hinterher informieren. Hab dir doch 'ne SMS geschickt!"
Ich schaute auf mein Handy. Da war tatsächlich eine von ihm eingetrudelt. 'Hallo Sandra, nicht erschrecken, Evelyn ist jetzt auch in deiner Reha. Kann sein, dass du auf sie triffst. Piere'
"Ach so." Ich war ziemlich schnell besänftigt. Wieder mal wegen einer Männergeschichte nichts mitbekommen. "Du hast aber auch so nichts gesagt! Das kam doch nicht von einem Tag auf den anderen!"
"Doch, hatte ich erst. Zumindest angedeutet, letztens. Da war ja noch nicht klar, wo die Reise hingeht. Und dann kam dein Unfall, das Krankenhaus. Da wollte ich dich wirklich nicht mit belasten. Du hattest selbst echt genug um die Ohren. Mit Evelyn ging das ja auch erst nach und nach besser. Erst vor ein paar Tagen war sie in einem ausreichenden Zustand für eine Reha. Und dann wurde hier ganz plötzlich ein Platz frei."
"Was bekommt sie denn hier?"
"Sie wird so ähnlich behandelt wie ein Schlaganfallpatient. Also erst mal Physiotherapie wie du, also richtig gehen lernen und so. Und vor allem Logopädie. Sie muss wieder sprechen lernen. Hast du sie heute schon erlebt oder nur gesehen?"
"Ich hab sie schon gefüttert. Also beim Essen geholfen."
"Sandra, du bist echt mutig. Empfindest du keine Aggressionen gegen sie?"
"Nein. Oder zumindest habe ich sie unterdrückt. Hast du sie schon ausgehorcht? Was weiß sie denn noch?"
"Ich habe es versucht, es ist ja sehr schwierig, da sie noch nicht richtig sprechen kann. Ihre Erinnerungen sind offenbar sehr bruchstückhaft. Vom Unfall weiß sie gar nichts. Und von den Wochen vorher auch nicht viel. Sie weiß aber dunkel, dass sie in der Zeit mit Uwe unterwegs war. Du hast es ihr doch hoffentlich nicht gesagt?"
"Nein, was denkst du von mir? Irgendwann muss sie es erfahren, aber momentan ist das zu früh. Viel zu früh. Und weißt du, natürlich bin ich noch sauer wegen damals. Aber was soll ich tun? Ihr Vorhaltungen machen? Eine Einsicht ihrerseits setzt voraus, dass sie sich voll bewusst wird, dass sie damals Mist gemacht und mitgeholfen hat."
"Danke, dass du so fair zu ihr bist. Wie lange musst du denn hier noch bleiben?"
"Am Samstag komme ich nach Hause."
"Hab schon gesehen, dass du schon halbwegs wieder gehen kannst. Tut es noch weh?"
"Nein, es ist nur anstrengend. Wenn ich tanzen kann, darf ich hier raus, sagte Volker."
"Volker, aha. Wollte gerade fragen, was die Männerwelt hier macht."
"Na was schon? Ich vernasche sie alle. Kennst mich ja."
"Diesen Volker auch?"
"Gestern." Ich sah seinen Blick. "Nein, nicht hier. Darf man ja nicht. Ich war verreist. Strandurlaub."
Piere lachte. "Du bist unverbesserlich! Zum Glück."
"Willst du mich nicht fragen wie es mit uns weitergeht?"
"Doch, wollte ich. Evelyn darf nichts mitbekommen!"
"Sie hat dich doch betrogen! Lass sie doch!"
"Nein, das macht man nicht."
"Ach Piere, du bist mal wieder zu gut für diese Welt. Vielleicht Sonntag? Wir beide? Kannst du den Lütten da unterbringen?"
"Ich versuche es, sonst melde ich mich. Mach's gut, Sandra." Er erhob sich und ging. Mich ließ er in einer melancholischen Stimmung zurück. Ja, Evelyn. Sie hatte eine Verlängerung bekommen. Genauso wie ich. Was hatte das Universum für einen Plan mit ihr? Mit mir? Ich sinnierte. Wie sollte ich weiterleben? Aber so oft ich alles Hin und Her wendete, ich kam immer zum selben Ergebnis. Ich wollte mein vorheriges Leben weiterleben. Das Nach-Uwe-Leben. Genauso wie vorher. Und ich würde endlich meine Aufgabe angehen. Aber dazu bräuchte ich mehr Fitness. Und einen Plan. Noch hatte ich keinen. Aber schieben würde ich es nicht mehr. Nicht noch einmal beim Maestro blamieren! Der Rest der Zeit hier verging wie im Flug. Am Donnerstag übte Volker mit mir Treppensteigen. Und am Freitag tatsächlich tanzen! Gut, es war nur ein Walzer, und die Bewegungen forderten mich ganz schön, aber trotzdem freute ich mich, dass ich so etwas wieder schaffte. Zum Abschied knutschte ich noch einmal mit ihm, natürlich gut aufpassend, dass wir nicht erwischt werden. Das freie Zimmer, welches Evelyn kurzfristig geerbt hatte, stammte tatsächlich von so einer Aktion, wie mir Volker sagte. Jule und Alexander hatte man erwischt und sie mussten abreisen.
Am Freitag traf ich dann beim Frühstück noch einmal auf Evelyn. Als ich mein Tablett gefüllt hatte, sah ich sie an einem Tisch sitzen, neben ihr eine Pflegerin. Ihr heutiges Frühstück war aber nicht Haferflocken, sondern Toastbrot mit Marmelade. Die Toastbrote schmierte die Pflegerin, aber essen tat Evelyn schon selber, allerdings zweihändig. Ihre Augen sahen schon ganz anders aus. Sie blitzten schelmisch. "Sand-ra. U-we. Pie-re. Jus-tus." Dann kicherte sie, wie ein Kind, welches es geschafft hatte, die ersten Wörter zu sprechen. Vielleicht hatte sie das ja tatsächlich. Allerdings betonte sie die Wörter noch falsch, nämlich auf der zweiten Silbe.
"Dessous", sagte ich, und fragte mich, wie Evelyn darauf reagieren würde.
Evelyn stockte kurz, wiederholte dann: "Des-sous."
"Ah, du weißt, was das ist, ja?"
Evelyn nickte. "Sa-chen. Schö-hön."
"Genau, schöne Sachen für darunter." Die Pflegerin, es war eine andere als die von vorgestern, schaute mich an, als ob ich 'ficken' gesagt hätte. "Sie hat mal in so einem Laden gearbeitet", sagte ich. "Weißt du vom Unfall?", fragte ich?
Evelyn schüttelte den Kopf. "Du Un-fall?"
"Ja, ich hatte auch einen Unfall. Aber erst viel später, ein anderer Unfall."
Evelyn blickte die Pflegerin an. "Satt", sagte sie.
"Na dann. Kommen Sie." Sie half ihr auf. "Tschu-us San-dra." Die beiden gingen davon. Das Gehen von Evelyn sah schon viel besser aus. Generell schien sie hier sehr schnell Fortschritte zu machen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie lange sie da so im Koma lag. Es war das letzte Zusammentreffen mit Evelyn hier in der Reha.
Der Samstag war heran und nach dem Frühstück kam mein Transporter. Er fuhr mich bis vor die Haustür. Ich unterhielt mich ganz nett mit dem Fahrer, aber da ich nicht wusste, was mich zu Hause erwartete, lud ich ihn nicht in mein Schlafzimmer ein. Vermutlich hatte er eh keine Zeit. So öffnete ich nur die Tür und traf drinnen auf ein Empfangskomitee. Alle waren da und riefen "Willkommen zurück, Sandra." Dazu waren Girlanden gespannt, fast wie zum Fasching. Und dann machten wir tatsächlich eine Party, die bis in die späten Abendstunden ging. Ich musste alles dreifach und vierfach erzählen, da einige ja nicht die ganze Historie mitbekommen hatten. Aber dann, so gegen 22 Uhr, verschwanden alle. Andrea und Lena gingen beide in sein Zimmer, und es war dann nur noch Jens da, dem irgendjemand auch Bescheid gegeben hatte, wobei ich Ellen im Verdacht hatte.
"Ich gehe dann auch mal", sagte er. Ich hatte aber andere Pläne. Piere hatte mir gesagt, dass er keine Betreuung für Junior organisieren konnte, und da unten juckte es schon wieder verdächtig.
Ich fasste ihn an den Arm und sagte: "Lust auf ein Entspannungsbad?" Er nickte.
"Warte mal!" Ich ging nach oben. Das Treppensteigen fiel mir immer noch schwer und es ging nur langsam. Ich ging in mein Schlafzimmer und suchte mir dort eines der Dessous heraus. Bläulich mit zartem Musteraufdruck und dabei durchsichtig, ein Komplettset. Ich ging wieder herunter. "Komm mit!", sagte ich. Ich ging voran in die untere Etage. Ich sehnte mich nicht nur danach, endlich wieder ein Schaumbad genießen zu können, sondern ich wollte auch einen Mann genießen. Da kam mir Jens gerade recht. Der Hüftschwung gelang mir noch nicht so recht. Aber das nach hinten zu ihm geworfene geheimnisvolle Lächeln bekam ich meiner Meinung nach schon gut hin. Ich zeigte auf einen Hocker. "Mach's dir schon mal bequem!" Ich ließ das Badewasser ein und sparte nicht mit dem Schaum. Dann zog ich mich aus. In die zu Jens hingeworfenen Blicke legte ich all meine Sehnsucht.
Und ich, da ich nun nackt war, zog mir nun ganz langsam das Dessous an. Jens war fasziniert davon, saß starr und steif da. "Weiteratmen!", befahl ich ihm. Jetzt erst wurde ihm bewusst, wie starr er da saß. Ich ließ mir alle Zeit der Welt beim Anziehen. Von Zeit zu Zeit warf ich Jens einen sehnsuchtsvollen Blick zu. Endlich war ich fertig. "Warum bist du noch nicht ausgezogen?", fragte ich, wieder zum Schein vorwurfsvoll. Ohne mich weiter um ihn zu kümmern, stieg ich in die Wanne und verwöhnte meinen Körper, also strich mir mit den Händen Schaum darüber. Am meisten natürlich über meine Brüste.
Wohlgemerkt, ich war mit dem kompletten Dessous in die Wanne gestiegen. So wie damals mit Antonio. Mein ganzer Körper kribbelte schon voller Erwartung. "Kommst du?", fragte ich Jens, der wie ein Ölgötze dastand. Endlich kam er mit rein und benutzte seine Hände, um mich in Stimmung zu bringen. Dort fummelten wir aber nur aneinander herum und trieben es anschließend auf einigen hingelegten Handtüchern. Ich wollte nicht, dass die beiden Turteltauben unsere Lustschreie hören. Dann verabschiedete ich ihn aber noch, da ich nicht wollte, dass er dann beim Frühstück entdeckt wird. So langsam kam wieder ein wenig Normalität in mein Leben, zumindest in mein Liebesleben. Den Samstag nutzte ich, um noch ein wenig zu relaxen und hier liegen gebliebene Tätigkeiten zu machen. Und am Montag fuhr ich das erste Mal wieder in meinen Laden.
Vanessa und Sanne hatten alles gut am Laufen gehalten. Nur die Entwürfe warteten auf meine Inspirationen. Die neu eingestellte Hilfskraft für Entwürfe, Stine hieß sie, hatte auch einige Entwürfe gemacht. Strickmode für junge Frauen. Es war eine ganz andere Richtung und Sanne sagte, dass die sich recht gut verkauften. Die ersten zwei Tage waren erst einmal mit Schreibkram ausgefüllt. Die beiden hatten mir zwar immer die wichtigen und dringenden Dokumente mitgebracht, aber die anderen mussten ja auch fertiggemacht werden.
Ich versuchte, wenn Zeit und Wetter passten, wieder zu Fuß zu gehen. Erst nur kurze Abschnitte, dann langsam ausweitend. Da mein Bein mittlerweile gut verheilt war, konnte ich meine Fitness rasch steigern. Ich rief Anton an, sprach eine ganze Weile mit ihm, machte mit ihm einen Aufbauplan und einen Zeitplan. Anfang Juli sollte es losgehen auf den Averau, und er würde mich begleiten. Ich freute mich schon darauf, diese Aufgabe endlich erledigen zu können, aber gleichzeitig hatte ich auch Angst davor. Nein, Angst war der falsche Begriff. Ich hatte vor der Aufgabe Respekt, hoffte aber, dass ich es schaffen würde.
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Teil14: Caroline und die vermeintliche Sichtung
An einem Donnerstag, es war ungewöhnlich viel los im Laden für diese Zeit, und alle beiden Verkäuferinnen an diesem Tag hatten gerade mit Kundinnen zu tun, sah ich eine Kundin an der Kasse stehen, die auf ihre Abkassierung zu warten schien. Ich ging zu ihr hin. Mit: "Na, was Schönes gefunden?", setzte ich meine Standardansprache ein.
"Ja, das hier gefällt mir sehr gut. Ich habe schon lange nach so etwas gesucht."
"Schön, dass sie fündig geworden sind!" Ich nahm ihr das Teil ab, gab den Preis in die Kasse ein. "Macht 84,50." Sie reichte mir Bargeld hin, einen Hunderter. Routiniert zog ich den durch das Prüfgerät.
"Es freut mich, Sie wieder so wohlauf zu sehen", sagte die Kundin.
Ich war überrascht über diese Ansprache und schaute sie mir genauer an. Noch machte es nicht Klick. "Kennen wir uns?", fragte ich sie. Aber ehe sie antworten konnte, fiel es mir wieder ein. "Jetzt weiß ich: Sie waren auch auf der Beerdigung dabei, oder? Sie sind von Uwes Firma!"
Jetzt strahlte sie mich an. "Genau. Und da sahen sie doch sehr traurig aus. Arme Frau, habe ich gedacht. Deswegen bin ich froh, sie jetzt hier zu sehen. Ich habe oft an sie gedacht, wie es ihnen wohl ergangen ist seitdem."
"Es war nicht einfach, und ... haben sie noch Zeit? Lust mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?"
"Gerne, aber müssen sie denn nicht ...?"
"Ach, die machen das schon. Ich bin ja oft nicht selbst da, und dann muss es ja auch gehen."
"Na gut. Wohin?"
"Zur Kaloriensünde. Ist gleich hier nebenan, 100 Meter."
"Klingt gut. Ich liebe solche Sünden. Sieht man, oder?"
Ich lachte, schnappte mir meine Jacke, und ging mit ihr aus dem Laden, sagte vorher aber noch: "Ja, aber es steht ihnen gut." Dieser Satz zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
"Ich bin übrigens Caroline."
"Training und Öffentlichkeitsarbeit."
"Oh, woher wissen sie das denn?"
"Uwe hatte es mir mal gesagt." Da ich nicht wollte, dass diese Caroline es mitbekommt, wieso er gezielt sie erwähnt hatte, schob ich gleich noch hinterher: "Alle, mit denen Uwe zu tun hatte. Aber nur wenige Namen sind hängen geblieben. Damals, als ich mal bei einer Firmenfeier war, da gab es dich noch nicht in der Firma, oder? Und sag doch Sandra zu mir."
"Stimmt, ich fing dort erst ein Jahr an, bevor das mit deinem Mann passiert war."
"Ich weiß auch nur von wenigen. Den Chef natürlich, Regina Schätzky, diesen ... ähm, Julian ..."
"Ach, Julian Hase vom Controlling? Ja, der ist nett. Das Controlling haben sie ja verkleinert. Da sind sie jetzt nur noch zu dritt." Das war ja interessant. Da hatte mir Julian nichts von erzählt. Aber wir besprachen damals ja auch keine Themen von seiner Arbeit. Ich wusste nur, dass dann der andere Chef geworden war, als Regina Uwes Nachfolge angetreten hatte.
"Wieso das denn?"
"Na, die ganze Firma wurde ja umstrukturiert. Die meisten Immobilien wurden abgestoßen, die Zweigstellen geschlossen oder von den neuen Käufern übernommen, für deren Gebäudemanagement."
"Und was macht ihr jetzt?"
"Ein neuer Geschäftszweig sind Projekte für erneuerbare Energie. Und außerdem haben wir Engagements in Afrika. Das ist der neue Markt, der noch im Schönheitsschlaf ist, meinte unser Vorstand. Die Zukunft!"
"Na da wünsche ich mal gutes Gelingen." Wir hatten mittlerweile das Café erreicht und nahmen Platz. Routiniert hatte ich im Vorbeigehen einen Blick auf das Kuchenbuffet geworfen. Keine neue Sorte heute. Dann würde es wohl das Stachelbeer-Baiser werden. Ich rätselte. Warum hatte mir Piere nichts davon erzählt? Ihn hatte ich schon ein paar Mal ausgefragt. Klar hatte er einiges gesagt, aber dass sie ganz neue Geschäftsfelder erschlossen haben, hatte er verschwiegen. Gekonnt verschwiegen. "Schon was ausgesucht?"
"Na, Kaffee natürlich."
"Kein Kuchen? Du bist eingeladen."
"Danke. Klar auch Kuchen. Weiß auch schon welchen."
"Lass mich raten: Stachelbeer-Baiser?"
"Nee, Tiramisu." Sie lachte. "Dann weiß ich ja, welchen du nimmst!"
"Ja, ich bin manchmal leicht zu durchschauen." Ein Kellner kam und nahm unsere Bestellung auf. Caroline sah ihm hinterher. Sie spielte nicht in seiner Liga, war auch etwa 15 Jahre älter als er, aber das schien sie nicht zu stören.
"Also, wie war das damals? Wie lange hast du gebraucht, bis die Trauer vorbei war?"
"Gar nicht mal so lange. Ich hatte Hilfe."
"Wer hatte dir denn geholfen? Eine Trauergruppe?"
"Nein, eine Anwältin. Und sein Verhalten."
"Also doch! Man munkelte ja in der Firma, dass er da illegale Sachen gemacht hat."
"Darüber darf ich nichts sagen. Es hatte eurer Firma jedenfalls nicht geschadet, falls du das meinst."
"Aber dir?"
"Mir auch nicht. Jedenfalls nicht das Finanzielle. Zumindest nicht sehr. Aber mein Vertrauen in die Menschen hatte gelitten."
Sie seufzte. "Das habe ich schon lange nicht mehr. Dieses Vertrauen in die Männer."
"Ich kann mir denken, was du meinst. Wie viele waren es denn?"
"Zu viele. Irgendwann habe ich aufgehört, zu zählen. Nun bin ich wieder solo. Seit ... etwa zwei Jahren."
"Bereust du es?"
"Im Alltag nicht." Wieder seufzte sie. Der Kellner kam mit unseren Sachen und wünschte uns einen guten Appetit. Er kurzer Blick auf mich. Ein sehr viel längerer Blick auf Caroline. Wir fingen erst mal an zu essen und unseren Kaffee zu trinken.
"Ich auch nicht." Ich schmunzelte dabei und schob mir das erste Stück vom Kuchen in den Mund. "Und was sonst so ist, das mache ich nach Feierabend. Er ist fesch, oder?"
"Was meinst du? Wen? Etwa den?"
"Genau den. Nach Uwes Tod habe ich mir so die Freizeit versüßt. Sonst wäre es sicher nicht gegangen. Jedenfalls nicht so schnell. Ab und zu kommt noch mal was hoch, auch Trauer, aber mit den Jahren ist es verblasst."
"Du triffst junge Männer? Ist es das, was du mir damit sagen willst?"
"Ja, warum denn nicht?"
"Ach, die wollen doch selber alle jüngere Frauen."
"Der Kellner nicht. Ich kenne solche Blicke. Du gefällst ihm."
"Meinst du? Vielleicht sollte ich es ja mal probieren ..."
"Ja klar. Du darfst nur nichts Längeres draus machen. Sonst hast du bald wieder dasselbe Problem."
Caroline sah nachdenklich aus. "Ich überleg's mir", sagte sie nach längerer Zeit. So ganz beiläufig haute sie etwas heraus. Genauer gesagt: Es sollte wie beiläufig klingen, aber ich war mir sicher, es war wohl kalkuliert. "Vor kurzem hatte ich gedacht, ich habe Uwe gesehen."
Im ersten Moment bekam ich einen Schreck. Dann war mir klar, das kann ja nicht sein. "Wie willst du ihn denn sehen können? Er ist tot. Tot! Hörst du!"
Auf dem Gesicht von Caroline huschte kurz ein Lächeln, dann wurde sie wieder ernst. "Das weiß ich auch. Vermutlich habe ich mich einfach getäuscht, aber im ersten Moment hatte ich wirklich gedacht, er ist es."
"Warum bist du denn nicht zu der Person hingegangen?"
"Ging ja nicht. Es war auf Ischia. Ich war schon auf der Fähre drauf, die gerade ablegte, der Typ kam von einer anderen Fähre herunter, die gerade angekommen war, und ist mit den anderen den Kai entlang gegangen. Es waren etwa 50 Meter dazwischen. Er sah aus wie Uwe, und ging auch so wie Uwe. Und der Typ hatte einen Bart."
Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Könnte das wirklich sein? Damals beim letzten Aufeinandertreffen hatte er ja auch einen Bart gehabt. Aber dann verwarf ich das sofort wieder. Die Polizei hatte alles sorgfältig geprüft und diesen Unfall hätte er nicht überleben können. "Er kann es nicht sein. Ich habe mit dem Polizisten gesprochen, der damals an der Unfallstelle war. So wie Uwe da aussah, konnte er das nicht überlebt haben. Seine Leiche wurde dann ja geborgen. Hast du da noch was gemacht? Ich meine, nachdem du den Typen gesehen hast."
"Ich hab laut 'Uwe' gerufen. Ich habe gewunken. Zaghaft zwar, da ich es selbst kaum glauben konnte, aber gewunken habe ich."
"Und wie hat er reagiert?"
"Na, er hat geguckt. Aber einige andere auch. Und dann ist er einfach weitergegangen. Die weiteren Rufe hat der Typ ignoriert."
"Siehst du. Er war es nicht."
"Ja, das war mir dann auch klar." Endlich fuhren wir nun damit fort, unseren Kuchen zu essen. Die Sache war mir auf den Magen geschlagen, aber zu essen aufhören konnte ich in dieser Situation nicht. Ich überlegte. Und erinnerte mich an Uwes Worte über Caroline. 'Sie liebt es, im Mittelpunkt zu stehen. Sie macht immer halbe Dramen aus ihren Geschichten!' So oder ähnlich hatte er über sie gesprochen. Ganz erfunden hatte sie die Sache wohl nicht. Aber trotzdem wollte ich ihrer Geschichte keine große Bedeutung beimessen. Schnell hat man sich geirrt. "Das hat dich jetzt schockiert, oder?", fragte Caroline. "Vergiss die Sache. Ich habe mich wohl einfach geirrt."
"Hattest du mal was mit Uwe?"
"Nein, nie!" Caroline schaute erstaunt. "In der Firma galt er immer als Gentleman. Es gab noch nicht mal anzügliche Bemerkungen. Selbst seine Blicke waren wohlerzogen. Und Kollegen waren für mich immer tabu. Hatte er?"
Da sie nicht rot wurde, stimmte es wohl. "So einiges ..." Mehr wollte ich nicht preisgeben.
"So ist es dann einfacher, seine Trauer zu überwinden, oder?"
"Das hatte mir geholfen, ja. Hast du so ein Kärtchen?"
"Von der Firma? Ja, hier." Sie kramte eines hervor und gab es mir. Dann sagte sie: "Ich muss mal auf's Örtchen."
Wir waren fertig mit dem Essen. Ich fotografierte das Kärtchen mit dem Handy und winkte nach dem Kellner. Er kam heran und ich bezahlte. Ich fragte ihn: "Willst du ihre Nummer haben? Ich glaube, sie ist nicht ganz abgeneigt." In seinem Gesichtsausdruck wechselten sich in Sekundenschnelle viele verschiedene Typen von Emotionen ab, dann nickte er nur und blickte sich nach allen Seiten um. Ich schob ihm verdeckt ihr Kärtchen herüber. Er verschwand mit dem Geschirr, schenkte mir aber noch einen dankbaren, freundlichen Blick. Zwei Minuten später kam Caroline wieder.
"Ich hätte dir das nicht erzählen sollen! Jetzt denkst du bestimmt ..."
"Menschen irren sich oft. Mach dir keinen Kopf, Caroline. Ich hab schon bezahlt. Übrigens, nicht wundern, falls der Kellner in der Firma anruft. Ich hab ihm aus Versehen dein Kärtchen gegeben. Bestimmt wird er es dir wiedergeben wollen." Dabei grinste ich sie an. Das Grienen einer Gewinnerin. Amors Pfeil gespannt, oder zumindest den Lustpfeil gespannt.
Caroline schmunzelte. "Danke Sandra. Auch für die Einladung. War nett, sich mit dir zu unterhalten. Nichts für ungut, ja?"
"Mach's gut." Ich umarmte sie und jeder ging wieder seiner Wege.
Ich fuhr heim, und hatte dann eine sehr unruhige Nacht. Gleich am anderen Morgen rief ich an.
"Mehnert!"
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Teil15: Polizeigeschichten
"Hallo Jens ... Herr Mehnert."
"Ach Sandra. Ist aber etwas ungünstig momentan. Wir machen gerade eine Hausdurchsuchung."
"Gut, ich rufe später noch mal durch." Ich legte auf, fuhr in meinen Laden, und rief später von meinem Büro aus an.
"Mehnert!"
"Hast du jetzt Zeit?"
"Ja, jetzt ist es besser. Gibt's ein Problem?"
"Jemand will Uwe gesehen haben." Erst einmal war Stille im Hörer. "Jens? Jens, bist du noch da?"
"Ja, bin noch dran. Musste das nur erst mal verdauen."
"Und ich erst!"
"Wie sicher ist die Sache?"
"Sehr unsicher. Sie fuhr gerade mit der Fähre los, der angebliche Uwe kam von einer anderen herunter. Zwischen den beiden fünfzig Meter Distanz. Außerdem soll die Dame zu Übertreibungen neigen."
"Na dann verbuchen wir das mal unter Irrtum. Das kann doch gar nicht sein!"
"Wie genau prüft ihr das denn?"
"So einfach wie möglich und so genau wie nötig. Bei deinem Mann Uwe hatten wir ja diesen frischen Pass mit Fingerabdrücken und ..."
"Hat euch das nicht stutzig gemacht? Ich meine, dass der kurz vorher neu ausgestellt wurde."
"Das kommt oft vor. Pass verloren, läuft demnächst ab, und so weiter."
"Und warum habt ihr keine DNA-Analyse gemacht?"
Man hörte Jens am Telefon seufzen. "Anweisung von oben. Die Kosten so gering wie möglich halten. Dann verzichtet man schon mal auf den Zahnstatus oder andere Prüfungen. Sonst hätten wir das sicher gemacht. Bei DNA Analysen hat man auch das Problem, das Vergleichsmaterial könnte manipuliert sein. Etwa einen Monat davor hatten wir genau so einen Fall. Da hatten wir uns richtig über diesen Pass mit den Fingerabdrücken gefreut."
"Verstehe."
"Bist du jetzt wieder beruhigt?"
"Ja. Glaube schon."
"Es wäre ja auch sehr schwierig unterzutauchen. Man braucht gefälschte Dokumente. Und irgendwer würde ja auch den Toten vermissen, wenn es jemand anderes ist."
"Genau das hatte ich auch gedacht. Hast recht. War Quatsch gewesen, dich deswegen anzurufen."
"Ach Sandra, ich freue mich immer, wenn ich deine Stimme höre."
"Das werde ich Ludmilla ausrichten." Man hörte richtig seine Enttäuschung aus dem Telefon heraus, da musste er gar nichts dazu sagen.
"Deine Stimme höre ich auch gerne." Das war ja klar, dass er noch mal einen Versuch macht. Aber eigentlich wäre ich nicht abgeneigt. Seit dem Unfall hatte ich alles heruntergefahren, außer dem Intermezzo mit Volker und dem mit Jens in der Badewanne bei der Rückkehr-Willkommensparty, und auch wegen der Jahreszeit. Aber die Narbe am Bein könnte ich als Ludmilla tatsächlich prima tarnen oder verstecken. Mit blickdichten Nylonstrümpfen.
"Sie hatte schon nach dir gefragt. Samstagabend hätte sie Zeit. 18 Uhr. Leider hast du ja schon was anderes vor."
"Was anderes? Das wüsste ich aber."
Ich kicherte. Bestimmt hatte er jetzt einen Schreck bekommen. "Da wolltest du dich doch mit mir treffen. 20 Uhr. Schon vergessen?"
"Ähm ... ähm." Scheinbar schien er so schnell keinen Ausweg zu finden. Dann doch. "Ich hab's! Ich beeile mich mit Ludmilla. Dann müsste es gehen. Oder?"
"Ich freue mich." Dann legte ich auf. Ein klein wenig Ungewissheit würde nicht schaden. Aber ich würde die Termine wahrnehmen. Beide! Als der Samstag herankam, machte ich mich schön zurecht. Der Pelzmantel kam wieder zum Einsatz. Darunter hatte ich dieses Mal ein schönes himmelblaues Set angezogen. Die Nylons in Schwarz, blickdicht, als Schuhe High Heels. An das Autofahren mit den Dingern hatte ich mich längst gewöhnt. Ich kam an, stieg aus. Jens wartete schon auf mich, warf mir einen bewundernden Blick zu. Ich blieb vor ihm stehen, sah ihn sehnsüchtig an. Quatsch, nicht nur wie, ich war sehnsüchtig. Aber gerade noch rechtzeitig bekam ich die Kurve. Er hatte schon seinen Kopf in Bewegung gesetzt, um mich zu küssen.
"Heute 80 Euro nur", sagte ich in meinem angewöhnten russischen Akzent. Eine kurzzeitige Enttäuschung im Gesicht von Jens wurde schnell von einem Lächeln abgelöst.
"Wie kommt's?", fragte er.
"Mengenrabatt. Nur für dich geben!"
Jetzt grinste er regelrecht, und ich sagte: "Reinkommen. Schnell bringen hinter uns. Habe Verabredung noch." Ich schmunzelte, stieg dann wie üblich vor ihm die Treppe nach oben, damit er meinen wackelnden Po sehen konnte. Unbehelligt schaffte ich es nicht. Schon auf der Treppe fasste er mir zwischen die Beine, und ich genoss es. Schon bevor wir ins Zimmer hineingingen, gab es die erste Knutscherei. Ungewöhnlich, aber selbst ich konnte es heute kaum aushalten. Nach all der langen Zeit dringend nötig! Keine Minute später wälzten wir uns schon im Bett. Ich behielt den Pelzmantel an, das gab mir einen besonderen Kick, Jens aber auch. Heute hielt er echt lange durch. Mein Preis heute war exakt die Zimmerkosten. Für anschließend hatte ich aber in einem Restaurant reserviert und würde ihm somit alles zurückgeben. Befriedigt lagen wir dann beide auf dem Bett. Ich seufzte. "Jetzt los müssen. Habe Verabredung noch."
Jens grinste. "Nimmst du mich mit? Ich habe auch eine Verabredung. Wohnt ganz in der Nähe."
"Ausnahmesweise kann machen ich das." Jens zog sich an, ich hatte ja noch alles an, musste nur die Kleidung wieder zurecht zupfen, dann gingen wir aus dem Hotel, dann in mein Auto. Während der Fahrt griente ich Jens mehrmals an. Es war schon dunkel, aber auch im Licht der Straßenlaternen hätte er das sehen müssen. Dann kamen wir an. "Bleiben drinnen", sagte ich. "Verabredung für dich gleich kommen." Ich ging in mein Haus, zog mich auf die Schnelle um, und dann fuhren wir in eine Gaststätte am Stormarnplatz, nicht weit weg also. Wir unterhielten uns ganz allgemein über seine Arbeit, auch von einigen schon abgeschlossenen Fällen. Und Jens fragte mich aus, was meine Arbeit denn so beinhaltet. Das erste Mal übrigens, dass er danach fragte. Entwickelte er ein echtes Interesse an mir? Und am Schluss nahm ich ihn mit zu mir. Bis in mein Schlafzimmer. Jetzt hatte ich doch ein wenig Bammel. Ich zog mich aus. Jens schaute mir gespannt zu.
"Du bist so schön!", sagte er, als ich nackt vor ihm stand.
"Das war einmal. Schau dir doch mal mein Bein an! Ich bin jetzt hässlich. Verstümmelt und hässlich!"
"Bist du nicht!" Jens trat an mich heran, kniete sich vor mich hin, und streichelte an meinem immer noch verunstalteten Bein von unten nach oben, was ein leichtes Kribbeln bei mir erzeugte.
"Na, schön sieht das nicht mehr aus."
"Mach dich damit nicht fertig! Du bist immer noch schön! Und begehrenswert! Bei mir hast du nichts an Attraktivität eingebüßt. Außerdem, sagtest du nicht, dass du noch zu einem Schönheitschirurgen willst?"
Ich schreckte hoch. Stimmt. Darum hatte ich mich noch nicht gekümmert. Ich müsste da mal einen Termin machen. Und endlich, auch wenn es schwerfällt und momentan kalt ist, meine Wanderungen wieder aufnehmen. Mein Bein durfte ich ja wieder belasten. Nur den Selbstverteidigungskurs sollte ich noch verschieben, sagte man mir. Es würde noch dauern, bis man es wieder stark belasten könnte. Aber schnell waren meine Gedanken wieder bei Jens. Ich zog ihn aus, wir gingen ins Bett, und nach viel Streicheln hatte ich es sogar geschafft, dass er noch mal konnte. Am Morgen danach war es natürlich lustig. Obwohl es Sonntag war, Andrea wurde früh wach und hatte Lena im Schlepptau, als wir beide schon beim Frühstück waren.
"Oh! Wer ist denn gestorben?", fragte er Jens. An Lena richtete er: "Er arbeitet doch bei der Kripo. Es hatte damals mit meinem Onkel zu tun. Und mit Marios Attacke auf Sandra auch. Oder?"
"Stimmt genau, Watson", antwortete Jens.
"Gibt's denn Neues von meinem Bruder?"
"Ist abgetaucht, wie vom Erdboden verschwunden. Mehr darf ich aber nicht sagen." Er seufzte. "Ich muss jetzt auch los. Ihr könnt jetzt Sandra wieder übernehmen." Mit diesen Worten verschwand er, nachdem er mir noch ungeniert einen Kuss gegeben hatte.
"Seid ihr jetzt ein Paar?", fragte Lena mich.
Ja, waren wir ein Paar? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht im Moment. Aber wir harmonierten gut und ich mochte ihn. "Heute Nacht waren wir das. Alles Weitere wird sich ergeben."
"Ach?", sagte Andrea nur. Dann wechselten sie zum Glück das Thema und erzählten von einem kleinen Aufruhr im Konservatorium, weil ein Professor meinte, unbedingt größere Änderungen vornehmen zu müssen, und was sie dagegen schon in die Wege geleitet hatten. Anschließend zog ich mich warm an und machte meine Wanderrunde. Ich war ziemlich fertig am Ende. Das kann ja heiter werden, dachte ich. Schon am anderen Tag suchte ich mir das von Karsten überreichte Kärtchen heraus, und rief bei der Schönheitsklinik an. Ich bekam einen Termin zur Begutachtung, aber die OP würde frühestens im Sommer sein können, sagte man mir gleich. Hohe Auslastung, sagten sie. Nun ja, so lange würde ich wohl schon über die Runden kommen.
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Teil16: Ischia und das Vorprogramm
Die Sache mit der vermeintlichen Sichtung ließ mir irgendwie keine Ruhe. War das wirklich möglich? Aber die Fingerabdrücke im Pass! Ischia? Eine Touristeninsel. Die Gefahr war hier ziemlich groß, auf Deutsche zu treffen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Caroline sich einfach geirrt hatte, war vermutlich sehr hoch. Trotzdem wollte ich der Sache auf den Grund gehen. Ich buchte mir daher spontan eine Woche Urlaub auf Ischia, mehr gab die momentane Situation im Geschäft nicht her. Samstag zu Sonntag in der anderen Woche. Am Samstag nahm ich eine der ersten Verbindungen mit Umstieg in Frankfurt und war schon etwa zur frühen Nachmittagszeit dort in Neapel. Meine Unterkunft in Ischia hatte ich erst ab morgen gebucht. Ich hatte noch etwas anderes vor.
Ich holte meinen bestellten Leihwagen ab, kaufte noch ein, und fuhr los. Ich wusste nicht genau, wo es war, hatte aber ungefähr eine Ahnung, und hatte mich nicht geirrt. Etwa um 3 Uhr nachmittags stand ich vor dem bekannten Haus und klingelte. Es machte aber niemand auf. Ein wenig war ich zuerst enttäuscht. Aber dann hatte ich die Idee, ums Haus herumzugehen. Da sah ich sie im Garten arbeiten. Ich ging einfach zu ihr hin. Noch hatte sie mich nicht entdeckt. "Hallo Janine", sagte ich.
Janine blickte überrascht auf, dann richtete sie sich auf, lächelte mich an, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Hallo Sandra. Ich hätte ja nicht gedacht, dich noch mal wiederzusehen, aber ich freue mich. Willkommen in meinem Reich. In unserem." Dann trat sie an mich heran und umarmte mich herzlich.
"Ricardo wohnt also immer noch bei dir? Hat er noch keine neue Freundin?"
Sie schaute etwas betrübt. "Doch, er hatte dann eine, aber das ist schon wieder vorbei. Die jungen Frauen heutzutage ..."
Ich lachte. "Ich kann mir denken, was du meinst. Forderungen ohne Ende, aber selber Flausen im Kopf."
Janine griff den Ball auf. "Und, und, und ...! Wollen wir hereingehen? Ricardo müsste auch gleich kommen. Er musste heute arbeiten, hat aber Frühschicht."
"Gerne. Dieses Mal komme ich weder mit gefesselten noch mit leeren Händen. So kann ich mich endlich bei dir, bei euch bedanken!" Wir gingen zum Haus, dort drumherum zur Vorderseite, ich ging zum Leihwagen und holte meine Geschenke heraus. Groß einpacken konnte ich sie nicht, und auch kein Schleifchen drum machen, aber das würde Janine wohl nicht stören. Ich überreichte es. "Bitteschön. Als Dank für deine Gastfreundschaft letztens."
"Danke schön, Sandra. Also das hättest du doch nicht müssen, aber ich kann es tatsächlich gut gebrauchen!" Bei meinem 'Besuch' war mir aufgefallen, dass die Handtücher und Duschtücher mal eine Auffrischung vertragen könnten, aber vermutlich hatte Janine das Geld dafür gefehlt. Ich hatte zwei umfangreiche Sets gekauft, richtig edle Teile, so hatte sie auch was zum Wechseln und auch genug dafür, wenn mal Besuch kommt. "Komm rein!"
Wir gingen ins Haus und Janine geleitete mich gleich in die Küche. Es duftete schon nach Essen. "Oh, heute keine Nu ... Pasta? Riecht nach Pizza."
"Du bist eine richtige Spürnase. Ich hoffe, du magst das. Heute mit Rucola und Pilzen. Bist du denn mit deiner anderen Spürnasengeschichte weitergekommen?"
"Ja, diese Pizza passt gut. Und ja, bin ich. Hätte mich fast das Leben gekostet."
Sie erschrak. "Sandra! Was machst du für Sachen?"
Ich tat betont cool. "War ja nicht geplant. Aber der Typ, den ich gesucht hatte, mein zweiter Stiefsohn, wollte mich umbringen. Tatsächlich habe ich das dann aber fast selber geschafft."
"Sandra, du bist absolut kein Typ für Selbstmord!"
"Es war keiner! Aber mit dem Auto dem Typen hinterher zu rasen, war dann keine gute Idee." Ich zeigte auf mein Bein, das noch deutliche Spuren des Unfallgeschehens zeigte.
Janine war jetzt doch ein wenig erschüttert. "Das hättest du nicht gedacht, oder? Dass deine Nachforschungen in eine solche Richtung gehen."
"Nein, wahrlich nicht." Plötzlich höre man die Tür klappern. Jetzt kommt Ricardo, dachte ich. Ich hatte ein wenig Bammel vor dem erneuten Zusammentreffen, da ich nicht wusste, wie er auf meine damalige Unterschlagung reagieren würde. Oder auf unseren Ohne-Night-Stand im Hotel. Tatsächlich tauchte dann aber jemand anderes auf. Ein Mann, breitschultrig, wettergegerbtes Gesicht, lockige Haare, in die sich schon einige graue Strähnen gemogelt hatten, etwa 50 Jahre alt. Vermutlich so ein Typ Richtung Bauer oder Bauarbeiter.
"Oh, Visita", sagte er erstaunt.
"Das ist Sandra. Sie ist eine Gefangene von Ricardo, also sie war es mal. Dann haben sie sich aber ausgesöhnt." Dann übersetzte sie das Gesagte aber für ihn ins Italienische. Und zu mir sagte Janine: "Das ist Antonino. Er ist Maurer und wohnt im Haus gegenüber. Er ist Witwer und ich koche manchmal für ihn. Eigentlich in letzter Zeit sogar ziemlich oft." Mit diesen Worten trat sie an ihn heran und gab ihm einen richtigen, langen und innigen Kuss.
"Angenehm." Ich kramte mein Italienisch aus meinen hintersten Gehirnwindungen. "Ciao. Sono contento."
Er lachte auf, sehr sympathisch. Er sagte etwas auf Italienisch zu mir. Janine übersetzte. "Das müssen wir aber noch ein wenig üben, hat er gesagt. Du sagtest nämlich zu ihm: Hallo. Ich bin glücklich." Janine lachte auf.
Auch ich musste nun lachen. "Das bin ich doch auch. Und ich bin glücklich, dass du wieder jemanden hast."
"Ich auch", sagte Janine, übersetzte ihm, und dann hörte man wieder die Tür. Ricardo kam herein, sah mich, und erstarrte.
"Was will die denn hier?", sagte er. Gleich darauf griente er aber und fügte an: "Hätte ich früher gesagt. Heute sage ich: Hallo Sandra. Schön dich mal wiederzusehen. Wie geht es dir?"
Ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf. "Für den ersten Satz: ich hatte Sehnsucht nach dir. Und das andere: Es geht mir gut. Wieder. Ich habe gerade Urlaub. Morgen geht's nach Ischia und ich dachte, ich fahre mal vorher vorbei, bedanke mich, und so weiter."
Ricardo hatte den etwas versteckten Hinweis erfasst. "Wieso wieder?"
Ich zeigte auf mein Bein. "Solco."
"Oh. Ich habe mitbekommen, dass nach dem gefahndet wird, da er eine Frau in Deutschland angegriffen haben soll. Wusste nur nicht, dass du das warst. Aber es freut mich, dass es dir wieder gut geht."
Janine übersetzte immer für Antonino, und die Blicke, die sich beide zuwarfen, sagten mir, dass beide gecheckt hatte, dass unser Gespräch auch so etwas Ähnliches wie Flirten war. Sehr versteckt zwar, aber es war Flirten. "Bist du noch sauer wegen der Unterschlagungen damals?", fragte ich ihn nun.
Er schaute mich streng an. "Da werden wir noch drüber reden!"
"Ohne mich hättet ihr das weggeworfen. Und weißt du, was ich für einen Aufwand betrieben habe, das geschredderte Papier zusammenzusetzen?"
"Nein, aber ich kann es mir denken. Aber das Handy ..."
"War sehr aufschlussreich. Zumindest für mich. Für die Polizei war es wohl weniger interessant. Die haben aber alle Daten bekommen, die dort darauf waren."
"Ich denke, wir essen jetzt erst mal", sagte Janine, wohl auch, um eine drohende Eskalation im Keime zu ersticken. Sie holte die Pizzen aus dem Ofen, es war ein ganzes Blech, schnitt sie klein, und tat jedem was auf den Teller. "Guten Appetit! Buon appetito!"
Wir machten uns nun über das Essen her. Janine fragte mich zwischendurch aus, wie es mir an Uwes Unfallstelle ergangen ist, und Ricardo dann, wie es damals mit den Unfallzeugen war. Es war auch für ihn ein wenig Überraschendes dabei. Das mit der von Madeleine gesehenen dritten Person verschwieg ich erst mal. Dann erzählte ich von dem Angriff auf dem Friedhof, und meinem Unfall. Es ließ sich nicht vermeiden, dass dabei einige Tränen in meine Augen kamen, aber ich fing mich wieder, bevor es zu schlimm wurde.
"Er ist dann nicht noch mal aufgetaucht, oder?", wollte Ricardo dann wissen.
"Einmal Polizist, immer Polizist, oder?" Ich zog ihn damit hoch, es funktionierte, wie man an seinen hochgezogenen Augenbrauen sehen konnte. "Nein, zum Glück nicht. Aber irgendwann wird er es vermutlich."
"Pass bloß auf", sagte Ricardo.
"Ich hab schon gemerkt, dass mit ihm nicht zu spaßen ist. Aber nützt ja nichts. Es ist zu spät und er weiß von mir."
"Du solltest echt vorsichtiger sein", sagte Ricardo zu mir.
"Gut, werde ich mir ausrichten." Ich grinste ihn dabei an. Zwischen uns sprühten mal wieder die Funken. "Könnte er sich denn hier in Italien verstecken?"
"Das ist sogar ziemlich wahrscheinlich. Ich tippe auf Neapel. Das ist ein Moloch. Da kann man sich als Krimineller gut verstecken."
Janine übersetzte immer noch für Antonino, aber ich hatte das Gefühl, dass sie dabei einiges wegließ. Jetzt schaute sie mich an und fragte: "Wo übernachtest du denn heute?"
"Ach, ich suche mir nachher wieder ein Hotel in Salerno oder eines in Neapel."
"Kommt nicht infrage! Natürlich übernachtest du hier! Es sei denn, du willst nicht."
"Doch, natürlich, gerne."
Janine schmunzelte. "Siehst du." Sie schaute Ricardo an. "Und du hast noch eine Aufgabe. Du zeigst bitte der Sandra die Sehenswürdigkeiten von Salerno. Die kennt Sandra bestimmt noch nicht. Oder?"
Das Zwinkern, welches sie machte, konnte Ricardo nicht sehen, da er gerade mich anschaute. Er schien nicht so recht zu wissen, wie er darauf reagieren sollte, denn er machte keine Anstalten, zuzusagen, und Janine schob dann hinterher: "Jeder liebe Sohn würde sich um diese Aufgabe reißen."
"Mach ja schon, Mutti", sagte er endlich, und glotzte mir dann auf mein figurbetontes Oberteil, ein Blick, der ihm vermutlich gar nicht bewusst war, mir aber sagte, dass er einem neuerlichen Abenteuer nicht abgeneigt war.
"Und nimm den Schlüssel mit, ich schlafe heute drüben bei Antonino. Wir wollen da noch einen aufgenommenen ... Spätfilm schauen." Wieder dieses Augenzwinkern. Ich hoffte, Janine wusste, dass es höchstens ein One-Night-Stand werden würde. Aber Ricardo hatte es jetzt wohl gefressen und seine Miene wandelte sich in einen Typ Gesichtsausdruck, als wäre die heute Nacht kommende Sache bereits passiert.
"Dann komm mal mit, Sandra. In Salerno gibt es viel zu sehen."
"Ich muss aber vorher noch für kleine Verbrecherjägerinnen!" Fast hätte sich Ricardo verschluckt, als ich das sagte. Wir fuhren dann los. Er zeigte mir wirklich viel. Am Schluss, bevor wir heimfuhren, in der Nähe eines Parks, gingen wir noch in ein Café und stärkten uns. Dort erzählte ich Ricardo noch die ganzen Details meiner 'Ermittlungen' und des Zusammentreffens mit Mario. Und da gerade Krimi-Time war, gleich noch die Sache mit Angelika, Markus, und dem Apotheker-Ehepaar mit. Ich brachte ihn damit ein ums andere Mal zum Staunen. "Man könnte meinen, du bist Kommissarin", meinte er.
"Vielleicht bin ich das ja auch. Interne Ermittlerin. In geheimer Mission in Italien." Dabei grinste ich ihn aber so megamäßig an, dass er wissen müsste, dass es Quatsch war. Ich hielt ihn immer am Köcheln, so auf kleiner Flamme, hier mal eine zufällige Berührung, da mal ein An-ihn-Drücken, eine flapsige Bemerkung, ein Lächeln, ein Augenaufschlag. Was eine moderne Frau eben heutzutage so im Repertoire hat. Und es wirkte! Als wir im Auto saßen, schauten wir uns an, und gingen ansatzweise ins Knutschen über. Erst nach irgendwie einer Viertelstunde oder so fuhren wir nach Hause, Pardon, zu ihm. Im Haus war tatsächlich sturmfreie Bude. Ich schaute kurz ins Besucherzimmer. Das Bett war zwar gemacht, aber ich war mir sicher, Janine ahnte, dass ich die Nacht im Bett von Ricardo verbringen würde. Ich überlegte mir, wie ich ihn am besten verführen könnte. Dann setzte ich aber an meiner behaupteten Legende an. Ich ging einfach hinter ihm her, im Zimmer zog ich die Tür zu, schaute ihn provokant an.
Ricardo kam bis auf wenige Zentimeter an mich heran. Aber anstatt ihn zu küssen, sagte ich: "Willst du nicht nachsehen? Vielleicht bin ich ja verkabelt." Er griff nun nach mir, aber ich wich zurück. Mehrfach. Bis es nicht mehr weiterging, da ich an der Wand seines Zimmers angekommen war. Er drängte sich an mich. Schweres Atmen von beiden Seiten. Seine Hand ging nach unten. Erst auf meiner Rückseite, ging tiefer, unter den Rock, dann wieder höher, bis er genau zwischen meinen Beinen gelandet war. Ich konnte ein kurzes Aufstöhnen nicht unterdrücken. Wieder knutschten wir, dann drehte er mich sehr unsanft und drückte mich wieder an die Wand. Seine Hand tastete meinen Busen auf Abhörtechnik ab, und um sicherzugehen, schaute er auch an der gefährlichsten Stelle nach, indem er seine Hand in meinen Slip schob. Da war tatsächlich Abhörtechnik verborgen, biologische Technik, die erkundete, wie scharf er auf mich war. Und die meldete höchste Alarmstufe.
Stöhnend und knutschend landeten wir dann auf seinem Bett, wälzten uns herum, entledigten uns unserer Kleidung. Da wir dieses Mal beide viel Zeit hatten, war es auch nicht so schnell vorbei wie letztes Mal im Hotel. Erst irgendwann weit nach Mitternacht schliefen wir dann endlich aneinander gekuschelt ein. Frühmorgens hörte ich Geräusche. Türen, die leise klapperten. Dann Geschirr, eine blubbernde Kaffeemaschine. Ich schaute zur Seite. Da lag Ricardo, er hatte immer noch seine Augen geschlossen, und ich lag in seinen Armen. Ich befreite mich von ihm, und zog mir mein Kleid an, ging ins Bad. Janine hatte Handtücher herausgelegt, welche von dem von mir geschenkten Set. Ich duschte, dann huschte ich in Ricardos Zimmer, wo meine Handtasche lag, zog mir meinen BH und den Reserveslip an, dann meine Schuhe, und schlich leise hinunter.
"Guten Morgen Janine."
"Oh, Sandra. So früh wach. Kommt Ricardo auch?"
"Ich werde immer früh wach. Er schläft noch."
"Du hast ja dein Bett gar nicht benutzt!"
"Ich ... mir war kalt, ich brauchte jemanden zum Wärmen."
Janine lachte. "So nennt man das heute also. Keine Angst, ich habe kein Problem damit, wenn mein Sohn mal mit einer Frau schläft, die fast seine Mutter sein könnte. Vielleicht sollte er sich mal so eine als Freundin nehmen."
"Geht bei mir leider nicht."
"So war das auch gar nicht gemeint. Komm, setz dich. Bestimmt möchtest du Frühstück." Ich setzte mich hin, erzählte, was Ricardo mir alles gezeigt hatte, dann noch einige weitere Details aus meinem Leben. Und ich erfuhr von Janine, dass sie manchmal halbtags in einer Kita arbeitete und außer der Bewirtschaftung ihres Hofes auch noch bei mehreren Familien putzte. Sonst würde sie nicht über die Runden kommen. Die Zeit verging, und ich musste dann langsam los, damit ich noch rechtzeitig eine Fähre zur Insel Ischia bekam. Nach dem Toilettengang schaute ich ins Zimmer rein. Ricardo schlief leider immer noch. So drückte ich nur einen Lippenstift-Kussmund auf einen Zettelblock mit Notizen, bedankte mich und verabschiedete mich von Janine, und war am späten Nachmittag auf der Insel angekommen. Mein Hotel dort war mit Bedacht ausgewählt. Ich hatte ein Zimmer mit Balkon, von dem aus ich die Hafenbalustrade im Blick hatte. Allerdings wollte ich hier nicht dauerhaft lauern.
Tagsüber war ich überall auf Achse, schaute mich in allen größeren Orten um, wanderte auch ein wenig herum, mied aber die typischen Touristenhotspots wie St. Angelo & Co. oder das Castello Aragonese. Wer sich verstecken will, wird da ganz sicher nicht aufkreuzen. Viel zu schnell war die Woche vorbei, kein toter Uwe zu sehen, und der lebendige Uwe erst recht nicht. Es war das erwartete Ergebnis, aber ich war nicht enttäuscht. Ich fühlte mich super gut erholt und konnte die Sache abschließen, denn zumindest hatte ich alles versucht, was für mich möglich war. Als Abschluss nahm ich am letzten Tag als kleines Schmankerl an einer Exkursion auf den Monte Epomeo teil. Nicht ohne Anstrengung, aber gegenüber dem Averau vermutlich ein Kinderspiel. Am Sonntag enterte ich nach der Rückfahrt mit der Fähre dann wieder den Flughafen, und wollte mich schon in die Schlange am Terminal einreihen, als ich auf einmal hinter mir eine Stimme hörte. "Zivilfahndung. Bitte mitkommen." Ich drehte mich um und grinste den Beamten an. Ricardo konnte froh sein, dass ich ihm keine Ohrfeige verpasst hatte.
"Gegen welches Gesetz habe ich verstoßen?", fragte ich.
"Weggang nach dem Geschlechtsverkehr ohne Verabschiedung."
"Oh, welche Strafe steht darauf?"
"Welche möchtest du denn?"
"Weiß nicht. Geschlechtsverkehr mit Verabschiedung?"
"Klingt akzeptabel. Komm mit." Er ging voran, ich folgte. Es ging zu einem Toilettenbereich und dann öffnete Ricardo die Behindertentoilette. Wie immer leer. Wir gingen hinein und schlossen zu. Ich stellte mich an eine Wand und Ricardo kam an mich heran. Wildes Knutschen folgte, Hormone fluteten meinen Körper, besonders dieses Glückshormon, und es folgte ein ziemlich lauter Quickie, welcher genau richtig war, um die sexlose Zeit auf Ischia vergessen zu machen. Wellen des Glücks durchliefen meinen Körper, selbst dann noch, als ich meine Kleidung und meine Frisur wieder in Ordnung brachte. "So, Frau Ermittlerin, Sie wollen jetzt also wieder nach Hause."
"Ganz recht, Herr Kollege. Die weiteren Ermittlungsergebnisse werde ich ihnen mitteilen. Danke für die ... Zusammenarbeit."
Ricardo grinste. "So muss Verabschiedung sein, Frau Kollegin. Gute Heimreise." Dann kam aber noch mal eine kleine Knutscherei, so viel Zeit musste sein. Ricardo öffnete die Tür. Die Luft war rein. Wir gingen raus, Ricardo ging aus dem Terminal, nicht ohne sich noch einmal nach mir umzusehen, und ich war zwei Stunden später in der Luft. Mission beendet, kam mir in den Sinn.
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Teil17: Die Entschuldigung
Irgendwann einige Wochen später kam ein Anruf von Piere. Ich hatte keine Ahnung ... war Evelyn schon bei ihm zu Hause? Ich meldete mich daher mit "Neuhaus."
"Ach, Frau Neuhaus. Genau sie wollte ich sprechen", sagte Piere, der selbst am Apparat war, und sich vor Lachen kaum einkriegen konnte. "Was halten Sie denn davon, wenn wir mal demnächst vorbeikommen?"
"Oh ... wer ist denn wir? Justus und du?"
"Nein, Evelyn. Sie wollte ..."
"Evelyn? Zu mir?"
"Ja. Sie macht rasante Fortschritte. Natürlich ist sie noch nicht wieder die alte Evelyn, wird sie vielleicht nie mehr, aber es ist schon viel besser geworden."
"Und was will sie? Kann sie sich jetzt wieder an die Sachen erinnern? An den Unfall auch?"
"Teilweise kann sie sich erinnern. Deshalb wollte sie jetzt mit dir sprechen. Vom Unfall hat sie aber keine Erinnerung. Ich hab es ihr aber gesagt."
"Sie will mit mir sprechen?" Meine Stimme musste da sehr skeptisch geklungen haben.
"Ja, sie möchte unbedingt mit dir sprechen. Und sich vor allem bei dir entschuldigen. Das mache ich jetzt nicht für sie, denn sie wollte es selbst machen."
"Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich weiß noch nicht. Ich überleg's mir, ja? Sag mal: Weiß sie von uns? Ich meine, von unseren intimen Treffen?"
Die Pause war sehr lang. "Ja, weiß sie." Ich sagte dazu nichts. War mir auch egal. Das war eine Sache zwischen ihr und ihm. "Gut Sandra. Du meldest dich, ja?"
"Mache ich." Er legte auf. Das kam jetzt sehr überraschend. Hatte Evelyn überhaupt eine Ahnung, wie es innen in mir aussah? Und dann bekam ich einen Schreck. Konnte sie sich jetzt wieder an meine Beschimpfungen erinnern? Was, wenn meine Wut dort ausbricht? Oder Evelyn Wut bekommt? Ich musste jemanden Außenstehendes fragen, rief Ellen an.
"Na Süße, hast du Sehnsucht nach meiner Stimme? Mehr gibt's ja von mir nicht mehr."
"Stimme und Meinung würden mir schon reichen."
"Was hast du denn wieder angestellt?"
"Dieses mal gar nichts. Piere will vorbeikommen. Evelyn wird auch dabei sein und will mich sprechen."
"Oh!"
"Ja, oh. Ich tendiere zu nein."
"Wie schätzt du dich denn ein? Wirst du sie am Leben lassen? Hast du deine Wut im Griff?"
"Das ist ja das Problem! Ich kann es nicht einschätzen."
"Vielleicht solltest du es wirklich probieren. Das kann doch nicht ewig so weitergehen! In der Reha-Klinik ging es ja auch."
"Meinst du wirklich?"
"Ich habe eine Idee. Wenn ihr kleines Kind dabei ist, wirst du ihr nichts tun. Oder?"
"Da hatte ich gar nicht dran gedacht. Ja, das könnte funktionieren."
"Siehst du! Dann mach es!"
"Mit Herzklopfen. Danke für deinen Tipp, Ellen."
"Bis bald, Sandra. Und gib Bescheid, wie es gelaufen ist."
"Mache ich." Ellen legte auf. Puh. Ich schlief noch eine Nacht darüber, dann sagte ich Piere zu, verlangte aber, dass das Treffen bei ihnen stattfindet und dass Evelyn ihren Sprössling dabei hat. Den Sinn des Gespräches würde er noch nicht verstehen. Als der Tag heran war, zog ich mich an, nicht allzu schick, schon gar nicht sexy, jedenfalls Letzteres nur in Ansätzen, fuhr hin, klingelte, und wartete. Ich hatte riesiges Herzklopfen, es wurde geöffnet. In der Tür standen Piere, dieses Mal sehr leger gekleidet, und Evelyn, auch leger gekleidet, also anders als die paar Male, als ich sie damals gesehen hatte. Ich begrüßte Piere und dann auch Evelyn. Wir gingen rein.
Piere schaute von Evelyn zu mir, und zurück. "Ich bleibe hier unten", sagte er.
"Komm mit ins ... Kinderzimmer", sagte Evelyn, in einem harmlos erscheinenden Tonfall, und schaute mich dabei ernst an. Ihre Sprache war jetzt aber ganz anders. Sie sprach langsam, musste manchmal nach dem richtigen Wort suchen, und setzte die Betonung öfters falsch. Aber es war schon viel besser als die paar kaum zu verstehenden Worte damals in der Reha. Evelyn ging vor. Ihr Gang war wieder nahezu normal, fast könnte man sexy dazu sagen. In der Hinsicht war sie wieder fast die alte Evelyn. Wir gingen hinein. Evelyn blieb stehen und schaute mich an. Ihr Kleiner spielte und redete dabei mit seinen Spielfiguren. "Ich will mich entschuldigen, Sandra. Das ... unentschuldige ... unentschuldbare. Das hätte ich niemals tun müssen ... dürfen. Ich hoffe, du kannst mir irgend ... irgendwann verzeihen."
Ich ging erst mal nicht darauf ein. "Hat Piere dir gesagt, dass du vielleicht Schuld am Unfall hast, bei dem Uwe gestorben ist? Du hast ihn nicht nur verführt, sondern auch auf dem Gewissen! Vermutlich." Meine Stimme klang jetzt härter, als ich wollte, und selbst Justus bekam es mit und schaute mit seinen großen Augen von mir zu Evelyn.
"Ich weiß nichts mehr davon, aber Piere hat mir davon gesagt ... erzählt. Ich fühle mich so schuldig. Und ich weiß, dass alles ist schuldigbar ... unentschuldigbar. Ich hoffe, du kannst zuviel zu viel ... zumindest noch meine Anwesenheit ertragen."
"Ich versuche es gerade, auch wenn es mir sehr schwerfällt, wie du dir vermutlich denken kannst. Was weißt du denn noch?"
"Vom Anfang relativ ... noch ziemlich viel. Ich habe Uwe schicke Augen gemacht und hatte Aufmerklichkeit. Seine ... Aufmerksamkeit. Dann hatte er mich eingegangen ... eingeladen. Ich glaube, es war seine Vermutung ... Idee, miteinander durchzugehen ... brennen."
"Aber du hattest doch Piere!"
Evelyn senkte ihre Augen, dann auch den Kopf, einige Sekunden lang. Wie schämen. "Ja. Aber Uwe war anders. Kind im Kopf. Das hatte ... mir gefallen. Das Anders-Gewesen. Ich hab mich so gegehrt ... begehrt gefühlt wie lange nicht ... nicht mehr. Es war anders als ... nicht alles schlecht mit ... Piere. Ich hatte ... gesprochen ... geredet mit Piere."
"Du meinst, dieses Anders-Sein von Uwe hatte dir gefallen, ja?"
"Ja, genau das. Ich kann mich noch an ... gesprochene Pläne erinnern. Dann ein Flug. Weiß nicht ... Paris?"
"Es war wohl Marseille gewesen. Niemand weiß genau, was passiert ist, aber der Mann von der Zweigstelle konnte sich später dran erinnern, dass sich eine blonde Frau - also vermutlich du - an ihn herangemacht hat, mit ihm geflirtet hat, dann betrunken gemacht hat, und mehr wusste er nicht mehr."
"Ja, dann ... eben das. Ich hatte da getrunken. Im ... in Bar. Mit diesem Mann. Groß, Vollbart. Anfangs wusste ich gar nichts mehr von ... was getan, aber nach ... nach kam eine Erinnerung wieder, mindestens an einiges."
"Hat Piere dir gesagt, dass du ihm vermutlich K.-o.-Tropfen hineingeschüttet hast?"
"Hab ich ... hat Piere gesagt. Aber ich weiß nicht davon ... mehr. Nur, nein ... dann wir waren vor dem großen ... Glaskasten."
"Der dortigen Firma. Das war aber erst später. Du hast das Handy von dem Typen geklaut und dessen PIN hast du vorher ausgespäht. Nur damit konnte man das Geld von der Firma abräumen. Womit du die Firma von Piere ruiniert hättest."
"Ja, Firma. Das Ruinieren wusste nicht ich ... ich nicht. Habe gebucht. Nein ... Uwe hat gebucht, Ganz lange. Zahlenkolonnen."
"Und dann? Was war dann gewesen?"
"Ich erinnere mich an die Donus ... nein, Donau. Ausflugsschiff. Und an dich. Wir haben ver ... gekämpft. Wir waren in diesem ... Wien. Große Stadt. Schlösser und Park ... Parks."
"Ja, und weiter ...! Was war dann weiter passiert?"
"Mehr weiß ich nicht von dort. Doch, Flucht. Nach diesem Kampf mit mir. Uwe sagte hastig wir weg müssen ... wir müssen weg. Wir haben noch so einen Fahrzeug ... Polizeiauto gesehen. Später dann diese vielen Berge. Und dieses Zürich. Großer See, viele Häuser, wie in Wien, aber anders. Nicht so schön, mehr ... unbetrunken?"
"Ach so. Du meinst, nüchterne Architektur. Und dann, woran kannst du dich in Zürich erinnern?"
"Ja, so, diese Häuser. Ich weiß noch, sind in Gaststätten vergangen ..., nein, gegangen. Und wir haben oft gemacht ... sage ich besser nicht, oder?"
"Kannst du ruhig sagen, dass du mit ihm Sex gemacht hast. Das weiß ich sowieso. Ich habe euch sogar dabei zugehört. Zuhören müssen."
"Aua. Wirklich?" Das klang wie bei einem Kind, und ihre Augen waren dabei weit aufgerissen.
"Ja, wirklich. Uwe hatte nämlich auch das Hypothekenkonto leergeräumt, welches wir für den Umbau des Hauses benötigt hätten. Nur deshalb bin ich euch damals hinterher. Ich brauchte mein Geld wieder. Ich habe Uwes Handy verwanzen lassen, und dann konnte ich euch zuhören. Ich brauchte Informationen, wie ich wieder an mein Geld komme. Und das habe ich ja geschafft. Du kannst mir glauben, es hat keinen Spaß gemacht, meinem untreuen Ehemann beim Sex zuhören zu müssen."
"Das kann ich denken ... glauben. Entschuldige."
"Was weißt du noch von Zürich?"
"Dann war Hektik, irgendwie. Ich weiß keine einzelnen ... Einzelheiten mehr. Uwe musste was anderes finden. Eine andere ... Geldsache. Dann gab es wieder Berge. Straßen. Und Meer. Schönes blaues Wasser. Später ein Haus, mit Mann. Bartmann." Ich holte mein Handy raus und zeigte ein Bild von Andrea. "Ja, der, aber mit Bart. Und mit Nabel ..., nein, Narbe heißt das. Das ist der Mann auf dem ... Bild. Nur anders. Uwe war sauer auf den ... Mann. Der andere Mann auch. Der andere ... also Uwe. Ich war auch sauer. Weiß nicht mehr, wieso. Wir waren einige Male dort an Haus ... dem Haus. Es war immer ... anstrengend. Uwe auch. Ich war sogar bitter ... nein, sauer auf Uwe, wegen diesem üblen Mann. Und mehr Erinnerung habe ich nicht. Es tut mir wirklich leid. Für alles."
"Hast du gemerkt, dass du im Pflegeheim warst? Im Wachkoma?"
"Ich war da nicht wach. Als ich wach bin ... wurde, war Piere da. Er war manchmal weg, aber immer wieder da. Auf einmal war ich ganz wach, konnte aber nichts sagen ... sprechen. Und mich nicht erinnern. Es war schrecklich!"
Ihre Augen waren jetzt wirklich schreckgeweitet. Ich war froh, dass sie nichts von meinen Beschimpfungen wusste. Oder sollte ich ihr das sagen? Vielleicht kam die Erinnerung ja wieder? Egal, es konnte ja nichts schaden, ihr mitzuteilen, wie sehr mich die Sache innerlich getroffen hatte.
"Nur dass du es weißt, ich war wirklich richtig sauer auf dich. Sauer und extrem wütend! Ich habe dich auch einige Male besucht, als du dort lagst. Ich habe dir körperlich nichts getan, aber ich habe dich übelst beschimpft, heruntergemacht, was weiß ich alles. Zwar nur mit Worten, aber trotzdem. Ich war so wütend! Irgendwie musste es raus!"
"Ich habe davon nichts ... gemerkt ... bemerkt."
"Ich will aber, dass du es jetzt weißt. Erst viel später habe ich damit aufgehört. Wegen deines Sohnes. Und wegen meines schlechten Gewissens. Das hatte ich von Anfang an, ich wusste, dass es falsch ist, habe es aber trotzdem gemacht. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, es musste raus."
"Das Gewissen hatte ich ... auch. Damals schon. Jetzt auch."
"Piere hat dir gesagt, dass wir?" Evelyn nickte traurig. "Ich will nur, dass du weißt, dass ich das nie gemacht hätte, wenn du nicht im Wachkoma gelegen hättest. Ich ahnte damals nicht, dass du jemals wieder aufwachen wirst. Ich mache nie was mit verheirateten oder sonst wie gebundenen Männern. Und ich habe keine Ahnung, ob wir uns jemals wieder unvoreingenommen gegenübertreten können, aber ich will es versuchen. Zumindest so weit, wie es geht und notwendig ist. Und halte dich künftig von allen meinen Liebhabern fern. Hast du verstanden?"
Evelyn nickte traurig. "Danke, Sandra." Sie schaute zu Justus. Er spielte immer noch weiter, aber man sah, dass er irgendwie irritiert war, und immer wieder zu seiner Mutter geschaut hatte.
"Dann gehe ich mal." Ich ging die Treppe herunter, nickte Piere nur zu, und fuhr nach Hause, hing meinen Gedanken nach. Im Nachhinein war es mir unbegreiflich, dass ich die ganze Zeit so ruhig geblieben war. Aber es war gut, diese Aussprache geführt zu haben. Irgendwie war es mir schon wichtig, die Freundschaft mit Piere irgendwie aufrechtzuerhalten, nach all dem, was wir miteinander durchgemacht hatten. Trotzdem er mir anfangs Informationen vorenthalten hatte. Aber das hatte ich dann ja auch gemacht. Vermutlich würde ich noch weitere Male auf Evelyn treffen, aber nun war ich vorbereitet. Würde sie noch weitere Bruchstücke ihrer Erinnerung freilegen können? Viel Hoffnung machte ich mir nicht. Ich glaube, sie war irgendwie auch nur ein Rädchen im Getriebe gewesen, und wusste nur Teile des Plans. Und nur noch Teile von dem, was damals passiert war.
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Teil18: Die Vorbereitung
Nachdem ich nun viele Monate trainiert hatte, und die Zeit heran war, fühlte ich mich endlich fit genug dafür, mein Versprechen, meine Aufgabe zu erfüllen. Ich hatte zwar immer noch ein wenig Bammel, gleichzeitig freute ich mich aber auch darauf. Aufbruch ins Ungewisse. Ich hatte schon einmal bei Anton vorgefühlt und er meinte, er würde das organisieren, und ich sollte eine Woche dafür einplanen, plus zwei Tage für An- und Abreise. Und diese mit dem Zug machen. Ein Novum für mich! Das letzte Mal war in meiner Studienzeit. Man hört ja so einiges von dieser Bahn. Zumindest von der Deutschen Bahn. Meistens Schlechtes. Allerdings war ich denkbar schlecht für Bergwandern ausgerüstet, nämlich gar nicht. So hatte ich einen Termin Mitte Juni ausgemacht, bei dem Anton zum Einkaufen vorbeikommen würde. Gegen Mittag schlug er bei mir auf, und wir rauschten los, zu Hamburgs größtem Outdoorladen.
Ich kaufte den halben Laden leer. Zumindest kam es mir so vor. Funktions-T-Shirts. Funktionshosen. Funktionssocken. Funktionsjacken. Selbst Sandra funktionierte hervorragend. Ich war total pflegeleicht. Besonders die Funktions-T-Shirts gefielen mir gut. Sie brachten meinen Busen gut zur Geltung. Ich ahnte aber schon, dass das beim Bergwandern wohl nicht sonderlich wichtig war. Als Nächstes war der Rucksack dran. Ich hatte zwar einen, aber der war viel zu klein. Er musste groß genug sein und leicht. Schließlich mussten wir alles mitschleppen, bergauf und bergab. Nach Anprobieren von etwa 20 Modellen hatte ich aber meinen Platzhirsch gefunden. Es folgten ein Regencape, ein Hüttenschlafsack, Bergstöcke, noch ein wenig Kleinkram. Und als ich nach etlichen Stunden dachte, wir wären durch, schleifte mich Anton noch in die Schuhabteilung. Ich war schon voll genervt und hatte schon etliche Kilometer in diesem Laden hinter mir gebracht. Anton musste mir dann erklären, dass ich mit meinen halbhohen Wanderschuhen nicht weit kommen würde. Ein Umknicken, und das wär's dann. Also fügte ich mich wohl oder übel.
Sogleich sprang ein junger Mitarbeiter an mich heran und versorgte mich mit etwa einem Dutzend Schuhen. Okay, ich habe übertrieben. Es waren wohl nur die Hälfte, aber trotzdem. Ich probierte alle an. 4 von denen passten. Ich ging über den dort aufgebauten Testparcours und nahm, da sich drei von denen als gleich gut entpuppten, den Schuh, der am besten aussah. Er kostete einen Hunni mehr, aber das war mir die Sache wert. "Sind wir jetzt fertig?", fragte ich Anton.
"Richtig, du bist fertig", antwortete Anton. "Zumindest schaust du so aus!" Grienen. Nein, schmunzeln. "Und gut ausgestattet bist du jetzt auch." Sein Blick ging zu meinem Busen.
"Dort war ich vorher schon gut ausgestattet", sagte ich, was Anton eine kleine Röte ins Gesicht zauberte. Wir gingen zur Kasse und ich bezahlte dort ein kleines Vermögen. "Hast du heute noch was vor?", fragte ich Anton.
Er antwortete mit einer Gegenfrage. "Wieso, willst du mit mir noch in eine Disko?" Dann schickte er aber hinterher: "War ein Scherz!"
"Anton, ich kenne dich nicht gut genug. Hätte doch sein können."
"Aus dem Alter bin ich raus!"
"Komm, wir gehen noch was essen. Ich lade dich ein!"
"Oh, dann wird das aber zu spät für die Rückfahrt nachher!"
"Kannst bei mir übernachten! Oder ist das ein Problem?"
"Nein, geht schon." Wir gingen dann noch in ein schönes Restaurant in der Fuhlsbütteler Straße, und Anton erzählte mir vom kürzlichen Segelausflug zu den Kanaren, den er mit Jochen und noch einem dritten Mann gemacht hatte. Er dauerte mehr als sechs Wochen, war aber sehr schön gewesen. Und dann gingen wir zu mir. Anton erzählte mir noch einiges über seine früheren Touren, und zeigte mir auch den geplanten Verlauf unserer Tour auf der Karte. Beim Anblick der Höhenprofile wurde mir schwindelig. Zum Berg selber sagte er aber nichts. Eigentlich hätte mich das stutzig machen müssen, tat es aber nicht. Ich fragte leider auch nicht nach. Ich hatte schon kurz nach meiner ausreichenden Genesung die Buchungen für Hotels, Hütten und Bahnen gemacht, nach den Angaben, welche Anton mir gegeben hatte.
Er sah wohl meine flackernden Augen angesichts der Touren, denn nun fragte er: "Bist du denn schon fit genug, Sandra?"
Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. "Klar. Schon so schnell wie vor dem Unfall. Ich überhole die Stockentengruppe immer spielend!"
Anton lachte schallend. "Du weißt aber hoffentlich, dass Stockenten furchtbar langsame Tiere sind?"
"Meine nicht. Die haben meistens Funktionskleidung an, watscheln wie die Enten und schleifen ihre Nordic-Walking-Stöcke hinter sich her, anstatt sie zu benutzen."
Anton griente. "Ach solche Tierchen meinst du!"
"Genau die! Die gucken immer wie sonst was, wenn ich an ihnen vorbeiziehe."
"Dann bist du wirklich fit! Der Berg ruft!"
Obwohl ich ihm mein Schlafzimmer anbot, wollte Anton auf der Couch schlafen. Ich hätte vielleicht sogar mit ihm geschlafen, aber er war irgendwie gehemmt und wirkte ähnlich tapsig, wie es Nico damals war, wenn ich die Sprache auf die schönste Sache der Welt brachte. Ich wollte auch nichts übers Knie brechen. Vielleicht könnte ich es ja auf der Tour mal ansprechen. Vielleicht war er da ja gelöster ...
Am Morgen dann suchte ich für Anton ein Handtuch heraus. Ich war natürlich wie immer um 6 Uhr wach geworden, hatte mich schon geduscht und schick gemacht, nur normal, ich war ja heute nicht auf Männerjagd, daher ging es schnell. Anton schickte ich ins Bad zum Duschen und Zähneputzen. Zum Glück hatte ich noch eine originalverpackte Zahnbürste gehabt. Mittlerweile machte ich Frühstück. Dann kam Anton dazu, wir fingen an zu essen und Kaffee zu trinken. Mit einem Mal hing sein Blick an meiner Pinnwand und bohrte sich dort hinein. Anton saß ganz ernst und wie erstarrt da. Dann stand er ruckartig auf und ging dorthin, fing an, etwas zu lesen. Was hatte er dort entdeckt? Er griff sich den Magneten und nahm etwas ab. Es waren die Zettel, welche ich damals im Krankenhaus gefunden hatte. Als Erinnerung an meine quälende Zeit hingen die seitdem dort. Ich hatte mal die Idee, die einzurahmen und hinzuhängen, aber hatte es noch nicht gemacht.
Anton drehte sich zu mir um. Er hatte Tränen in den Augen. Was heißt Tränen, es kam ein ganzer Sturzbach, und Anton war ganz aus dem Häuschen. Mit weinerlicher, brüchiger, sich überschlagender Stimme, sie klang fast wie vorwurfsvoll, er war kaum zu verstehen, ich hörte nur heraus: "So lange danach gesucht", und "endlich gefunden, endlich gefunden", dann fragte er, schon etwas besser hörbar, aber immer noch weinerlich: "Wo hast du das her? Woher? Wie kommst du ... ich hab ihn wiedergefunden!" Jetzt begriff ich. Er weinte vor Freude! "Ich hab den Zettel endlich wiedergefunden! Meinen Überlebenszettel! Bei dir!" Er kam zu mir auf die Bank und umarmte mich. Ein ganzer Haufen seiner Tränen ging dabei auf mich über. Auf einmal erschien in der Tür Lena. Mittlerweile war sie hier öfters über Nacht und war daher nicht mehr wie eine Zeit lang mit Slip und BH, sondern stilvoll im Nachthemd gekleidet. Sie erschrak und hielt sich die Hand vor den Mund. Dann ein fragender Gesichtsausdruck. Ich gab ihr einen Wink mit dem Kopf und Lena verschwand wieder, zog Andrea, der ebenfalls aufgetaucht war, gleich mit sich.
Seine Stimme war immer noch etwas weinerlich, aber endlich fasste er sich. "Kannst du mir sagen, wie du zu diesen Zetteln gekommen bist?"
"Ja, klar. Ich lag im Krankenhaus, ans Bett gefesselt wegen meines kaputten Beins, da ist mir eine Stelle an der Tür aufgefallen. An der Türlaibung zwischen Rahmen und Fußboden. Es war so langweilig im Krankenhaus und hatte die Idee, dass da etwas wäre. Irgendwann hab ich die Reinemachefrau gebeten, da mal nachzusehen, und dann hat sie dieses hier herausgezogen. Sie sind ein wenig ramponiert worden durch das viele Wischen, aber ..."
"Ich hätte nie gedacht, dass die noch da sind! Ich habe tagelang nach denen gesucht, als es mir wieder besser ging, alle Schwestern und Ärzte genervt, auch Jockel hatte mir dann geholfen, als er wieder halbwegs fit war. Aber die Dinger waren nirgends mehr zu finden. Wie vom Erdboden verschluckt!"
"Das waren sie ja im wahrsten Sinne des Wortes. Hast du eine Idee, wie die Zettel dorthin gekommen sind?"
Er überlegte. "Ich habe eine Ahnung. Man sagte mir, dass man mich nachts auf dem Boden liegend aufgefunden hat. Ich hatte keine Erinnerung mehr daran. Vielleicht hatte ich es da hineingeschoben. Ich bekam eine Virusinfektion, hatte hohes Fieber."
"Und dann ging es wieder aufwärts?"
Er schwieg ein Weilchen. Seine Stimme hatte sich mittlerweile wieder beruhigt. "Es hat lange gedauert. Die Infektion war bald vorbei. Aber das andere ..."
"Du hattest also Krebs, richtig?"
"Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Danach war es auch nicht viel besser. Immer diese Angst, dass er zurückkommt. Willst du mal sehen?" Ich wusste nicht, was er mir zeigen würde, nickte aber. Anton zückte sein Handy, wischte darauf herum, zum Vorschein kamen zwei Bilder. Es waren Scans, die Fortsetzung des von mir gefundenen Zettels, auch handgeschrieben.
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04.05. Verlängerung bekommen. War langweilig auf der Isolierstation. Mein Körper glüht nicht mehr vom Fieber. Und ich habe wieder etwas Kraft. Zum Schreiben reicht's, zur Toilette gehen. Oft dorthin. Immer noch kotzen, Haarausfall. Dafür habe ich jetzt einen Mitbewohner im Zimmer. Jochen alias Jockel. Wie macht der das nur? Hat denselben Scheiß wie ich, ist aber voll gut gelaunt, obwohl er bestimmt doppelt so oft zur Toilette muss wie ich. Ich bin ein Weichei! ABER WO IST MEIN ZETTEL?
05.05. Jockel geht es schlechter. Geht es zu Ende mit ihm? Jockel darf nicht sterben! Er ist mein Buddy, mein Rettungsanker. Lustiger Kerl und willensstark. Er macht ständig Witze über sein Krebstierchen. Warum kann ich das nicht? Ich habe alle genervt, aber keiner weiß, wo mein Zettel ist.
07.05. Jockel ist ganz schwach. Er schimpft über diesen Giftcocktail. Habe mich an sein Bett gesetzt und ihm von meiner kurzen, heftigen und toxischen Beziehung zu Jasna erzählt. All die Demütigungen, Versöhnungen, die Trennung, ihr Stalking. Er meinte, man hätte sie als Chemotherapie für mich nehmen sollen. Haha! Trotz seiner Situation schafft er es noch, lustig zu sein. Wie schafft er es? Er ist mein Vorbild! Wenn er überlebt, überlebe ich auch!
08.05. Jetzt sind sie weg! Restlos. Ich bin ein haarloses Monster. Ein Glatzkopf. Käpt'n Picard auf der Brücke des Krankenhauses. Energie! Die Generatoren sind ausgefallen, Käpt'n. Muss sie reparieren! Wie lange brauchen sie? Zwei Wochen! Dann machen sie es in einer Stunde! Klar, kein Problem, Käpt'n! Ach, wär ich mal lieber Scotty. Dann könnte ich was tun. Jockel kämpft. Er hat keinen Appetit, isst aber, und kotzt wenig später alles wieder aus. So wie ich damals auch. Ich hab jetzt nur noch Übelkeit. Und Kraftlosigkeit.
09.05. Hab jetzt endlich Schwester Melanie gefragt. Keine Ahnung, warum überhaupt? Da unten tut sich immer noch nichts. Niente. Wahrscheinlich haben die auch dafür was in den Giftcocktail getan. Petit Fleur, hat sie gesagt. Herr Oberstudienrat war da. Der heißt natürlich anders. Jockel hat ihm den Namen verpasst. Ich glaube, der passt. Er mag ein guter Arzt sein, aber von Menschen hat er keine Ahnung. Meine Metastase ist weggestrahlt, hat er gesagt. Seine Ausstrahlung war flüssiger Stickstoff. Am liebsten hätte ich ihn weggestrahlt, Pardon, gebeamt. Trotzdem war ich natürlich froh, dass er mich zur Strahlenkanone geschickt hat. Meinem Buddy Jockel geht es unverändert. Ich glaube, die Chemo macht ihm sogar noch mehr zu schaffen als mir, aber er zeigt es nicht, bleibt stark.
10.05. Jockel ist echt ein harter Hund. Und er zieht mich mit. Hat einfach seinen Infusionsständer geschnappt und dann sind wir durch die Krankenhausflure. Karina hat gelacht. 'Speedy Gonzales' hat sie gerufen. Maus müsste man sein. Dann könnte man in die Ärztekonferenz rein und mithören, was sie wirklich über uns sagen. Unsere Chancen. Aber den Rest des Tages war Jockel dann down. Er grinst trotzdem immer, so wie dieser Radrennfahrer, wenn der den Berg hoch prescht, aber ich weiß, auch in ihm fühlt es sich für ihn sicher ganz anders an.
11.05. Ich weiß, man sollte das nicht machen wegen Infektion und so, aber ES MUSSTE SEIN. Wir sind nun Blutsbrüder. Auf Gedeih und Verderb aneinander gefesselt. Bis dass der Tod uns trennt. Aber wir haben ihm eine lange Nase gemacht. Der kriegt uns nicht! Jedenfalls nicht so schnell!
12.05. Jockel bekam Besuch. Seine Ex-Frau. Wow, was für ein Feger! Auf mich wirkte die nett, und sie war ganz betroffen, als sie ihn gesehen hat. Aber man weiß ja. Wie war noch mal der Spruch? Frauen sind Schlachtschiffe, die sich als Lazarette tarnen. Hahaha! Obwohl: Ann war nicht so, nicht Ann! Aber wenn ich da an Jasna denke!
14.05. Auch Jockel bekommt nun Haarausfall. Gut, er hatte vorher auch nicht viele, aber bald wird er auch so aussehen wie ich. Mr. Glatzkopf. Muss mir nur einen passenden Namen dafür ausdenken. Wie wäre es mit diesem Kommissar aus dieser Ami-Serie, die kaum noch jemand kennt?
18.05. Mir geht's etwas besser, Jockel nicht. Sabrina war wieder da und hat Scherze gemacht. Sie meinte, ich wäre ein Lottogewinner. Weil ich diesen schlimmen Krebstyp überwunden habe. Sieht so ein Gewinner aus? Der Spiegel im Bad sagt was anderes. Jockel schaut mich ganz traurig an. Ich muss mir für ihn was einfallen lassen.
19.05. Hatte heute DIE Idee. Wir werden Lotto spielen! Ein Schein für beide. Wenn wir gewinnen, und hier auch wieder herauskommen, sind wir auf der Gewinnerstraße. Dann lassen wir die Sektkorken knallen, und fahren die heißesten Bräute in unserem Cabrio umher. Yippie! Aber stopp mal! Sowas war ja noch nie mein Ding. Angeberauto, leichte Mädchen. Nee, ist wohl doch nichts für mich.
20.05. Jockel hatte heute seinen moralischen. Außerdem hat er im Schlaf gesprochen, einige Male. Ob er da auch wie ich damals Halluzinationen hatte?
21.05. Jockel war richtig down. Fiebrige Augen. Aber seine Temperatur war normal. Sagte zumindest Karina.
22.05. Entweder hat sich mein Körper an den Giftcocktail gewöhnt, oder es ist jetzt weniger drin. Mein letzter Tag Chemo!
22.05. Jockel strahlt! Ich auch! Unglaublich, aber wir hatten einen Sechser. Kein Sex, und auch keine Sechs in der Klausur, aber wir haben gewonnen! Im Lotto! Wenn das mal kein gutes Zeichen ist! Ich hoffe, das hilft jetzt auch Jockel über den Berg. Morgen kann ich nach Hause. Ich werde Jockel aber jeden Tag besuchen. Versprochen!
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"WOW", sagte ich. "Ich bin froh, dass du das überwunden hast. Weißt du, dass deine Zettel mir sehr geholfen haben, meine schwere Zeit dort zu überwinden?"
"Nein, wieso?"
"Als ich sie fand und las, war ich selbst höchst demotiviert. Die Heilung hatte sich verzögert, die Bakterieninfektion, die Therapie hatte auch ewig gedauert, bis sie angeschlagen hatte. Deine Erlebnisse zu lesen, hatte mich erschüttert. Aber es hatte mir auch geholfen, selbst aus der Depression wieder herauszukommen. Weißt du, wenn man weiß, dass jemand noch viel Schlimmeres durchgemacht hat, als man selbst, dann setzt es Kräfte in einem frei, auch sein eigenes Schicksal auszuhalten. Egal, was kommt."
Anton schaute mir aufmerksam ins Gesicht. "Was hast du gedacht, als du die Zettel gelesen hast?"
"Ich hatte geglaubt, dass der Schreiber, von dem ich jetzt weiß, dass du es warst, es nicht geschafft hat. Ich war tieftraurig. Der Schreiber tat mir leid. Aber ich wollte sein Schicksal nicht selbst teilen. Aber es hatte mich sehr berührt, das tut es bis heute, und deshalb hingen die Zettel dort. Bis heute!"
"Kannst du sie mir geben?"
"Natürlich. Sie gehören dir! Sie bedeuten dir sehr viel mehr als mir. Er ist ein Teil deines Schicksals."
"Vielen Dank, Sandra."
"Gerne. Kann ich denn ... kann ich denn Kopien haben? Ich habe nur dieses Originale."
"Klar, scann die einfach. Ich schick dir auch die Bilder von der Fortsetzung."
Ich zückte mein Handy und machte davon Fotos, während mein Handy mit einem 'Pling' den Eingang der von Anton geschickten Bilder anzeigte. Ich blickte Anton dankbar an. "Wie geht es dir heute mit der Geschichte, so im Nachhinein?"
"Die Angst ist weg. Ich sehe nur noch nach vorne. Lebe jeden Tag. Ich habe ein Buch darüber geschrieben."
"Wie heißt es denn?"
Er schaute verschämt nach unten. "Ich habe es noch nicht veröffentlicht."
"Anton! Hat es denn wenigstens einen Titel?"
"Der Rückwärtsgang des Krebses."
"Super, der passt! Da hat die Sache ja enorme Kräfte in dir freigesetzt. Und Jochen? Er hatte also auch Krebs, oder?"
"Ja, bei ihm war es ganz ähnlich. Wie haben einander festgehalten, nicht so physisch, sondern die Seele. Uns einander aufgebaut, dem anderen Halt gegeben. Der war stärker als Jochens Halt mit seiner Ex-Frau, ich hatte ja damals keine. Wir haben uns geschworen, nicht zu sterben, und das haben wir geschafft. Wir sind ja seit damals Blutsbrüder."
"Kann ich das Buch mal lesen?"
"Es ist ja noch kein Buch. Ein Manuskript. Das habe ich natürlich nicht hier. Ich überleg's mir, ja?"
"Es würde mich freuen. Ich habe auch ein Buch geschrieben über meine Erlebnisse. Es ist noch nicht fertig, aber im Krankenhaus hatte ich die Idee dazu. Ich habe ja auch viel erlebt damals."
"Stimmt, die Geschichte hast du ja schon erzählt."
"Nur den groben Verlauf."
"Hat es schon einen Namen?"
"Es soll 'Drama in Schwarz-Bunt' heißen."
"Nicht schlecht. Aber wieso Schwarz-Bunt? Hat das was mit der Kuhrasse zu tun?"
Ich lachte auf. "Nein. Schwarz, weil ich damals in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen bin. Und bunt, weil ich dann trotzdem gut herausgekommen bin. Und meinen Horizont erweitert habe. Sozusagen ein bunter Schmetterling geworden bin." Ich rief jetzt nach oben: "Ihr könnt wieder herunterkommen!" Es dauerte nicht lange, da erschienen Lena und Andrea. Gespannter Gesichtsausdruck. Sie wussten ja nicht, was sie erwarten würde. "Darf ich vorstellen: Das ist Anton, ein Freund. Anton: Das ist mein Stiefsohn Andrea und seine Freundin Lena."
"Es freut mich!", sagte Anton.
Lena mit ihren feinen Antennen traute dem Ganzen noch nicht so ganz. "Ist denn jetzt wieder alles gut zwischen euch?"
Anton lachte, und seine Augen leuchteten. "Zwischen uns war nie was. Aber Sandra war so lieb, die Zettel aufzuheben, von denen ich dachte, dass sie längst vernichtet sind. Die Emotion hatte mich einfach überwältigt! Nach so langer Zeit, und das war ja damals sehr schwierig, schon das Schreiben, und dann."
"Was war denn da? Ist deine Frau gestorben?", fragte Lena, ganz erschrocken.
"Nein, ich hatte Krebs. Leberkrebs. Genau wie Jockel."
"Ist das der mit dem Boot?"
"Ja, genau. Mein Freund, Leidensgenosse und Blutsbruder. Bevor du fragst: Ja, ich habe damals viel getrunken. Ziemlich viel. Zu viel. Jockel nicht, er hat es trotzdem gekriegt. Aber seitdem rühre ich nur noch selten Alkohol an."
Andrea zwinkerte Anton zu. "Vielleicht kannst du ja Sandra auch mal einen Tipp geben." Ich drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. Er hatte ja recht. Manchmal übertrieb ich es. Zumindest früher. Heute war ich längst wieder im grünen Bereich, im 'Normalbetrieb', wie man so schön sagt. Meistens jedenfalls.
"Der Anton gibt mir lieber Tipps dafür, wie man einen Berg hinaufkommt und was man dafür braucht."
"Wir haben gestern Großeinkauf für Sandra gemacht", sagte Anton.
"Oh, wann soll es denn losgehen?", fragte Lena.
"Anfang Juli", sagte Anton.
"Da habt ihr dann über eine Woche sturmfreie Bude", sagte ich. "Aber denkt an die Verhütung!"
Lena prustete los und Andrea stimmte in das Lachen mit ein. Dann auch Anton und ich. Andrea überging die Sache und fragte: "Was willst du denn in den Bergen? Willst du den Spuren meines Erzeugers nachgehen?"
Zu Anton sagte ich: "Mein Mann liebte das Bergwandern." Zu Andrea sagte ich: "Nein, ich habe da eine Mission. Ein besonderer Stein muss auf einen Berg."
"Ach, etwa der vom Regal?"
"Genau der. Lucia gab ihn mir."
"Die Lucia? Antonios erste Freundin?"
"Ja, die. Sie meinte, ich muss das Universum reparieren, mit diesem Stein. Der muss da wieder hin."
Andrea war amüsiert. "Welchen Zauberspruch musst du denn dabei murmeln?"
Ich stieß ihm scherzhaft meinen Ellenbogen in die Rippen. "Spinner."
Lena mahnte ihn: "Andrea!" Das wirkte und sein Gesichtsausdruck wurde augenblicklich wieder ernst. Sie schien wirklich einen guten Einfluss auf ihn zu haben.
"So, ich muss", sagte Anton.
"Warte", sagte ich, stand auf, und spielte schnell mein Manuskript auf einen USB‑Stick. Dann gab ich ihn Anton, bedankte mich, sagte ihm, dass wir bis dahin noch einige Male telefonieren würden, und geleitete ihn aus dem Haus, nachdem er sich von Andrea und Lena verabschiedet hatte. Auch ich machte mich nun fertig und fuhr los. Ich würde eine Stunde zu früh im Laden sein, aber so konnte ich mich in Ruhe um die neuen Entwürfe kümmern.
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Teil19: Die Zeugenaussage
Dann war es so weit. Der Prozess gegen das Apothekerehepaar begann. Es war klar, die Frau wollte sich mit allen Mitteln um eine Strafe drücken, so viel wusste ich schon. Der Mann war geständig und bereit, für seine Taten zu büßen. Für die Frau waren das denkbar ungünstige Bedingungen. Aber desto härter würden die Anwälte vorgehen. Angelika und Markus waren Nebenkläger. Beide nahm die Teilnahme am Prozess sichtlich mit. Ich war anfangs noch ziemlich gelassen, aber je näher der Termin meiner Zeugenaussage rückte, umso schlimmer wurde es. Aber Jens half mir. Er vermittelte mir eine Frau, welche mich auf die Zeugenaussage vorbereiten würde und mich auch bis auf die Wartebank vor dem Gerichtssaal begleiten würde. Wir verabredeten uns einige Tage vorher in einem kleinen Café. Ich ging hinein.
Ich wusste nicht, wie sie aussah, aber sie schien mich sofort zu erkennen. Sieht man das einem Menschen an, der eine Zeugenaussage tätigen muss? Sie stand jedenfalls von ihrem Tisch, an dem sie bereits vor unserer Treffpunktzeit gewartet hatte, auf, und winkte mir zu. Ich ging zu ihr hin. Eine ziemlich mollige Frau mit kurzen schwarzen Haaren stand vor mir. Freundlicher Gesichtsausdruck, zu dem wohl auch die Pausbäckchen beitrugen, die ihr aber sehr gut standen. Irritieren tat mich nur ihr ein wenig grell geratener Lippenstift, der so gar nicht zu ihrem sonstigen Aussehen zu passen schien. Ihr langes Kleid wirkte ein wenig trutschig, altertümlich. "Hallo, Frau Neuhaus", sagte sie. "Setzen sie sich. Ich bin Irina Ivanowa."
"Angenehm. Sandra Neuhaus. Ihr Name klingt russisch. Sie leben schon lange hier, oder? Man hört keinen Akzent."
"Ich wurde hier geboren. Mein Vater stammt aus der Ukraine und meine Mutter ist Deutsche."
"Oh. Es tut mir leid, was gerade mit ihrem Volk und ihrem Land passiert."
"Mein Land ist Deutschland, aber natürlich lässt auch mich das nicht kalt."
"Ich hoffe, es gibt bald Frieden und eine gerechte Lösung. All die vielen Toten und Verwundeten!"
Sie seufzte. "Das hoffen wir alle. Aber leider sieht es noch nicht danach aus. Wie fühlen Sie sich, Frau Neuhaus?"
"Angespannt, würde ich sagen. Ich weiß, eigentlich kann mir nichts passieren, aber mein Inneres glaubt mir nicht."
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Das geht ganz vielen so. Aber sie haben recht. Es kann ihnen nichts passieren, solange sie sich an die Wahrheit halten."
"Und wenn die lügen? Am Ende bin ich nachher die Dumme!"
"Sie müssen sich einfach stur an die Wahrheit halten. Sie müssen ja nur von ihren eigenen Eindrücken berichten. Es verlangt niemand von ihnen, dass sie Schlussfolgerungen ziehen oder Bewertungen zum Geschehen abgeben, die mit ihren eigenen Empfindungen zum Erlebten nichts zu tun haben. Wenn sie sich an etwas nicht richtig erinnern können, zum Beispiel weil sie bei der Tat ein Trauma bekamen, müssen sie das dem Richter sagen. Das passiert vielen Zeugen so, und ist kein Drama."
Ich lächelte. "Wenn es mal so einfach wäre!" Die Bedienung kam, ich bestellte mir einen Latte Macchiato, sie einen Kaffee. Die bevorstehende Aussage war mir auf den Magen geschlagen, und so hatte ich keinen Hunger, und starken Kaffee vertrug ich zurzeit auch nicht.
"Nur Mut!"
"Und wenn mich der Verteidiger von denen zerreißt?"
"Da können sie sicher sein, dass der vorsitzende Richter eingreift. Es ist nicht so, wie es immer in amerikanischen Filmen oder Serien dargestellt ist, dass die regelrecht auf Zeugen losgehen. So etwas gibt es hier zwar auch gelegentlich, aber eher nur subtil. Also, keine Angst davor."
"Wie läuft das denn genau ab?" Sie erklärte mir den üblichen, typischen Verlauf so eines Prozesses, und auch vom typischen Verlauf einer Zeugenaussage. Am Schluss war ich zwar halbwegs beruhigt, aber ein leicht mulmiges Gefühl blieb.
"Und jetzt?", fragte sie mich am Schluss.
"Fühle ich mich besser. Halbwegs gewappnet."
"Na sehen sie!" Sie machte auf mich einen total entspannten Eindruck. Kein Wunder, musste sie ja nicht aussagen.
"Woher wissen sie das denn alles?", fragte ich sie.
"Bis vor zwei Jahren war ich noch Richterin", sagte sie.
"Ach! Und wieso haben sie aufgehört?"
"Na, ich bin in Rente gegangen."
"So früh schon? Wie alt sind sie denn, wenn ich fragen darf?"
"Ich bin 65." Ich fiel vom Glauben ab. Sie sah aus wie vielleicht 55. Höchstens! "Passiert mir oft, dass ich jünger geschätzt werde."
"Ich hoffe, wenn ich mal 65 bin, dass ich auch so gut aussehe wie sie. Oh, Entschuldigung!"
Ein leichtes Lächeln kam über ihre Lippen. "Ich höre das gerne, auch als Frau. Wie alt sind sie denn, Frau Neuhaus?"
"Ich bin 45."
"Dafür sehen sie aber auch noch sehr gut aus. Und eine schöne Figur haben sie auch noch. Im Gegensatz zu mir." Sie seufzte.
"Danke. Ich halte mich fit. Aber wer weiß, vielleicht habe ich im Alter dann auch ihre Figur. Dann heißt es Männerwelt ade, oder?"
"Aber wieso das denn?"
"Na, welcher Mann will das schon!"
"Da haben Sie aber keine Ahnung, Frau Neuhaus." Sie grinste. "In einer halben Stunde bin ich mit so jemandem verabredet."
"Im Altersheim?"
Sie lachte auf. "Sicher nicht. Weiß nicht, wie alt er ist. Geschrieben hat er 35. Aber die machen sich meistens ein wenig älter."
"Sie daten jüngere Männer? Und das wollen diese Männer?" Erst als ich den Satz sagte, fiel mir auf, dass ich es ja auch gelegentlich noch so machte. Nur dass ich 20 Jahre jünger war.
Sie lächelte. "Ist ja nur für's Bett. Und ja, das lieben die. Ich auch."
"Ich mache es manchmal auch so. Aber ich wusste nicht ... dass das im Alter auch noch so geht."
"Noch geht es. Ich mache es so lange, wie ich kann. Wie ich noch jemanden finde."
"Irre. Also haben sie keinen festen Mann?"
"Nein, ich bin geschieden. Schon seit zwanzig Jahren. Und sie?"
"Ich bin Witwe. Seit etwa fünf Jahren. Nicht ganz fünf Jahre. Ein Unfall."
Sie schaute zur Uhr, seufzte. "Sorry, ich muss los." Sie fischte nach ihrer Handtasche, wollte wohl bezahlen. "Lassen Sie, das bezahle ich", sagte ich.
"Danke", sagte sie, stand auf. "Na dann --- bleiben Sie cool, und bis übermorgen."
"Viel Spaß beim Rendezvous." Dann ging sie, ich bezahlte, und ging dann auch.
Zwei Tage später traf ich sie dann wie verabredet vor dem Gerichtsgebäude. Wir gingen hoch zur zweiten Etage, wo ich mich zu den anderen Zeugen setzte. Eine Begleitperson hatte nur ich. Auch Jens saß dort. Ein anderer Polizist in Uniform, ich erkannte ihn wieder, und auch den Einsatzleiter der Feuerwehr. Die beiden waren auch die einzigen, die sich unterhielten. Ich war viel zu aufgeregt dazu. Ich wusste, dass der Prozess zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatte. Dann gingen die Türen auf und ich wurde aufgerufen. Ich sammelte mich und trat in den Gerichtssaal. Mir gegenüber saßen Angelika und Markus mit ihren Anwälten. Links war die Richterbank. Der Gerichtsdiener führte mich zum Zeugenstuhl. Ich musste meine Personalien angeben, wurde vom Richter belehrt und dann ging es los.
"Dann schildern Sie doch bitte die Geschehnisse aus Ihrer Sicht", forderte mich der Richter auf.
"Klar. Wo soll ich anfangen? Am Tat-Tag? Oder die Vorgeschichte?"
"Gerne auch die Vorgeschichte", sagte der Richter.
"Also ... ich machte etwa eine Woche vor der Tat die Bekanntschaft der Geschädigten Angelika Hellwig. Wir unterhielten uns über unsere Vergangenheit und dabei kam auch die Sprache auf ihren verstorbenen Mann. Auf seine Krebserkrankung und dass sie da Merkwürdiges vermutet. Ich lud sie und ihren Freund, also Markus Weyda, am Wochenende zu mir ein und erfuhr ... bekam erstmals zu hören, dass sie eine Panscherei mit Krebsmedikamenten vermuten, in der Apotheke, wo Markus, also der Geschädigte, arbeitet, und von wo auch ihr verstorbener Mann früher seine Chemo bezog. Ich beschwor die beiden, damit zur Polizei zu gehen, aber sie lehnten ab. Sie luden mich für das darauf folgende Wochenende zu sich ein. Dazu kam es aber erst mal nicht, denn dann kam der Tat-Tag. Ich kam gerade von meiner Arbeit nach Hause, da wartete Angelika, also die Geschädigte, in ihrem Auto bereits auf mich. Sie sagte mir, dass sie vorhaben, nun seine Arbeitgeber mit ihrer Entdeckung zu konfrontieren, und gaben mir so einen medizinischen Beutel, den ich als Sicherheit für sie verwahren sollte, und zwar im Kühlschrank. Ich bekniete sie, das nur über die Polizei zu machen, aber sie schlug es in den Wind. Auch mein Angebot, mitzukommen. Ich ermahnte sie noch einmal, vorsichtig zu sein, und sie fuhr dann los. Ich legte den Beutel in den Kühlschrank. Aber die Sache ging mir nicht aus dem Kopf. Es war mir mulmig zumute, ich bekam den Impuls, irgendwas zu tun. Schließlich fuhr ich dann zum Haus von Angelika, die Adresse kannte ich ja von der Einladung. Das war vielleicht so zehn Minuten oder eine Viertelstunde später.
Ich kam dort an, stieg aus dem Auto, und klingelte beim Vordereingang. Vor dem Haus stand das Auto von Angelika. Ein kleines Stück weg stand ein Auto mit einer Person, die dort drin saß. Da bin ich aber nicht hingegangen und konnte die Person daher nicht genau sehen. Es öffnete niemand, aber aus dem Haus kamen Geräusche. Der Knarren einer Holztreppe, Rumpeln, eine zuschlagende Tür. Ich fand das merkwürdig und ging zur Rückseite des Gebäudes. Da sah ich einen Mann herausrennen. Er verschwand im hinteren Bereich des Grundstücks im Gebüsch und ich sah ihn erstmal nicht mehr. Ich ging zum Haus, die Terrassentür stand offen. Mit einem Mal ging ein Piepen los, was ich als Alarm eines Rauchmelders deutete. Ich ging ins Haus, es war das Wohnzimmer. Dort lag Markus regungslos, an seinem Kopf eine Blutlache.
Ich erkannte aber sofort, dass anderes Handeln wichtiger ist, denn auf dem Fußboden unter der Couch lagen Zeitungen, welche brannten. Ich ergriff eine Decke, und konnte mit der die Flammen ersticken. Aber die Couch hatte bereits Feuer gefangen. Sie qualmte stark. Ich hob deren Füße an und zog sie nach draußen, auf die Terrasse, wo sie weiter brannte und qualmte. Dann ging ich ins Zimmer zurück. Ich fühlte, dass Markus noch Puls hatte. Angelika war nicht zu sehen. Ich rief die 110 an. Während des Telefonats kam der Mann plötzlich wieder zurück, blieb aber auf dem Rasen davor stehen. Er wirkte total verwirrt und murmelte in einer Tour: 'Ich wollte das nicht, ich wollte das nicht!' Von seitlich hinten kam dann eine Frau heran, bewegte sich auf ihn zu. Sie war voll geladen und rief ihm zu: 'Ich hab doch gesagt, du sollst die Sache aus der Welt schaffen! Und was machst du Versager?'
Dann hat sie ihn geschlagen, geschubst, getreten, auch gegen den Kopf. Er hat sich nicht gewehrt, wollte nur seinen Körper schützen. Dann ergriff die Frau einen ziemlich dicken Ast, hat den Mann noch mal getreten. Sie rief: 'Ich bringe dich um, du Versager', und hat dann den Ast zum Schlag gehoben. Man sah, dass sie all ihre Kraft hineinlegen würde, da sie so wütend war. Ich musste etwas tun. Da habe ich einen Stein vom Steingarten gegriffen, ich konnte ja nicht direkt dorthin, und habe den Stein nach ihr geworfen. Der Stein traf sie am Bein, sie knickte ein, und ihr Schlag ging dicht neben seinem Kopf herunter. Der Mann hat immer 'nein, nein' gerufen, dann kam erst die Feuerwehr und später die Polizei. Ich habe die Feuerwehr informiert, die hat den Rest gemacht. Ich bin dann später ins Polizeiauto, habe eine vorläufige Aussage gemacht, und dann bin ich mit der Polizei zu meinem Haus zurück und habe denen den Beutel aus meinem Kühlschrank überreicht. Ja, das ist erstmal alles."
"Gut", sagte der Richter. "Können sie denn die beiden Personen hier im Gerichtssaal wiedererkennen?"
Ich schaute mich um. "Ja, die beiden dort auf dieser Bank. Dieser Mann kam nach der Flucht wieder, und die Frau ist diejenige, die ihn attackiert hat."
"Danke, Frau Neuhaus." Er schaute zur anderen Seite. "Hat die Verteidigung noch irgendwelche Fragen?"
"Ja", sagte jetzt der Anwalt der Frau. "Frau Neuhaus. Sie sagten, sie hätten einen Mann wegrennen sehen. Haben sie ihn denn erkannt?"
"Nein, das ging nicht, er rannte von mir weg und sein Gesicht konnte ich nicht sehen."
"Woher wollen sie denn wissen, dass es der gleiche Mann ist wie der, welcher wiedergekommen ist?"
"Das habe ich nicht behauptet. Er hatte zumindest die gleiche Statur, Größe, Kleidung und Haarfarbe."
"Sie hatten angegeben, dass sie einen Stein nach der Angeklagten geworfen haben. Warum sind sie denn nicht hingerannt und haben sie davon abgehalten?"
"Das wäre nicht gegangen. Zwischen der Terrasse und dem Rasen, wo sich die beiden befanden, war ja ein etwa hüfthoher Steingarten. Ich hätte um ihn herumgehen müssen. Dann hätte die Angeklagte den Schlag längst vollendet und er würde vielleicht nicht mehr am Leben sein. Davon mal abgesehen: sie war offenbar zu allem entschlossen. Ich hätte mich damit selbst in große Gefahr gebracht."
"Woher wissen sie das?"
"Beobachtung, Menschenkenntnis. Egal, ich musste helfen. Ich konnte nicht erst alle möglichen Variablen oder Paragrafen im Kopf durchdenken."
"Hätten sie nicht ein milderes Mittel wählen können? Immerhin hat meine Mandantin einen Beinbruch erlitten."
"Nein, konnte ich nicht. Das habe ich doch schon erläutert."
"Aber woher wussten sie denn, dass meine Mandantin ihren Mann erschlagen wollte?"
"Das wusste ich gar nicht. Dazu müssen sie ihre Mandantin fragen, ob sie das wollte. Für mich sah es jedenfalls so aus, als ob sie das wollte. Ich hatte sie gesehen. Ihre Augen blickten unerbittlich. Kalt. Sie legte ersichtlich all ihre Kraft in den Schlag. Ihr Gesicht war vor Wut verzerrt. Dazu noch ihre Ankündigung und die Tritte. Es war ..."
"Könnte es sein, dass sie da überreagiert haben? Da gab es doch auch vor kurzem einen Angriff, einen Mordversuch an Ihnen von einem Ihrer Stiefsöhne. Haben sie die Reaktion meiner Mandantin deswegen so überinterpretiert?"
Trotz der Situation, also ich im Gericht als Zeugin, war ich kurz belustigt, aber auch überrascht, dass er sich die Mühe gemacht hatte, etwas herauszufinden. "Hätten sie ihre Recherche richtig durchgeführt, dann wüssten sie, dass dieser Angriff meines Stiefsohnes erst nach der hier verhandelten Tat stattgefunden hat. Die konnte ich nun wirklich nicht vorausahnen!"
Kurze Belustigung auch im Saal beim Publikum.
"Oh", sagte der Verteidiger der Frau.
Jetzt grätschte der Vorsitzende Richter dazwischen. "Das mit der Körperverletzung ist doch bereits geklärt. Das Gutachten und das ausgewertete Video belegen das. Könnte die Verteidigung bitte mal erklären, wo sie hin will?"
"Nirgends. Ich wollte das nur noch mal erwähnen."
"Danke, Herr Verteidiger. Zur Kenntnis genommen. Weitere Fragen?"
"Frau Neuhaus, sie haben ausgesagt, sie haben von ihrer Freundin einen Infusionsbeutel überreicht bekommen. Könnte es sein, dass sie diesen Beutel ausgetauscht haben?"
"Wie soll ich das denn gemacht haben? Erst mal hatte ich keinen Beutel zum Tauschen, und außerdem hatte ich ja, bevor ich losfuhr, noch ein Foto von dem gemacht. Das habe ich auch der Polizei weitergeleitet."
Der Richter grätschte wieder dazwischen. "Herr Verteidiger, wir haben die Aussage der Nachbarin von Frau Neuhaus. Ihre Angabe der Zeiten mit Ankunft des Autos der Freundin und des Wegfahrens von Frau Neuhaus deckt sich mit den Angaben der Zeugin. Es kam auch kein anderes Fahrzeug oder keine Person vorbei und die Chargenangaben stimmten mit dem aufgefundenen Beutel überein, da auch die Geschädigten davon Fotos gemacht hatten. Auch die Zeitstempel der Fotos passten. Ich verstehe daher ihr Nachbohren in dieser Sache nicht. Woher hätte denn Frau Neuhaus einen solchen anderen Beutel erhalten sollen und welches Motiv hätte sie gehabt?"
"Ich wollte ja nur sichergehen."
"Na gut. Weitere Fragen?"
"Ja, habe ich", sagte jetzt der Verteidiger des Mannes. "Frau Neuhaus, was hatten sie für einen Eindruck von meinem Mandanten? Wirkte er auch so entschlossen wie seine Ehefrau?"
"Nein, ganz und gar nicht. Er wirkte verwirrt, aber auch reumütig, so, als bedauerte er schon kurz nach der Tat, was er gemacht hatte."
"Hatten sie Angst vor ihm?"
"Nein, nur vor seiner Frau. Er selbst wirkte trotz seiner Statur eher sanftmütig."
"Danke, Frau Neuhaus."
" Hat sonst noch jemand Fragen?", fragte die Richterin.
"Keine Fragen", antworteten einmütig alle Verteidiger, und ein Mann, der wohl der Staatsanwalt war.
"Gut, Frau Neuhaus, dann sind Sie als Zeugin entlassen." Ich atmete tief durch und verließ den Saal. Die angeklagte Frau warf mir noch einen feindseligen Blick zu. Der Gerichtsdiener geleitete mich heraus und rief eine Frau auf. War es die, welche den Film gemacht hatte?
Irina hatte auf mich gewartet. Ich lächelte sie an. "Na, wie war es?"
"Es ging so. Der eine Anwalt hat ein wenig genervt."
"Ja, das machen die gerne. Zeugen verunsichern ist ihre Leidenschaft. Wollen wir?"
"Ja, gehen wir. Bloß raus hier!" Ich winkte Jens noch zu, und er nickte mir zu. Wir gingen zur Treppe. Hätte ich gewusst, dass ich bald an einer anderen Stelle in einem Gerichtssaal sitzen würde, dann hätte ich das sicher nicht so lässig gemacht.
Irina reagierte darauf. "Ach, Sie kennen Herrn Mehnert?"
"Ja, flüchtig."
"Ein fescher Mann, nicht wahr? Er ist, glaube ich, eine ehrliche Haut, und auch sonst ganz brauchbar."
"Ja, kann sein. Wer weiß, vielleicht heirate ich ihn ja mal." Dazu kicherte ich. Natürlich kam das für mich in Wirklichkeit überhaupt nicht infrage. Ich atmete tief durch, als ich wieder an der frischen Luft war, bedankte mich und verabschiedete mich von Irina, und fuhr nach Hause. Diese Irina kam noch mehrmals in meine Gedanken. Es war irgendwie beruhigend zu wissen, dass ich auch in einem höheren Alter noch attraktiv für Männer wäre, selbst wenn ich so aus dem Leim ginge wie sie. Trotzdem wollte ich es nicht darauf ankommen lassen, und mich nicht gehen lassen. Also weiterhin keine ganzen Tafeln Schokolade in mich hineinstopfen. Bald würde es auch noch einen weiteren Anlass für einen solchen Verzicht geben.
Der Prozess ging noch ein paar Tage weiter und die beiden wurden dann verurteilt. Der Mann bekam für den Betrug und den Mordversuch eine ziemlich hohe Strafe. Er tat mir ein wenig leid, da er das eigentlich nicht wollte und er da in hoher Not gehandelt hatte. Die Frau bekam nur die gute Hälfte seiner Strafzeit. Wie zu erwarten ging sie aber in Berufung. Die Verhandlung darüber würde aber erst viel, viel später starten. Mit Angelika und Markus traf ich mich dann hinterher, und sie erzählten mir viele Einzelheiten vom Prozess. Der Mann hatte ein volles Geständnis abgelegt, die Frau aber eisern geschwiegen. Ihr Anwalt hatte den Totschlagversuch bestritten, aber die Analyse des Schlagabdrucks im Rasen hatte ergeben, dass der Schlag möglicherweise tödlich gewesen wäre, hätte er getroffen. Beim Betrug bekam sie nur Mitwisserschaft, obwohl sie ihn vermutlich angestiftet hatte. Das konnte aber nicht bewiesen werden. Eine der vielen Ungerechtigkeiten dieser Welt!
Eines schönen Tages machte ich im Laden ein wenig früher Schluss und begab mich auf den Weg in die Europa-Passage, da ich dort einige Einkäufe tätigen wollte. Ich konnte auch alles ergattern, was ich wollte. Der nächste Weg führte mich zur U-Bahn-Station Jungfernstieg. Ich wollte mit der U-Bahn nach Ohlsdorf und dort in die S-Bahn umsteigen, die mich bis kurz vor mein Haus fahren würde. Den Rest könnte ich dann zu Fuß gehen. Aber es kam etwas dazwischen. Besser gesagt, jemand. Natürlich hatte ich immer wieder an die noch über mir schwebende Gefahr gedacht. Aber es nützte ja nichts. Das Leben müsste weitergehen. Auch ohne Polizeischutz. Und so wich das Bedrohungsgefühl mehr und mehr, machte Platz für die neue, alte Freiheit. Aber ... auf einmal stand er vor mir. Solco. Mein krimineller, zweiter Stiefsohn Mario. Und er sah nicht unbedingt amüsiert aus. Eigentlich sogar das genaue Gegenteil. Sehr, sehr, unentspannt.
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Teil20: Das eskalierte Wiedersehen
Ich bekam natürlich einen Riesen-Schreck.
Solco kam auch gleich ohne Umschweife zur Sache und zückte eine Pistole. "So, jetzt bist du dran", sagte er, machte mit der Pistole ein Zeichen, dass ich hinter eine Säule gehen sollte, die wohl im toten Winkel der Überwachungskamera lag.
"Was willst du von mir? Ich hab deine Drogen nicht! Und auch kein Geld! Die Versicherungen und Festgelder deines Vaters sind alle in die Hypothekenrückzahlung geflossen und beim Rest bin ich immer noch am Abzahlen!"
"Was schon! Du bist jetzt dran! Deinetwegen musste ich untertauchen und die ganze Zeit unter dem Radar leben! Weißt du, wie dreckig es mir da ging?"
Ich versuchte es mit Diplomatie. "Das verstehe ich. Das lag an den Zeugenaussagen der Männer. Wieso musstest du denn auch mit einem Messer auf mich losgehen? Solche Differenzen kann man doch auch friedlich lösen, oder?"
Ich versuchte, ihn anzulächeln, aber es funktionierte nicht. "Du warst es! Das mit dem Messer wussten diese Blödmänner doch gar nicht!"
"Und nun?"
"Jetzt wirst du sterben!"
"Bitte nicht!"
Er schnaufte verächtlich. "Meinst du, das macht mir was aus? Immerhin hast du meinen Vater umgebracht!"
"Was für ein Blödsinn! Der starb doch beim Unfall, den er deinetwegen hatte!"
"Von wegen! Wer ist denn da von der Unfallstelle weggehumpelt? Das war er doch, oder?"
"Nein, war er nicht!" Meine Stimme überschlug sich. "Da war kein anderer! Das musst du geträumt haben!"
"Blödsinn!"
Mein Herz krampfte sich zusammen, mein Hals wurde ganz trocken. Was würde passieren? Würde der mich abknallen? Würde ich dann wieder auf Charon treffen, den Fährmann über den Styx? Es zogen keine Bilder an meinem inneren Auge vorbei. Also war das noch nicht das Ende. Oder würde das erst beim Schuss losgehen? Könnte ich das nicht irgendwie verhindern? Ich musste an meinen Selbstverteidigungskurs denken. Die Worte von Sven kamen mir in den Sinn: 'Eine Pistole ist eine Nahdistanzwaffe. Wenn ihr es schafft, die Distanz zu verringern, sodass der Angreifer den Schuss nicht mehr zu euch nach vorne abgeben kann, habt ihr eine reelle Chance, den Angreifer entwaffnen zu können. Überrascht ihn, dreht ihm den Arm um, beißt in seine Hand, und wenn die Waffe am Boden ist, kickt diese möglichst weit weg. Und haltet euch vom Schussfeld fern. Gelingt es euch nicht, in diese Distanz zu kommen, versucht, gegen die Waffe zu treten'. Wieder und wieder hatten wir das geübt. Beides. Variante zwei: keine Chance. Meine Misserfolgsquote war 100 %. Bei der anderen war es schon besser. Ich ging einen Trippelschritt auf ihn zu, aber er war auf der Hut, hob die Waffe. Das würde ich niemals schaffen.
Er sah jetzt zu allem entschlossen aus. Ich seufzte, tat so, als würde ich mich drehen, um eine Flucht zu starten. Er lachte höhnisch auf. Jeden Moment würde er abdrücken und die Kugel würde sich in meinen Körper bohren. Tschüss, liebe Männer. Tschüss, liebe Frauen. Das war's dann! Ich war bereit, mit dem Leben abzuschließen. Und dann vollendete ich Variante zwei. Ich drehte mich weiter, gleichzeitig wirbelte mein Körper herum, mein Bein hob sich, und schlug von seitlich gegen die Luft. Tausendmal geübt, tausendmal daneben. Aber dann passierte etwas ganz Merkwürdiges. Mein Fuß stieß schmerzhaft an etwas, jemand gab einen erstaunten Laut von sich, es gab ein metallisches Geräusch, dann ein Scheppern. Als ich zur Seite blickte, sah ich, wie die Pistole zu den Gleisen schlitterte, und ins Gleisbett fiel. Von der Seite hinter der Säule hörte man jetzt Stimmen. Es klang wie übermütige Jugendliche. Das war meine Chance, denn er stand immer noch staunend da. Ich begann meine Flucht, um die Säule drumherum zum Ausgang. Aber Solco hatte sich mittlerweile aus seiner Schockstarre gelöst und rempelte mich von seitlich hinten an. Ich landete hart auf dem Boden und überschlug mich, blieb kurz vor der Kante zu den Gleisen liegen.
Schon war Solco über mir. Es war kurz vor dem Tunnelende. Man hörte bereits die U-Bahn heran rumpeln. Jeden Moment müsste sie aus dem Tunnel rasen. Solco war über mir. Er drückte mich Richtung Gleise, mein Kopf hing nun darüber. Wenn die U-Bahn kommt, würde ich das nicht überleben. Mein Herz raste. Ich wollte ihn abschütteln, aber er war zu stark, zu schwer, hielt meine Hände fest. Und wieder kamen die Worte meines Trainers Sven in meine Gedanken. 'Sind eure Hände fixiert, benutzt eure Beine und Füße'. Meine Schuhe waren vermutlich nicht besonders gut geeignet, denn ich hatte ziemlich hohe Hackenschuhe an, aber ich musste es versuchen. Ich hob mein rechtes Bein an, und trat zu. Ich traf ihn genau mit dem spitzen Hacken, und zwar in sein Ohr. Er schrie auf und ich konnte ihn abwerfen, sprang selber auf, und floh in Richtung der Stimmen. Jetzt sah man die Leute auch schon. Ich rannte wie der Teufel auf sie zu. Ein Blick zurück: Solco hatte sich wieder aufgerappelt. Er versuchte, seine Pistole aus dem Gleisbett zu fischen. Die ankommende U-Bahn rumpelte immer lauter. Ich lief weiter auf die Gruppe zu. Es waren vier Mädels und drei Jungen, alle so an die 16 bis 17 Jahre alt.
Auf einmal bekamen sie vor Schreck geweitete Augen, blieben stehen, eine von den Mädchen schrie auf, kreischte in einer irren Lautstärke, zwei andere hielten sich die Hände vor das Gesicht. Bestimmt hatte er jetzt seine Pistole herausgefischt und würde auf mich schießen. Ich erwartete die Kugel, zitterte schon beim Laufen. Auf einmal ertönte ein ohrenbetäubendes Quietschen, dann gab es einen Knall, einen vielfachen Aufschrei, dann mehrstimmiges Kreischen, Quieken, laute Rufe, und die Gruppe vor mir, die ich nun fast erreicht hatte, stand wie erstarrt da. Vor Schreck erstarrt. Ging die Kugel daneben? Ich rannte an ihnen vorbei, erst dann drehte ich mich um. Was ich sah, konnte ich erst nicht glauben. Der Zug kam gerade zum Stehen, und auf dem Bahnsteig lag ein Mensch. Solco. Oder eher das, was von ihm übrig war. Dort, wo vorher sein Kopf gewesen war, da war nur noch ein rotes Etwas. Dann erst begriff ich. Der Zug war gegen seinen Kopf geknallt! Zwei mutige Menschen, die auf dem Bahnsteig waren, gingen zu ihm hin und schauten ihn sich aus der Nähe an. Andere Passanten telefonierten.
"Hallo? Hallo?" Zwei Jungen von der Gruppe hatten sich zu mir umgedreht und sprachen mich an. "Hat der sie verfolgt?", fragten sie mich.
Ich nickte. "Ich hab ihn umgebracht", sagte ich, und setzte mich auf die Steinstufen. Ich war jetzt völlig weggetreten. Tränen flossen. "Hab ihn umgebracht", murmelte ich in einer Tour. Eine von den Mädchen setzte sich neben mich und legte mir ihre Hand auf meine Schulter.
"Haben sie nicht", sagte sie leise zu mir. "Ich hab es gesehen. Das waren sie nicht. Das war er selber. Sie kannten ihn?"
"Ich hab ihn umgebracht!"
"Nein, haben sie wirklich nicht." Ganz sanft erklang ihre Stimme. Sie wiederholte es mehrmals, und langsam beruhigte ich mich. Aber immer mehr liefen meine Tränen, immer heftiger. Ganz leise war bereits das Tatütata zu hören, verstärkte sich, verdoppelte, verdreifachte sich. Immer mehr Fahrzeuge mit Sondersignal waren zu hören. Dann tauchten erste Polizisten von meinem Rücken her auf, vorsichtig gingen sie die Treppe herunter, sie schienen die Lage zu sondieren. Sie fragten die Truppe etwas, was ich hörte, aber nicht verstand. Es hatte wohl mit dem Geschehen da unten zu tun. Sie nickten zu ihren Fragen, oder schüttelten auch mal den Kopf. Dann gingen sie herunter, es waren vier Beamte, zwei weitere Polizisten tauchten noch von hinten auf und blieben bei meiner Gruppe stehen. Die unten stehenden hatten ihre Waffen nicht gezogen, hatten aber ihre Hände an ihren Halftern. Da tauchten auch von der anderen Seite her Polizisten auf, diese schienen sich miteinander zu verständigen, einer sprach in sein Funkgerät. Zwei von denen gingen zum dort liegenden Solco hin, schauten ihn sich an, schüttelten den Kopf. Die Blutlache an seinem Kopf war auch schon größer geworden.
Jetzt tauchten auch zwei Rettungssanitäter auf, gefolgt von einem Notarzt hasteten sie zu Solco hin, beugten sich über ihn, untersuchten ihn, schüttelten dann auch den Kopf, und legten anschließend eine Rettungsfolie über ihn, ohne sonst was zu machen. Zwei von den Polizisten kamen jetzt wieder hoch. "Wer von ihnen hat das gesehen?", fragte die Frau von den beiden Polizisten. Sie sah aus, als ob sie einen türkischen Hintergrund hatte, sprach aber akzentfrei Deutsch, war also mit Sicherheit hier geboren. "Wir alle", sagte ein Mann aus der Gruppe. "Wir kamen gerade die Treppe herunter, aber die Frau hier kam von dort unten. Ich glaube, sie ist vor ihm geflohen."
"Aha", sagte der männliche Polizist, ging um die Gruppe drumherum, ich saß ja hinter denen, mit Ausnahme der jungen Frau, die immer noch neben mir saß und ihre Hand auf meiner Schulter belassen hatte. "Können sie reden? Sie sind?"
"Stiefmutter. Jens Mehnert."
"Der heißt Jens Mehnert und Sie sind die Stiefmutter?"
"Nein. Ich bin die Stiefmutter und muss mit Jens Mehnert reden."
"Ist das ihr Mann?"
"Nein. Das ist ihr Kollege. Ich will mit dem reden! Muss mit dem reden! Ich hab den umgebracht!"
Der Polizist rief nach unten. "Kennt jemand einen Polizisten mit Namen Jens Mehnert?"
"Ich", rief es von unten. Die Person konnte man nicht sehen, aber er kam jetzt hoch. Ein Streifenpolizist. "Der ist beim KDD", rief er nach oben.
"Zentrale, bitte kommen!", sprach der bei mir stehende Polizist in sein Funkgerät.
"Hier Zentrale."
"Einsatzort U-Bahn Jungfernstieg, Lage geklärt, tödlicher Unfall, möglicherweise Suizid, Zeugin und vermutlich Beteiligte will nur mit Jens Mehnert vom KDD sprechen. Könnt ihr den organisieren?"
"Wir versuchen es. Over und Ende."
Mittlerweile waren die Rettungsanitäter von Solco weggegangen und kamen auf mich zu. Einer der Polizisten zeigte auf mich. "Kümmert euch mal um die. Ich glaube, die steht unter Schock. Sie behauptet, sie hätte ihn umgebracht, aber die Zeugen sagen alle was anderes."
Sie kamen heran. "Hallo, sind Sie ok? Können Sie mir ihren Namen sagen?"
"Jens Mehnert."
"Sie heißen Jens Mehnert?" Ich schaute in sein skeptisches Gesicht.
"Ich will Jens Mehnert sprechen. Ich heiße Sandra Neuhaus. Und ich habe den da umgebracht."
"Kommen sie erst mal zum RTW mit. Können sie gehen?" Ich nickte, er fasste mich unter die Arme und ich schleppte mich die Treppe hoch, hatte kaum Energie. Ich setzte mich auf die Ladefläche. Irgendwie erinnerte mich die Situation an den aus dem Ruder gelaufenen Einbruch damals und an die dramatische Aktion mit dem Apothekerehepaar. Aber nun war es etwas anderes. Ein Verwandter war tot, meinetwegen. Dass ich nur Stiefmutter war, das zählte da nicht. Auch wenn ich ihn nicht direkt getötet hatte. Er war tot! TOT! Wie sollte ich denn mit dieser Schuld Andrea gegenübertreten? Meine Gedanken fuhren mal wieder Karussell, nein, schlugen Purzelbäume. Sehr energische, schwindelig machende Purzelbäume. Die Frau von den beiden Rettungssanitätern setzte sich jetzt neben mich, der Mann von denen blieb vor mir mit ein wenig Abstand stehen und schaute mich traurig an. Ich musste ja wirklich ein Bild des Jammers bieten.
"Geht's wieder ein wenig?", fragte sie. In diesem Moment kamen noch zwei andere Rettungswagen vorgefahren, stellten sich neben den RTW, in dem ich saß . Deren Sanis stiegen aus und gingen Richtung Bahnsteig hinunter, nachdem sie die anderen beiden Sanis von meinem RTW begrüßt hatten. Ich reimte mir zusammen, dass da wohl etliche Leute, die auch auf dem Bahnsteig waren und das mitansehen mussten, einen Schock bekommen hatten. Ein weiterer Wagen kam und stellte sich auch dorthin, wo man sonst nicht stehen durfte. Auf den Bürgersteig. Vier Leute stiegen aus. Den einen kannte ich. Es war einer der Spurensicherer von damals. Sie zogen sich ihre weißen Anzüge an und gingen dann mit ihrem Equipment Richtung Bahnsteig hinunter. Ich nickte zu ihrer Frage. "Wollen sie was trinken? Ein Wasser?" Ich nickte erneut. Meine Kehle fühlte sich tatsächlich sehr trocken an. Der männliche Sani ging wohin und kam mit einer Plastikflasche wieder, schraubte sie auf, gab sie mir. Ich trank daraus. Mehr mechanisch, als bewusst. "Kannten sie den?", fragte die Frau von den Sanitätern.
"Ja. Das ist mein Stiefsohn. War."
"Oh Mann! Der hat sie angegriffen? Oder was war da los?" Ich konnte nicht antworten. Jetzt kamen wieder die Tränen. War das was Psychologisches, oder musste ich erst den Flüssigkeitsnachschub bekommen? Merkwürdig, was einem in der Situation so für Gedanken im Kopf herumgingen. Die beiden Sanis begannen jetzt, miteinander zu reden. Ich bekam nichts mit, also ich hatte nichts behalten. Irgendwie fühlte ich mich wie in einem Kokon, außerhalb tobte das Leben, innerhalb blieb die Zeit stehen. Komplett abgeschottet von der Welt. Später erfuhr ich, dass so etwas bei einem Schock passieren kann. Ich sah alle möglichen Leute kommen und gehen, konnte mich später aber nur noch an die hektische Betriebsamkeit erinnern, und nicht an irgendwelche Einzelheiten. Und dann, es war scheinbar kaum Zeit vergangen, trugen zwei Leute so einen Sarg nach oben. Gleichzeitig hörte ich von der Seite eine Stimme.
"Sandra?" Ich blickte auf, verließ meinen Kokon. Jens Mehnert! Er stand neben dem Rettungssanitäter. Die Sanitäterin saß erstaunlicherweise immer noch neben mir. Ich hatte sie gar nicht wahrgenommen, war ganz abgetaucht. Ich sprang sofort auf und fiel ihm um den Hals. "Sandra! Frau Neuhaus!" Es war ihm sichtlich unangenehm und er drückte mich sanft von sich weg. Jetzt sah ich auch, es stand noch jemand da. Seine Kollegin Paula. "Komm mit", sagte er, und ich folgte ihm, seine Kollegin auch. Er öffnete die Tür seines Vans und wies mir einen Platz zu. Er setzte sich mir gegenüber und seine Kollegin setzte sich neben ihn.
Paula riss die Sache gleich an sich.
"Ich befrage sie!" Jens protestierte nicht. "Frau Neuhaus, was ist da passiert?"
"Er wollte mich umbringen, und jetzt hab ich ihn umgebracht", antwortete ich, dabei schon wieder mit weinerlicher Stimme, so wie vorhin bei der Gruppe Jugendlicher.
"Geht es auch ein wenig genauer? Wir haben Zeugenaussagen von einigen Leuten, die aussagen, dass sie ihn nicht umgebracht haben. Kennen sie ihn?"
"Er heißt Mario Bulosio."
"Also dieser Solco!", grätschte Jens dazwischen, und fing sich einen giftigen Blick von ihr ein.
"Wie genau stehen sie zu ihm?"
Jens wollte schon was sagen, aber ich war schneller. Ich wollte nicht, dass er noch mehr Ärger mit ihr bekommt. "Er ist sozusagen mein Stiefsohn, den ich nach dem Tod meines Mannes von ihm geerbt hatte. Einer von den beiden."
"Also hat er noch einen Bruder?"
"Ja, der heißt Andrea."
"Und wo finden wir den?"
"Jens weiß von ihm, kennt ihn. Der wohnt bei mir mit im Haus. Er ist Musikstudent."
"Dieser Mario wohnte also nicht bei ihnen?"
"Nein, der war verschollen. Bis heute. Also, einmal kurz hatte ich ihn schon gesehen, da hatte er mich auch schon angegriffen. Auf dem Friedhof. Damals mit einem Messer. Ist auch aktenkundig."
Jens nickte. "Ich kenne den Fall", sagte er. "Messerangriff und Würgen auf dem Friedhof Ohlsdorf, Tatverdächtiger war dann geflohen und mit Haftbefehl gesucht, aber untergetaucht."
"Und womit heute?"
"Mit einer Pistole."
"Und da leben sie noch?" Sie sah jetzt sehr zweifelnd aus.
"Er kam ja nicht mehr dazu, die abzufeuern!"
"Die anderen Zeugen haben auch keinen Schuss gehört. Wie lief das also ab?"
"Na, ich war da im Einkaufszentrum und wollte nach Hause fahren, da stand der auf ein mal vor mir. Er hat mich mit der Pistole gezwungen aus dem Bereich der Kamera zu gehen und mich damit bedroht. Und er hat gesagt, dass er mich jetzt umbringen wird. Da hab ich mich dann gewehrt."
"Wie haben sie denn das geschafft?" Wieder sah ihr Gesicht sehr zweifelnd aus.
"Im Selbstverteidigungskurs haben wir gelernt, wie man sich gegen so etwas zur Wehr setzt!"
"Und da waren sie die beste?"
"Nee, da war ich immer die schlechteste. Trat immer daneben."
"Heute also nicht."
"Nein, heute nicht. Vielleicht wegen der Schuhe."
Sie warf einen Blick auf diese. "Und was passierte dann weiter?"
"Die Pistole flog durch meinen Tritt zu der einen Seite des Bahnsteigs und fiel dort in das Gleisbett. Ich versuchte zu fliehen, dann hat der mich aber angerempelt. Ich habe mich mehrfach überschlagen und kam vor der Kante des Bahnsteigs zu liegen. Dann ist der auf mich drauf, hat mich festgehalten. Mein Kopf hing darüber und man hörte schon die Bahn kommen. Die hätte mich fast erwischt!" Ich fing jetzt an zu heulen, fing mich dann aber wieder und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Sie wartete geduldig.
"Gehts wieder?"
Ich nickte. "Ich hab ihm dann den Hacken meines Schuhs in das Ohr gerammt, dadurch konnte ich ihn abwerfen und setzte meine Flucht zum Ausgang fort. Da kam gerade eine Gruppe Jugendlicher. Es gab einen Knall und dann hab ich mich hinter denen versteckt. Und dann lag er da. Ich hab ihn umgebracht, oder? War es der Rückstoß vom Schuss?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, gar nicht. Sie haben alles richtig gemacht. Sie trifft kein Verschulden. Moment mal!" Sie öffnete die Tür und sagte zu einem Mann in Zivil, wohl einem Kollegen von ihr: "Geh mal zum Bahnsteig runter. Sie sollen im Gleisbett eine Pistole suchen. Die muss da hineingefallen sein."
"Okay, mache ich, aber dann muss der Zug erst mal weg! Die Videos vom Bahnsteig haben wir euch schon zugeschickt!"
Sie zog die Tür wieder zu, zückte ihr Handy. "Wollen sie mal schauen?" Sie hielt es mir hin. Da lief ein Film. Der Bahnsteig. Man sah mich von hinten kommen. Dann blieb ich wie überrascht stehen, ging hinter die Säule. Eine halbe Minute später schlitterte etwas Kleines, Dunkles zum Bahnsteig und verschwand dann. Offenbar die Pistole. Man sah, wie ich um die Ecke der Säule lief, jetzt mit Sicht von vorne. Solco rammte mich von der Seite. Ich kullerte Richtung Bahnsteig. Er schwang sich auf mich. Wir rangen miteinander. Dann hob ich mein Bein, traf ihn. Er fasste sich schmerzerfüllt an das Ohr, ich warf ihn ab, und nahm die Beine in die Hand. Er beugte sich zum Bahnsteig hinunter und versuchte, die Pistole herauszufischen. Ich verschwand aus dem Bildfeld. Auf einmal kam eine Bahn von hinten seitlich heran. Er schaute überrascht auf. Die Bahn traf sein Gesicht. Er wurde umhergeschleudert und blieb dann regungslos liegen. Mehrere Personen traten von der anderen Seite her an ihn heran. Zwei von denen telefonierten nun. Sie nahm das Handy wieder aus meinem Sichtfeld.
"Haben sie es gesehen? Sie haben ihn nicht umgebracht. Er war es selbst, war unvorsichtig. Was wollte er von ihnen?"
"Rache. Er war rachsüchtig. Beim ersten Treffen hat er nicht bekommen, was er wollte, da ich es nicht hatte."
"Die Drogen", sagte Jens jetzt. Dieses Mal kein böser Blick seiner Kollegin.
"Die Drogen oder ersatzweise Geld. Beides hatte ich nicht. Ihr Kollege kennt den Vorgang. Und jetzt war er sauer, da ich ihn in den Untergrund gezwungen hatte, meinte er. Er wollte mich deswegen erschießen."
Sie tröstete mich, indem sie ihre Hand auf meinen Arm legte. "Ich bin froh, dass er es nicht geschafft hat."
Ich seufzte. "Ich auch. Und nun muss ich seinem Bruder erklären, dass ..."
"Ich mache das", sagte Jens.
"Nein, wir machen das", sagte Paula. Sie nahm ihr Handy und rief wo an. "Wir brauchen jemanden vom Kriseninterventionsteam", sagte sie. Mich fragte sie: "Wohnen sie immer noch da am Heegbarg die Straße runter?"
"Ja, Saselbergweg 37b."
"Bitte schickt den zum Saselbergweg 37b." Dann legte sie auf. "Haben sie alles dabei?", fragte sie mich.
"Da unten müsste noch mein Einkauf liegen", sagte ich. "Ich kann da jetzt aber nicht runter!"
"Kein Problem. Ich mache das. Was war es?"
"Es war so eine grüne Papiertüte mit einigen Klamotten drin. Ich habe sie beim Kampf einfach fallen lassen, gleich zu Anfang, da bei dem Pfeiler."
"Gut. Ich schaue mal." Sie öffnete die Schiebetür des Vans und ging hinaus, machte die Tür wieder zu.
Jens schaute mich ganz besorgt an. "Wie geht es dir? Du denkst doch jetzt nicht wirklich, dass du ihn umgebracht hast, oder?"
"Na ja, nicht direkt. Aber ich habe ihn ja erst mit der Nase auf mich gestoßen. Sonst hätte der mich doch nie gefunden oder von mir gewusst. Somit wäre es auch nicht zu den Ereignissen gekommen."
"Das weißt du doch gar nicht, ob es so gekommen wäre! Vielleicht hättest du es ja geschafft, ihn zu bekehren. Solche Fälle hat es schon gegeben. Niemand wusste, was passieren würde!"
"Trotzdem! Und wenn ich das mit dem Messer nicht erwähnt hätte ..."
"Dann hätte er irgendwann jemand anders umgebracht. Oder dich später. Vielleicht sogar Andrea. Wolltest du das?"
"Nein. Natürlich nicht. Trotzdem!"
"Sandra, nimm dir das nicht so zu Herzen. Es gibt Leute, die wollen es einfach nicht anders. Er kannte die Gefahr und hat sich einen Dreck um andere geschert. Dieses Ende musste ja so kommen!"
"Du hast ja recht." Er rutschte an mich heran und nahm mich in den Arm. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Ich sagte nichts, er aber auch nicht. Dann wurde die Schiebetür wieder geöffnet. Es war die Kollegin von Jens. Sie schaute ein wenig missbilligend zu ihm, hatte in der Hand meine Tüte, und in der anderen eine Plastiktüte mit einer Pistole.
"Wir haben sie gefunden", sagte sie. "Lag im Gleisbereich unten genau an der Kante. Das Kriseninterventionsteam kümmert sich schon um die geschockten Zeugen. Auch um den Bahnfahrer. Den Rest machen Mehmet und Helen. Ich geb den mal zur SpuSi und dann können wir los." Sie ging noch mal los, ließ die Tür aber offen. Nach kurzer Zeit kam sie wieder. "Fährst du?", fragte sie Jens.
Der sagte: "Ja klar", und sie warf ihm den Schlüssel zu. Sie setzte sich zu mir rein, schnallte erst mich, dann sich an, und Jens fuhr los. Sie wollte wohl verhindern, dass wir uns zu sehr annäherten. Aus ihrer Sicht machte das sicherlich Sinn, aber die Nähe von Jens hätte ich schon gerne noch länger genossen, einfach zum Trost. Und wieder war es so eine Fahrt, wo ich zwar was sah, aber das Gesehene gar nicht wahrnahm, da ich so in mich gekehrt war. Dem Tod wieder einmal von der Schippe gesprungen. Das mit Solco ... Wir standen uns ja nicht wirklich nahe, Andrea hatte ihn auch ewig nicht mehr gesehen, aber trotzdem würde es für ihn wohl ein Schock sein. Dann waren wir angekommen. Während der Fahrt hatte ich mich wieder ein wenig beruhigt, aber die Angst vor Andreas' Reaktion schnürte mir die Kehle zu. Wie würde er wohl reagieren? Wir stiegen alle aus. Vor uns stand bereits ein anderes Auto, aus dem eine Frau ausstieg. Die gehörte wohl zum Kriseninterventionsteam. Es war eine andere als damals bei der Todesnachricht von Uwe.
Jens ging zielstrebig auf den Eingang zu. Ich zückte meinen Haustürschlüssel, aber Jens hatte auch schon den Klingelknopf gedrückt. Wir gingen ins Haus, und da kam auch schon Andrea die Treppe herunter. "Ist was passiert?" In seinen Augen begann sich bereits Entsetzen zu bilden. "Mario? Mein Bruder Mario? NEIN! NEIN!!!" Er ließ sich genauso in den Sessel sinken, wie ich damals, hielt sich die Hände vor den Kopf.
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Teil21: Die Todesnachricht und die Befragung
"Herr Bulosio, es tut uns leid, ihr Bruder ist ums Leben gekommen, als er ihre Stiefmutter angegriffen hat. Sie hat nicht ..."
"NEIN! WIESO MACHT DER IMMER SOWAS?" Er schrie sich jetzt seine Wut heraus. Ich setzte mich neben ihn auf die Lehne und die Frau vom Kriseninterventionsteam streichelte kurz seinen Arm. Endlich nahm er seine Arme herunter.
"Hast du es gesehen?", fragte er mich.
"Nein, nur gehört. Ich war geflohen, dachte jeden Moment, er knallt mich ab. Aber er hatte seine Waffe nicht mehr herausfischen können."
"Wie ist es passiert?"
"Die U-Bahn ist gegen seinen Kopf geknallt. Die Kripo hat einen Film, aber es ist wohl besser, wenn du ihn dir nicht anschaust." Oben ging die Tür auf und Lena und Oliver erschienen. Ach ja, heute war ja Probentag. Lena sah sofort das Dilemma und sprintete zu ihm hin, umarmte ihn. Sie ahnte wohl, was passiert war. Oliver stand ein wenig verloren in der Wohnung herum. Ich ging zu ihm hin. "Komm, Oliver, pack mal deine Oboe ein. Die nächsten Proben werden wohl ausfallen. Ich glaube nicht, dass Andrea jetzt dazu in der Lage ist. Ruf mal nächste Woche wieder an, ja?" Oliver nickte, und zwei Minuten später kam er mit seinem Oboenköfferchen herunter und ich ließ ihn heraus. Andrea hatte sich wohl mittlerweile ein wenig gefangen, saß jetzt auf der Couch, Lena daneben, Jens und seine Kollegin in einem Sessel, die andere Frau stand immer noch. Sie stellten ihm noch einige Fragen, es ging wohl darum, ob er noch mal Kontakt zu ihm hatte. Er schüttelte den Kopf. Hätte mich auch gewundert. Auch wenn es Zwillinge waren, gemeinsam hatten sie nur wenig, außer dem Aussehen.
Jens bat uns dann, morgen noch zur Polizeiinspektion zu kommen, und dann verschwanden die drei. Die Frau vom Kriseninterventionsteam drückte mir noch so ein Kärtchen in die Hand, ähnlich dem, welches ich damals bekommen hatte.
"Soll ich denn heute hierbleiben?", fragte Lena.
"Na klar! Andrea braucht dich heute!" An den Probetagen fuhr sie normalerweise nach Hause und war nur am Wochenende über Nacht da. Sie gab Andrea mit einer Kopfbewegung zu verstehen, wieder ins Zimmer zu gehen, und dann verschwanden die beiden. Ich musste noch herunterkommen. Ich hörte noch eine ganze Weile leise klassische Musik, erst dann machte ich mich schlaf fertig und ging ins Bett. Aus Andreas Zimmer war kein Laut zu hören. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass er jetzt schlafen würde. Wie ich dann merkte, konnte ich das auch nicht. Wieder jemand tot! Würde das denn nie enden? Ich wälzte mich hin und her und wachte am Morgen wie gerädert auf. Selbst die Dusche half heute nicht. Während ich das Frühstück machte, hörte ich von oben Lebenszeichen.
Lena kam als Erste hinunter. Ernste Miene. "Wie geht es ihm", fragte ich. "Hat er es einigermaßen verdauen können? Zwillinge sind ja immer so eng."
"Er ist gefasst. Aber hinter seiner Fassade ..." Den Rest ließ sie offen und ich auch.
"Und du?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Es ist das erste Mal, dass ich mit so etwas konfrontiert werde. Ich weiß gar nicht, was man da macht, was von einem erwartet wird."
"Einfach nur da sein ist besser als nichts zu machen. Also hast du bis jetzt alles richtig gemacht."
In diesem Moment kam auch Andrea die Treppe herunter. "Morgen." Das klang zwar ziemlich mürrisch, was anderes hatte ich auch nicht erwartet, war aber noch akzeptabel. "Du Sandra, ich wollte mich entschuldigen für mein Ausflippen gestern. Es muss sich ja für dich so angehört haben, als ob ich dich ..."
"Nein, so war es nicht. Alles okay. Du warst wohl einfach zu schockiert. Glaub mir, das war ich auch. Ich bin im Nachhinein froh, dass ich es nicht direkt gesehen habe, sondern nur als Film von dieser Überwachungskamera."
"Wie ist es denn genau passiert? Kannst du mir das sagen?"
"Willst du was essen? Beide?"
"Wir können es ja versuchen", sagte Lena an seiner Stelle. Vermutlich wollte sie vorpreschen, um ihn mitzunehmen. Frauen haben oft einen siebten Sinn in solchen Situationen. Ich steckte also einige Toastbrote in den Toaster. "Kaffee auch?", fragte ich. Beide nickten. Ich hatte erst einmal damit zu tun - für mich machte ich natürlich auch einen starken Kaffee - und hatte somit Zeit, mich zu sortieren.
"Also ich war gestern in der Europapassage einkaufen, und als ich mit der U1 zurückfahren wollte, stand Mario auf einmal hinter einer Säule und bedrohte mich mit einer Pistole, ließ mich zu ihm hinkommen. Dann sagte er, dass er mich erschießen will, da ich verantwortlich dafür sein soll, dass er auf seiner Flucht untertauchen musste, und ..."
"Das heißt, er hat auf dich gewartet, wusste, dass du kommst, hat dich vielleicht beobachtet und verfolgt?"
"Schwer vorstellbar, dass es anders sein könnte. Äußerst unwahrscheinlich. Ich hatte ihn aber nicht bemerkt. Jedenfalls konnte ich seine Pistole wegtreten, ehe er sie abfeuern konnte."
"Dein Selbstverteidigungskurs ...", merkte Andrea an.
Ich nickte. "Die Pistole schlitterte ins Gleisbett. Ich floh, aber Mario brachte mich zu Fall. Auf einmal hing mein Kopf über dem Gleisbett und eine U-Bahn ratterte hörbar heran, noch im Tunnel fahrend. Ich konnte ihm den Hacken meines Schuhs in das Ohr rammen und mich somit befreien. Ich bin dann auf eine Gruppe Jugendlicher zugerannt, die gerade die Treppe herunterkam. Die wären dann in der Überzahl gewesen, da hat er sich wohl nicht getraut, mir hinterherzulaufen. Stattdessen hat er nach seiner Pistole geangelt, aber die U-Bahn kam dann wohl zu schnell aus dem Tunnel. Das hab ich aber nicht gesehen, nur gehört. Ich war ja noch auf der Flucht, das war hinter meinem Rücken. Die Jugendlichen haben es gesehen, aber ich weiß nicht, ob ..."
"Danke Sandra. Ich glaube nicht, dass ich deren Schilderungen hören will. Wie geht's denn jetzt weiter?"
"Wir fahren gleich in die Polizeiinspektion. Ich muss meine Aussage noch protokollieren lassen, an dich haben sie sicher auch einige Fragen. Willst du so lange hierbleiben, Lena?"
"Nee, ich fahre erst mal nach Hause. Uni macht heute keinen Sinn. Würde eh nichts mitkriegen."
"Gut Lena. Pass auf dich auf. Kommst du nachher wieder? Ich glaube, Andrea könnte heute ein wenig Trost vertragen. Wir rufen dich an, wenn wir wieder da sind, ja?" Lena warf noch einen Blick auf Andrea, gab ihm einen Kuss, und ging aus dem Haus. Auch wir machten uns nun fertig, stiegen in meinen Wagen, und fuhren zum Polizeigebäude. Am Empfang fragte ich gleich nach Herrn Mehnert. Oben in seinem Bürobereich angekommen, wartete er bereits auf uns.
"Nochmal mein Beileid", sagte er, und drückte sowohl Andrea als auch mir die Hand. Er ging zu seinem Schreibtisch hin, auf der anderen Seite saß Paula, die stand auf und rief: "Britta." Es war eine schwarzhaarige Kollegin von ihr, so um die 50 oder mehr, in ihrer Haarpracht gab es schon einige graue Strähnchen.
"Kommen Sie mit, Frau Neuhaus." Die Britta genannte folgte. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Jens sich einen südländisch aussehenden Kollegen schnappte, und mit Andrea auch auf den Gang ging. Es ging in einen Verhörraum. Paula startete mit "Zeugenbefragung Sandra Neuhaus", fügte noch das Datum, die Tätlichkeit und ihren und den Namen ihrer Kollegin an. "Frau Neuhaus: Was ist passiert? Bitte schildern Sie den ganzen Vorgang aus Ihrer Sicht. Ich werde gegebenenfalls einige Zwischenfragen stellen."
"Na ja, ich war in meinem Geschäft, habe dann relativ früh Feierabend gemacht, da ich noch in der Europapassage einkaufen wollte, war da in mehreren Geschäften, und als ich fertig war, wollte ich mit der U-Bahn nach Hause fahren. Die S-Bahn hat ja Schienenersatzverkehr und so ..."
"Schon klar", sagte Paula. "Fahren Sie fort."
"Da trat Mario auf ein mal aus dem toten Winkel des Stützpfeilers hervor. Er hatte eine Pistole in der Hand und machte mit der eine Bewegung Richtung hinter dem Pfeiler. Ich bin da also dahin und ... hat man das nicht im Überwachungsvideo?"
"Nein, das mit der Pistole kann man da nicht ... also nur erahnen."
"Okay, also dann sagte er unumwunden, dass er mich jetzt erschießen will und ..."
"Können sie den genauen Wortlaut wiedergeben?"
"Ja. 'Jetzt bist du dran', hatte er gesagt. Gleich am Anfang. Beim Wink mit der Pistole. Und dann habe ich gesagt: 'Was willst du? Ich hab deine verdammten Drogen nicht! Und kein Geld! Meine Rücklagen sind in die Hypothekenrückzahlung geflossen, die ich immer noch zurückzahle.' Und dann sagte er: 'Na was schon! Du bist dran! Richtig dran! Deinetwegen musste ich untertauchen und im Untergrund leben! Weißt du, wie blöd das war?' Und darauf sagte ich: 'Das kann ich verstehen. Die Zeugen haben das gesagt, diese Männer auf dem Friedhof. Wieso musstest du denn das auch machen? Differenzen kann man doch auch friedlich lösen!' Das hat er aber nicht gefressen. Er sagte: 'Das warst du gewesen! Das mit dem Messer wussten die doch gar nicht!' Und dann hat er gesagt, dass ich sterben werde. Ich habe ihn angefleht, es nicht zu machen. Dann schaute ich, ob ich irgendwie fliehen kann, und habe mich umgedreht. Und dabei fiel mir der Trick aus der Selbstverteidigung ein. Mein Fuß traf die Waffe und die schlitterte weg, ohne dass sich ein Schuss löste. Glaube ich jedenfalls. Ich wollte weglaufen, aber der hat mich so stark angerempelt, dass ich ... dass ich kullerte und dann mein Kopf über dem Gleisbett hing. Beim Kampf ... aber das zeigt ja das Video, oder?"
"Ja, das war zu sehen. Ist vom Notwehrparagraf gedeckt. Es trifft sie keine Schuld. Er war also vor ihnen dort, ja?"
"Ja, vor mir, da unten."
"Das heißt, er ist ihnen nicht gefolgt?"
"Offenbar nicht."
Ihre Kollegin schaltete sich ein: "Wusste jemand davon, dass sie einkaufen wollten?"
"Nein, niemand. Das hatte ich zwar vorgehabt, aber niemand wusste davon."
"Der wusste aber, dass sie dort kommen würden. Er hatte ja auf sie gewartet."
"Keine Ahnung. Vielleicht folgte er mir vom Laden. Gab ja eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ich vom Laden komme. Er war mir ja schon mal gefolgt. Damals war es wohl von meinem Haus aus gewesen. Aber er könnte ja auch vorher ausgekundschaftet haben, wo mein Laden ist."
"Fahren sie denn sonst auch von dort zurück, wenn sie im Laden Feierabend machen?"
"Nein, sonst vom Gänsemarkt. Zur Europapassage bin ich aber zu Fuß hin, das geht am schnellsten."
"Warum hat er denn da versucht, sie umzubringen, und nicht irgendwo sonst?", fragte nun wieder Paula.
"Keine Ahnung, was in solchen kranken Hirnen vor sich geht. Vielleicht dachte er ja, dass er von da schnell verschwinden und in den Menschenmassen untertauchen kann. Halt, Moment: Jetzt weiß ich wieder. Ich war ja schon von der Europapassage auf dem Weg zur Station Jungfernstieg, da bin ich noch mal umgedreht und in diesen Perlenladen rein. Da hat er sich wohl gedacht, ich komme dann wieder dorthin."
Paula seufzte. "Das könnte sein, ja. War das alles?"
"Ja, alles. Halt, da fällt mir noch was ein! Er hat da etwas Merkwürdiges behauptet. Und zwar meinte er, also er glaubte, er habe seinen Vater, also Uwe Neuhaus, beim Unfall von der Unfallstelle weghumpeln sehen und dachte deswegen, dass ich ihn irgendwann später umgebracht habe. Aber das kann nicht sein, da er ja beim Unfall im Autowrack gestorben ist. Er hat ja damals beim ersten Angriff auf mich dessen Grab auf dem Friedhof gesehen."
"Wie kommt der darauf? Wo war denn der Unfall?"
"In Italien. Ist in eine Schlucht gestürzt. Ist aktenkundig."
Paula sagte: "Moment. Ich hole mir mal die Akte. Zeugenbefragung Sandra Neuhaus: Pause. Wann war das?"
"Achter Juli 2019. Uwe Neuhaus." Paula ging, ihre Kollegin fragte, ob ich ein Glas Wasser haben will, brachte mir das dann, und verschwand. Es dauerte bestimmt eine halbe Stunde, in der ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Dann kam Paula mit ihrer Kollegin wieder. Sie hatte eine Akte dabei. Sie knallte die Akte nicht auf den Tisch, sondern legte sie ganz sanft ab. Dann blätterten beide die Akte durch. Irgendwann grinste sie, schaute mich dabei an, las weiter. Dann waren beide damit fertig.
"Zeugenbefragung Sandra Neuhaus, Fortsetzung der Befragung. Wir haben die Akte gelesen, Frau Neuhaus. Da steht aber nichts von einem weglaufenden dritten Mann. Nur ihr Mann und Frau Bollmann. Nirgendwo ist ein dritter Mann erwähnt."
"Ich habe später selber mit den Zeugen gesprochen. Nicht was sie denken ... die waren damit einverstanden. Die Frau von den beiden Zeugen hat auch angegeben, dass sie einen weiteren Mann im Auto gesehen hat. Sie war sich aber nicht sicher. Und ich habe es auch für Hirngespinste gehalten. Bis ich gestern von der Sache hörte."
"Und der Tote Mario Bulosio hat den Unfall gesehen? Da steht hier aber auch nichts von drin."
"Das ist ein wenig unsicher, aber vermutlich ja. Ich habe vor einiger Zeit einen Italiener gesprochen, der dort in diesem Labor gearbeitet hat, wo die Drogen produziert wurden. Seine Strafe hat er abgesessen. Der meinte, dass Mario meinem Mann hinterhergefahren ist, den Unfall gesehen hat, die Zeugen bejahten, dass sie so ein seltenes Auto gesehen haben, welches er damals fuhr. Er hat aber nicht in das Geschehen eingegriffen."
"Von all diesen Sachen steht aber nichts im Bericht!"
"Das kam alles erst später heraus. Die Polizei hat nicht weiter ermittelt, der Fall war ja abgeschlossen, aber ich später, privat, für mich."
"So-so. Wie sicher ist das denn? Ich meine, dass es ihr Mann war, den dieser Mario gesehen hat?"
"Er war sich selbst nicht so ganz sicher. Aber wenn er wirklich jemanden gesehen hat, muss zumindest ein dritter Mann im Auto gesessen haben. Der Italiener vom Labor, mit dem ich gesprochen hatte, gab ja an, dass ein anderer Mann die abgestellte Tasche geschnappt hatte, in der vermutlich diese Drogen waren." Ich überlegte einen Moment, ob ich erwähnen sollte, dass diese Caroline behauptet hatte, dass sie Uwe gesehen hatte, verwarf das aber gleich. Das war einfach Unfug! Der dritte Mann aber war offenbar real. Und er hatte also mit im Auto gesessen, konnte sich aber befreien. Was hatte Ricardo gesagt? Türen abgerissen? Vielleicht ja, weil mindestens eine der Türen geöffnet wurde, bevor das Auto von der schrägen Wiese in die Schlucht stürzte?
"Danke für ihre Aussage, Frau Neuhaus. Zeugenaussage Sandra Neuhaus Ende", sprach Paula noch in das Mikrofon. "Wie geht es Ihnen, Frau Neuhaus?"
Ah, jetzt kam der nichtoffizielle Teil. "Schon besser. Aber so langsam komme ich mir vor, als ob ich Verbrechen magisch anziehe. Zumindest aber Verbrecher. Mein Exmann eingeschlossen."
Ihre Kollegin Britta schaute jetzt doch ein wenig perplex aus der Wäsche. Paula nicht. Sie schaltete sofort. "Vielleicht sollten wir sie als Lockvogel einsetzen, als Honigtopf. War aber nicht ernst gemeint. So etwas ist sehr gefährlich, wie Sie schon mehrfach gemerkt haben."
"Ja, ich versuche, künftig einen großen Bogen um Verbrechen zu machen. Und wenn es nicht klappt, schule ich um auf Detektiv."
"Das wollte ich hören", sagte Paula.
"War's das jetzt? Wie gehts denn jetzt weiter?"
"Na, der Staatsanwalt bekommt das alles, dann wird er vermutlich den Fall abschließen, der Leichnam wird freigegeben, und so weiter."
"Okay." Wir waren wieder auf dem Flur gelandet, wo Andrea schon wartete. Noch saß er aber hinten im Flur. Paulas Kollegin verschwand ziemlich schnell. Paula stand noch bei mir. "Paula?" Ich sprach sie einfach so an. Sie hatte zwar ihren Nachnamen genannt, aber ich hatte ihn wieder vergessen. "Danke. Ich wollte aber mal fragen ... Warum haben sie vorhin so komisch geschaut? Sie haben gelächelt."
"Wissen sie das nicht?"
Ich schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung. Was meinen sie?"
"Ich meine das, was im Obduktionsbericht steht."
"Sie meinen den ersten, dem in Italienisch?"
"Nein, den haben wir auch in Deutsch."
"Und was steht da drin?"
"Dass ihr Mann wohl während der Fahrt Sex hatte. Jedenfalls war seine Hose offen und ..."
"Sein Penis hing raus. Wusste ich schon. Ich hatte meine Anwältin, die damals nicht so recht mit der Sprache herausrücken wollte, so lange genervt, bis sie es mir gesagt hatte."
"Schlimm?"
Ich schüttelte den Kopf. "Ist eh alles durch. Trotzdem danke, dass sie es mir nochmal gesagt haben."
"Wenn es was nicht dienstliches ist, dürfen sie mich auch duzen. Paula."
"Sandra." Ich seufzte. "So, nun will ich mal zu ihm hin", und deutete mit dem Kopf auf Andrea. Paula nickte und verschwand in einer Tür. "Na, alles gut?", fragte ich.
"Schon okay. Die haben mich befragt, aber ich wusste ja nichts. Weiß aber nicht, wie jetzt weiter ..."
"Wir bekommen Bescheid. Vermutlich wird der Fall bald abgeschlossen. Du kannst dir schon mal Gedanken machen, was wir mit den sterblichen Überresten deines Bruders machen. Soll er beerdigt werden, oder verbrannt, also Urne, und vor allem: wo? Hat vermutlich noch ein paar Tage Zeit. Komm, wir fahren nach Hause." Als wir dort gelandet waren, wartete auch schon Lena auf uns, Andrea hatte ihr Bescheid gegeben. Auch Oliver war da. "Wollt ihr üben? Heute?", fragte ich.
"Nee. Wir wollen ein Stück für Mario spielen. Zum Abschied. Es fehlt aber noch Gina." Da klingelte es schon und Gina stand vor der Tür, mit ihrem Violinenköfferchen.
"Ihr könnt im Wohnzimmer spielen", sagte ich zu allen. Die vier gingen hoch und brachten ihre Notenständer mit herunter, Gina verteilte die Notenblätter mit der Partitur. "Was spielt ihr denn da?"
"Das Dissonanzen-Quartett von Mozart. Es ist eigentlich ein Streichquartett, aber das haben wir ein wenig umgeschrieben und transponiert für Flöte und Oboe."
"Wann habt ihr das denn gemacht?"
"Na, heute Nacht."
"WOW. Na dann legt mal los."
Dann fingen sie an, und ich ahnte schon, warum sie dieses Stück gewählt hatten. Speziell der Violinteil zu Anfang hörte sich furchtbar traurig an, aber dann bekam das Werk einen anderen Charakter, und wurde fröhlicher. Geistesgegenwärtig hatte ich mein Handy gezückt und hielt mit dem darauf, ließ aber ansonsten einfach die Musik auf mich wirken. Als es zu Ende war, klatschte niemand. Stilles Gedenken, unerträgliche Stille. Ich stand dann auf, ging zu Andrea hin, umarmte ihn, genau das machten dann die anderen auch, als Erste Lena. Gina packte dann ihre Violine ein und wollte schon gehen, aber ich bat sie und auch Oliver zu bleiben, und machte allen noch einen Kaffee.
Während die Maschine durchlief, stellte ich eine Kerze auf den Tisch und zündete sie an. Und dann erzählte ich die Geschichte, denn nur Andrea und Lena hatten ja schon einen Teil davon gehört. Dann fügte ich noch an, was vorher war, und was ich über ihn wusste. Dabei stellten wir fest, dass wir eigentlich nur sehr wenig über ihn wussten, darüber, wie er seinen Tag gestaltete, ob und welche Freunde er hatte, eine Freundin, und so weiter. Selbst Andrea wusste ja eigentlich nichts mehr über ihn. Ein trauriges Leben und ein trauriger Tod. Gina und Oliver gingen dann, auch Andrea und Lena, die sagten, dass sie eine Runde um die Außenalster drehen wollten. Schön, das würde Andrea ein wenig auf andere Gedanken bringen. Bloß gut, dass Uwe das nicht mehr erleben musste.
Am anderen Tag musste ich wieder in die Firma und erzählte den Kolleginnen mein Erlebnis. Knapp war es. Nur ein klein wenig anderer Verlauf, und ich würde jetzt in diesem Sarg liegen. Alle waren sehr betroffen, und spendeten mir Trost. Zwei von ihnen hatten es auch schon in den Nachrichten gesehen, aber da wussten sie ja nicht, dass ich in die Sache involviert war. So ging es ein paar Tage so weiter. Wir versuchten Normalität. Andrea und Lena, aber auch ich. Auch Oliver kam wieder zu den Proben. Andrea war wie üblich in sich gekehrt, noch ein wenig mehr als sonst. Dann bat er mich aber, Lena war nach Hause gegangen, um ein Gespräch. Ich machte den Fernseher aus.
"Ich habe nachgedacht. Und dann nachgeforscht. Am Montag hatte ich in der Pizzeria angerufen, wo wir damals waren, und nach dem Kellner gefragt. Und den habe ich dann informiert und ihn gebeten, sich umzuhören. Um es kurz zu machen: Sein Bekannter hatte seine Fühler ausgestreckt und es stellte sich heraus, dass er da auch keine Wurzeln mehr hatte. Alle, mit denen er zu tun hatte, sind entweder weggezogen oder sitzen ein. Er hatte wohl mal irgendwann eine Freundin, aber er weiß auch nicht, wie man die finden kann. Ich denke, es ist das Beste, wenn er hier bestattet wird. Hier in Hamburg. Meinst du, das geht?"
"An mir soll es nicht scheitern! Wenn es rechtlich keine Hürden gibt. Was genau hast du denn gedacht?"
"Geht es neben meinem Vater? Wenn das was kostet ... ich zahle dir später alles zurück, wenn ich kann. Geht das?"
WOW, er hatte Vater gesagt! Und er war ein klein wenig naiv. Natürlich würde das was kosten. Ziemlich viel sogar. Aber den Wunsch würde ich ihm erfüllen. Erfüllen müssen. "Natürlich helfe ich dir aus. Ist ja schließlich dein Bruder und Uwes Sohn. Kannst es mir ja zurückzahlen, irgendwann." Kann hatte ich gesagt, nicht muss. Ich hoffte, er würde es verstehen. Am nächsten Tag machte ich eher Schluss, wir gingen zum Bestatter, dann zur Friedhofsverwaltung. Wir hatten Glück und auf einer Seite war neben Uwe noch Platz.
Am anderen Tag war mein Selbstverteidigungskurs. Ich war da längst wieder in die besseren Kreise aufgestiegen, aber von denen war nur noch Julia dabei. Ich hatte ihr natürlich erzählt, wieso ich diese lange Pause hatte. Und nun hatte ich was zu erzählen. Ich war der King! Also, die Queen natürlich. Es war jetzt schon zum zweiten Mal, dass mir der Kurs geholfen hatte. Selbst Sven und Valerie lobten mich und die Sache war natürlich Ansporn für alle, sich richtig ins Zeug zu legen. Ich ging mit Julia anschließend noch kurz was trinken, alkoholfrei natürlich, und erzählte ihr wirklich ausführlich von dem Erlebnis. Sie lud mich noch mal zum Sexklub ein, aber damit war ich durch. Ich hatte es mal gesehen und erlebt, es war nicht schlecht gewesen, aber die Anbahnungen waren mir da zu simpel, und dann noch mein verunstaltetes Bein ...
Am nächsten Tag kam der Anruf von Jens Mehnert. Fall abgeschlossen, Leichnam freigegeben. Wir fuhren dann zum Bestatter und machten einen Termin, eine Woche später. Aber dann kam es doch noch etwas anders als vorgesehen. Nach der Uni kam Andrea aufgeregt zu mir. "Sandra, es hat sich jemand gemeldet. Sie heißt Antonella."
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Teil22: Solcos Freundin
"Ja, und?"
"Das ist eine frühere Freundin von Mario. Sie hat von seinem Tod erfahren und fragt, ob sie an der Beerdigung teilnehmen darf."
"Natürlich darf sie. Warum denn nicht? Wo wohnt sie denn?"
"In Neapel, sagte sie."
"Wie will sie denn hierherkommen?"
"Das weiß sie noch nicht. Mit so einem Billigbus, denkt sie."
"Hast du ihre Telefonnummer?"
"Ja, klar. Sie hatte mich ja angerufen."
"Dann gib sie mir mal."
"Was hast du vor? Sie kann kein Deutsch. Nur Italienisch, Englisch nur rudimentär."
"Ach so, dann frag sie mal, ob ich ihr einen Flug buchen darf. Dann brauche ich dazu die Daten von ihrem Personalausweis oder Pass. Und übernachten kann sie hier, auf dem Sofa. Wie lange will sie denn bleiben?"
"Weiß nicht. Das frage ich sie dann, ja?"
"Gut Andrea, mach das." Andrea klemmte sich dann an das Telefon, und telefonierte eine ganze Weile mit dieser Antonella auf Italienisch.
"Sie sagt vielen Dank dafür. Sie würde gerne zwei Tage vor der Beerdigung kommen, und am Tag danach wieder zurück, wenn es möglich ist. Ihre Daten habe ich dir hier aufgeschrieben." Er schob mir einen Zettel rüber.
"Gut, ich kümmere mich gleich darum." Ich setzte mich an den PC und eine halbe Stunde später hatte ich alles klargemacht. Ich schickte Andrea die Dokumente, also das Online-Ticket und die Bestätigungen, und er sollte es dann an ihre E-Mail-Adresse schicken. Am Anreisetag bekam ich dann eine SMS von Andrea. 'Sie ist jetzt am Flughafen angekommen. Kannst du sie abholen? Wir haben gleich Probe und ich kann hier nicht weg.' Mist, da hatte ich ja gar nicht dran gedacht. 'Kümmere mich', schrieb ich zurück. Es war Mittag, ich war noch im Laden, gab Bescheid, und machte dann Feierabend, fuhr mit der U-Bahn los und wechselte in Ohlsdorf in die S-Bahn zum Flughafen. Ich ging zum Ankunftsbereich des Terminals. Es standen etliche Leute herum. War sie schon da? Mist, wie sollte ich mich denn bemerkbar machen? Ich hatte kein Pappschild mit. Ich blickte in die Runde. Dort in der Ecke stand eine schlanke Frau, mit lockigen, schwarzen Haaren, in einem schwarzen Kleid. Sie sah somit typisch italienisch aus. Ich ging zu ihr hin. "Antonella? Wegen Mario Bulosio? Solco?" Sie nickte, brach dann aber sofort in Tränen aus. Oh Mann! Was soll ich nur tun? Ich umarmte sie einfach, drückte sie, versuchte, sie zu trösten. Langsam hörte sie dann mit Schluchzen auf, ich löste mich von ihr, sie schaute mich mit ihren verheulten Augen an.
"Mi scusi", sagte sie. Das Wort kannte ich. Es hieß Entschuldigung. Ich lächelte, nickte ihr freundlich zu. Ich zückte mein Handy und sprach hinein. "Mach dir keine Gedanken. Ich verstehe das. Wollen wir los? Oder wollen wir noch was ... hast du schon was gegessen?"
Sie schüttelte den Kopf. Mist, was nun? Dann hatte ich eine Idee. Wir würden die S-Bahn bis Poppenbüttel nehmen, am Wenzelplatz gegenüber gab es einen Italiener. Gesagt, getan. Ich gab Antonella ein Zeichen und sie folgte mir. Sie hatte einen kleinen Rollkoffer dabei. Ich kaufte ihr auch noch eine Fahrkarte für die S-Bahn und dann fuhren wir los, und waren zwanzig Minuten später beim Italiener. Hier war Antonella in ihrem Element und konnte sich selbst etwas in ihrer Muttersprache bestellen. Sie nahm ein Nudelgericht und ich dann eine Pizza. Ich verwendete wieder meinen Handy-Übersetzer. "Bist du das erste Mal in Hamburg?"
"Ja, bisher war ich nur in Neapel, und ein mal in Rom. Ach ja, und ein mal auch in Venedig."
"Ist es denn schön da in Venedig?"
"In der Nachsaison ja. Dann ist es nicht so voll."
"Gut, das werde ich mir merken, falls ich da mal hinreise. Können wir denn über Mario reden, oder weinst du dann wieder?"
Sie lächelte gequält und sprach in den Übersetzer. "Wir sind schon länger nicht mehr zusammen. Trotzdem hat mich die Nachricht sehr erschüttert. Es tut mir leid."
"Du musst dich dafür nicht entschuldigen. Ich habe auch geweint, obwohl Mario mich umbringen wollte. Zweimal hat er es versucht."
Sie riss entsetzt ihre Augen auf. "Due volte?" Dann merkte sie, dass sie ja in das Handy sprechen musste. "Zwei mal?", kam aus dem Übersetzer.
Ich nickte. "Ein mal auf dem Friedhof, darauf hin hatte ich dann einen schweren Unfall bei seiner Verfolgung. Und das andere Mal war dann das Ereignis vor kurzem, bei dem er selbst ums Leben kam."
Sie nickte. "Andrea hat mir das berichtet. Ich weiß auch nicht ... immer wieder musste er solche Sachen machen. Irgendwann wurde es mir zu viel, und dann habe ich mich getrennt. Es war vor etwa zwei Jahren. Ich habe ihn nicht wiedergesehen, seit dem. Ich hätte ihm gerne noch ein mal gesagt, dass ich ihn liebe, aber es wirklich nicht mehr ging. Er war damals mitten im Gespräch abgehauen ..." Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
"Das Leben kann manchmal grausam sein, ich weiß das aus eigenem Erleben. Was ich dich fragen wollte: Wir wussten ja nicht, dass es dich gibt. Ist es denn in Ordnung, wenn Mario hier beerdigt wird? Es wird dann neben seinem Vater liegen."
"Sein Vater ist auch tot? Davon hatte er nichts gesagt!"
"Sogar beide. Also sein rechtlicher Vater, und sein biologischer Vater, also mein Mann. Beide starben bei Autounfällen. Der andere Unfall mit seinem rechtlichen Vater passierte erst vor etwa einem Jahr. Mario war ja verschollen und nicht auffindbar."
"Dann kannten sie Mario also nicht gut?"
"Nein, die beiden Treffen mit Mario waren nur kurz und unergiebig."
"Warum richten sie denn die Beerdigung aus?"
"Er ist doch mein Stiefsohn."
"Obwohl er sie töten wollte?"
"Er bleibt ja trotzdem mein Stiefsohn. Wissen Sie, ich mache mir Vorwürfe, dass ich vielleicht zu ungeschickt vorgegangen war. Also, dass es deswegen zu keinem normalen Gespräch kam."
Antonella schüttelte den Kopf. "Nein, er ist immer so. Wenn es nicht nach seiner Nase läuft, wird er entweder aggressiv oder haut ab. Nur im ersten halben Jahr mit uns war es anders."
"Vermutlich haben sie recht. Also, was meinen Sie nun zur Beerdigung hier?"
"Das ist wohl richtig. Sie sind ja hier, und sein Bruder auch. Ich kann mich auch gar nicht kümmern, ich studiere."
"Oh, was studieren sie denn?"
"Medizin. Ich möchte Zahnärztin werden."
"Das ist schön." Unser Essen kam jetzt, und das Gespräch versiegte. Als wir fertig waren, winkte ich nach der Bedienung. Antonella fing an, nach ihrer Handtasche zu greifen, aber ich legte eine Hand von mir auf ihre Hand, und schüttelte den Kopf, zum Zeichen, dass ich die Rechnung bezahlen will. Sie bedankte sich mit dem üblichen Zeichen, den gefalteten Händen, ich lächelte ihr zu, und machte alles klar. Ich sprach in den Übersetzer: "Wollen wir los?" Sie nickte, wir standen auf, sie schnappte sich ihren Koffer, und wechselten zur anderen Seite der Schienen, der Seite, wo auch das Alstertal-Einkaufszentrum und der Busbahnhof sind. Sie zeigte fragend auf die Busse, aber ich schüttelte den Kopf und machte das Zeichen für Schritte. Es war ja wirklich nicht weit. Gute zehn Minuten später waren wir an meinem Haus angekommen. Ich klingelte, da ich mir dachte, dass Andrea bereits zu Hause ist, und er wegen seiner Sprachkenntnisse hilfreich sein könnte. So war es auch. Als wir durch den Flur gegangen waren, kam er uns entgegen. Er und auch Lena.
Andrea ging als Erster auf sie zu. "Antonella?", fragte er.
"Sì. Tu sei Andrea?" Andrea nickte, sie umarmte ihn, oder er sie, oder sie beide sich, das war nicht so ganz klar, es fielen einige italienische Worte, und gleich darauf deutsche und italienische Tränen, die sich zu einem interkulturellen Flüsschen vereinigten. Beide stammelten mit tränenerstickter Stimme irgendwas, und Lena und ich standen ziemlich betreten daneben, und wussten nicht, was wir tun sollten. Dann endlich lösten sich beide voneinander, und Antonella nahm Lena wahr. Sie schaute zu Andrea, der irgendwas zu ihr sagte, von dem ich nur das Wort Lena verstand. Auch Lena umarmte sie. Das Tränenflüsschen, welches sich bildete, war nicht so ergiebig wie das erste, aber es floss. Dann standen wir alle vier herum. Ich räusperte mich, und Andrea nahm mich wieder wahr.
Antonella war wirklich eine typische italienische Schönheit. "Andrea! Vielleicht führst du Antonella ein wenig herum, und zeigst ihr alles, damit sie sich hier die paar Tage wie zu Hause fühlen kann. Lena kann ja mitgehen und ein wenig auf dich aufpassen." Ein erstaunter Blick von beiden zu mir, Antonella hatte das ja sprachlich nicht verstanden. Vielleicht aber auch doch. Für anziehende (oder waren es ausziehende?) Blicke brauchte man keine Übersetzung. Antonella kannte solche Blicke sicherlich und diese dürfte sie trotz ihrer Verfassung bemerkt haben, wenngleich auch vermutlich etwas erstaunt, wie man an ihrem Blick sehen konnte.
"Jjja, mache ich", sagte Andrea, bekam einen hochroten Kopf, und zog mit ihr los, führte sie durchs Haus. Ich setzte mich einfach und wartete, bis er ihr alles gezeigt hatte. Dann kamen sie alle zur Sitzgruppe, wo ich schon saß.
"Ich hole mal was zu trinken", sagte ich, stand auf, ging in die Küche, und machte vier Gläser mit alkoholfreiem Wasser voll. Sicher ist sicher. Dann trug ich diese rein und stellte sie hin. "Reines Wasser", sagte ich. "Andrea, übersetzt du immer?"
"Ja klar, Sandra, mache ich."
"Antonella, wie schaut es aus? Fühlst du dich hier wohl?"
Sie sagte etwas zu Andrea, der dann übersetzte. "Ja, es ist alles sehr schön hier. Wo kann ich denn schlafen? Gibt es ein extra Haus?"
Ich musste lachen. "Nein, kein extra Haus. Du kannst entweder in meinem Bett schlafen, dann gehe ich auf die Couch, oder du schläfst hier auf der Couch, die kann man auch ausziehen."
Eine kurze Frage an Andrea, der ihr gleich antwortete. "Das gab wohl eine kleine Irritation. Sie hatte gedacht, sie soll sich ausziehen. Ich habe es ihr aber schon erklärt."
Ich lächelte Andrea an. "Sie braucht sich ja auch nicht auszuziehen. Das machen manche Männer ja schon mit ihren Blicken. Frag sie mal, ob sie Sandra zu mir sagen möchte und ich zu ihr Antonella sagen darf."
Andrea übersetzte, und Antonellas Augen strahlten, und sie nickte. "Grazie, Sandra. Io sono Antonella."
"Sie hat sich bedankt und gesagt, dass sie Antonella ist."
"Danke Andrea, aber das habe ich schon selbst verstanden." Ich wendete mich an Antonella. "Liebe Antonella. Willkommen in meinem Haus. Ich hoffe, du wirst dich hier wohlfühlen. Auch wenn der Anlass leider ein sehr trauriger ist." Antonella wartete die Übersetzung ab und nickte dann mit ernstem Blick, sagte etwas zu Andrea.
"Vielen Dank Sandra. Ich kann gar nicht glauben, dass ich hier so freundlich empfangen werde, und dass du dich so aufopferungsvoll um die Beerdigung von Mario kümmerst. Ich schäme mich für das, war er dir angetan hat."
"Du musst dich nicht schämen. Dich trifft keine Schuld. Was willst du heute noch machen? Willst du dich ausruhen?"
Andrea übersetzte und Antonella schüttelte energisch den Kopf. "Wollen wir ein wenig spazieren gehen? Gleich hier in der Nähe ist eine grüne Oase, das Alstertal. Es ist sehr schön dort."
Andrea übersetzte, und Antonella nickte, und bedankte sich mit den Händen. "Na dann!" Wieder übersetzte Andrea. Andrea und Lena zogen ihre Schuhe an, wir alle hatten dafür gut geeignete Sneaker, und gingen los. Andrea ging dann natürlich neben Antonella, da er der einzige war, der sich mit ihr 'normal' unterhalten konnte. Lena ging neben mir.
"Na, Angst?", fragte ich sie, leise natürlich, sodass Andrea es nicht hören konnte.
"Sie sieht toll aus. Aber Andrea liebt mich. Er hatte nur anfangs Bedenken, dass ich auf Frauen stehen könnte, damals, du weißt ja. Also ich habe keine Angst."
"Es ist jetzt also alles gut zwischen euch?" Ein verwunderter Blick. "Keine Angst, das wird jetzt nicht die Frage der Stiefmutter, ob und wann ihr denn heiratet. Das hat noch Zeit. Erst das Studium zu Ende bringen, den Schritt ins Berufsleben machen. Habt ihr da schon was in Aussicht?"
"Wir wollen natürlich schauen, ob wir in einem der Stadtorchester unterkommen können." Sie seufzte. "Aber genau davor haben wir beide Angst. Es wird vielleicht nicht dasselbe Orchester sein."
"Ich verstehe den Wunsch, aber für eure Entwicklung wäre es sogar besser, wenn jeder in einem anderen Orchester unterkommt."
"Meinst du wirklich?"
"Ja klar. Das hält die Liebe frisch. Ihr würdet euch sonst irgendwann auf den Geist gehen durch die dauernde Präsenz."
"So hab ich das noch gar nicht gesehen. Ja, vielleicht hast du ja recht." Wir gingen weiter an der Alster entlang, wo ein schöner Wanderweg entlangging, dann zur Mellingburger Schleuse, und den Rest der Strecke auf dem Saselbergweg zu meinem Haus zurück. Mit Lena unterhielt ich mich natürlich weiter, jetzt aber über seichtere Themen. Andrea und Antonella, die beide hinter uns gingen, warfen wir ab und an mal einen Blick zu. Dann waren wir zurück. Ich machte den Vorschlag, zum Kaffeetrinken zu fahren. Also ab ins Auto. In der Nähe war eine beliebte Konditorei. Wir stopften jede Menge Kuchen in uns rein ... nein, natürlich jeder nur ein Stück. Es war ja klar, was Antonella nahm - natürlich ein Tiramisu. Sie schwärmte vom schönen Weg und sagte, dass es so etwas in Neapel natürlich nicht gibt. Dafür ist dort das Meer viel näher, auch wenn man in Neapel nicht überall ohne zu bezahlen an den Strand kommt. Aber so etwas gibt es in Deutschland ja auch. Mittlerweile war es schon fast 18 Uhr, das Café würde gleich schließen.
Ich wollte Antonella fragen, was sie noch unternehmen wollte, aber Andrea sagte mir, dass sie das schon besprochen hatten, und sie alle drei noch auf den Kiez wollten. Zu Hause angekommen, gab mir Antonella mit Zeichen zu verstehen, wie es mit dem Schlafen ist. Ich zeigte auf die Couch, doch Antonella schüttelte den Kopf und sagte etwas zu Andrea. "Sie fragt, wo sie sich noch eine Weile hinlegen kann zum Schlafen. Wir wollen doch erst nachher los."
"Ach so. Ich dachte, ihr wollt gleich los."
"Nein, es geht ja um das Nachtleben."
Ich gab Antonella ein Zeichen, und sie folgte mir. Ich ging in mein Schlafzimmer und zeigte ihr die unbenutzte Seite meines Doppelbettes. Antonella nickte, und blieb gleich im Zimmer, ich schaute unten noch ein wenig fern, Andrea und Lena tauchten dann auch irgendwann auf, und holten Antonella ab, mit der sie dann verschwanden. Ich machte später noch die Schlafcouch fertig und ging ins Bett. Ich war wirklich müde, und es dauerte nicht lange, bis ich einschlief. Ich rätselte nur kurz darüber, was Antonella morgen machen wollte. Irgendwann wurde ich wach. Es war ein fürchterliches Krachen zu hören. Es war ein Gewitter. Die Tür meines Schlafzimmers ging auf. Im Türrahmen erschien Antonella. Sie war lediglich mit einem Slip und einem Hemdchen bekleidet, ich sah ihren Gesichtsausdruck und verstand. Sie hatte Angst.
Ich stützte mich auf, winkte sie herein und zeigte auf die andere Betthälfte. Sie legte sich hinein und deckte sich zu. Ich, also wir, versuchten dann wieder zu schlafen, aber es ging nicht. Nach fünf Minuten oder so spürte ich, dass jemand an der Bettdecke fummelte. Antonella krabbelte an mich heran. Ich legte meinen Arm um sie. Es dauerte nicht lange, bis ich ihre gleichmäßigen Atemzüge hörte, und ich schlief dann auch ein. Punkt sechs wurde ich wach, wie immer. Ich hätte jetzt aufstehen können, aber ich wollte nicht. Ich wollte es einfach noch weiter genießen, Antonella im Arm zu halten, wie sie da so ganz verletzlich dalag. Ein paar Mal nickte ich auch noch kurz ein, aber dann stand ich doch auf, machte mich so leise wie möglich auf den Weg ins Bad, duschte, und zog mich ganz leise im Schlafzimmer an. Antonella lag immer noch da und schlief. Ich ging in die untere Etage und bereitete das Frühstück vor. Bald darauf erschienen Andrea und Lena. "Na, wie war's? Habt ihr euch von den bösen Buben ferngehalten?", fragte ich Lena.
"War nur ein böser Bube da, und der hieß Andrea." Man merkte, sie foppte ihn.
"War nicht böse. Wo ist denn Antonella? Sie ist doch auch schon aufgestanden, oder? Ist sie im Bad unten?"
"Nein, ich habe die Schlafcouch schon zurückgerüstet. Sie hatte beim Gewitter Angst und hat bei mir oben geschlafen. Das tut sie immer noch." Ich sah Lenas fragenden Blick. "Ich hab sie in Ruhe gelassen. Keine Handgreiflichkeiten." Lena lachte. In diesem Moment ging oben die Schlafzimmertür auf und Antonella erschien. Sie sah uns und kam herunter.
"Buongiorno." Wir antworteten alle. Dann sprach sie etwas zu Andrea. Er reagierte aber nicht darauf. Lena buffte ihn in die Rippen. Kein Wunder, stand doch die schöne Antonella nur mit einem Slip und Hemdchen bekleidet vor uns.
"Ach so. Also sie sagt dir Entschuldigung, aber sie hatte Angst vor dem Gewitter." Wieder sprach Andrea etwas zu ihr. "Also ich habe sie gefragt, ob sie erst duschen möchte, und dann frühstücken, oder umgekehrt. Aber sie will erst frühstücken, sagte sie."
Ich griente ihn an. "Hast du das jetzt wirklich korrekt übersetzt?" Aber die Frage erübrigte sich, denn Antonella nahm jetzt auf dem freien Platz neben mir Platz. "Wieder fragte Andrea sie etwas."
"Also sie möchte einen Cappuccino, aber ich weiß nicht, wie man diese Höllenmaschine bedient. Kannst du das machen?" Ich nickte, und machte mich an die Arbeit. Ich schaute dabei den Dreien zu. Es sah alles harmonisch aus. Ein katholisches Elternhaus hatte Antonella also nicht gehabt, sonst hätte sie das nicht so gehandhabt, so in Unterwäsche beim Frühstück. Mir imponierte es. Sie war mutig. Die drei unterhielten sich weiter. Als ich mit dem Getränk wiederkam, sagte Andrea: "Also sie will heute etwas unternehmen, Hamburg kennenlernen, hast du da einen Tipp?"
"Ja, wir, also sie und ich, fahren nachher beide in die Innenstadt, dann lade ich Antonella in einen Bus für die Stadtrundfahrt, da ich noch in meinen Laden vorbeischauen muss. Wenn sie wieder da ist, hole ich sie da ab. Dann werden wir wohl noch eine Hafenrundfahrt machen und den Rest sehen wir dann. Okay?" Andrea übersetzte und Antonella nickte freudig erregt. Das weitere Frühstücksgespräch drehte sich dann über den gestrigen Abend der drei, und was sie alles gemacht und gesehen haben. Andrea und Lena mussten dann los und Antonella geleitete ich in das Bad. Nach ihrem Zurechtmachen machten wir uns auf den Weg. Wir hatten noch unsere Handynummern ausgetauscht. Antonella hatte jetzt ein anderes Kleid an, viel heller als das von gestern.
Nachdem ich meine Sache erledigt hatte, holte ich sie ab, sie saß da am Hafen auf einer Bank, wir machten noch eine Hafenrundfahrt, und dann fragte ich sie, was sie noch alles sehen wollte. Die Antwort war Elbphilharmonie, Binnenalster und Außenalster. Bei dem Wetter eine gute Wahl. Zuerst aßen wir aber im Hafen erst mal ein Fischbrötchen. Dank Handy-Übersetzer ging die Verständigung ja gut. Dann setzten wir uns in die U-Bahn und fuhren zum Rathaus. Dort angekommen, wollte ich Antonella zur Binnenalster führen. Dann hatte ich aber eine Idee. Ich sprach ins Handy: "Antonella, möchtest du die Stelle sehen, wo das mit Mario passiert ist? Ich kann es aber verstehen, wenn du nein sagst."
Antonella schaute mich erstaunt an, schien zu überlegen. Dann sprach sie. "Ich hatte erst überlegt, aber Angst davor. Aber jetzt, wenn du dabei bist ... Gut. Gehen wir hin."
Man sah, es kostete sie doch einiges an Überwindung. Wir gingen den U-Bahn-Eingang hinunter, dann auf den Bahnsteig der U1, und dann nach hinten, dort wo es passiert war. Ich zeigte zur Treppe. "Da kam ich die Treppe herunter. Und hier wartete er hinter der Säule. Er hatte eine Pistole und forderte mich auf, zu ihm zu kommen. Die anderen wartenden Personen standen alle weiter vorne. Es kam zum Streit, und dann wollte er mich erschießen. Ich habe gegen seine Pistole getreten." Antonella schaute erstaunt, aber auch ein wenig ehrfürchtig. Ich konnte es verstehen, war es doch genau die Stelle gewesen, wo das Drama seinen Anfang nahm.
"Weißt du, ich bin mal überfallen worden, seitdem mache ich einmal in der Woche einen Selbstverteidigungskurs. Da lernt man sowas." Antonella nickte. "Die Pistole schlitterte ins Gleisbett, ich wollte flüchten, aber Mario war schneller. Er war über mir, mein Kopf hing hier über dem Gleis. Wir kämpften, aber ich konnte mich befreien. Von der Treppe kam eine Gruppe Jugendlicher, da bin ich hingerannt. Ich wusste nicht, was Mario machen würde. Ich dachte, jetzt hat er die Pistole und schießt auf mich. Aber dann kam eine U-Bahn aus dem Tunnel und hat ihn am Kopf erwischt. Er war gleich tot, glaube ich. Ich weiß nicht ... ich war total geschockt, stand völlig neben mir."
Genau das passierte aber jetzt auch mit mir. Es war auch für mich das erste Mal, dass ich wieder an dieser Stelle war. Es nahm mir den Atem, schnürte mir die Luft ab, Beklemmung überfiel mich. Aber dann fiel mir ein, dass ich mich um Antonella kümmern muss. Ich blickte sie an. Sie stand stocksteif da, Tränen kullerten, und sie schwankte. Ich stützte sie, zeigte auf eine Bank. Wir setzten uns. Keiner sagte ein Wort. Minutenlang saßen wir da, und bei uns beiden kullerten die Tränen. Mehrere vorbeigehende Leute schauten verwundert zu uns. Einige mitfühlend. Antonella riss mich aus meinen Gedanken. "Sandra?"
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, hob das Handy, sprach hinein. "Ja? War schwer für dich, oder?"
"Ja, stimmt, schwer. Für dich aber auch, nicht wahr?"
"Es war ja ein traumatisches Erlebnis. Das lässt einen nicht wieder los."
"Ich hoffe, du kannst irgendwann damit abschließen. Danke, dass du es mir gezeigt hast. Es war schwer, das zu sehen, und zu fühlen. Alleine hätte ich das niemals geschafft. Wollen wir?"
"Ja, komm. Gehen wir ans Licht." Das war auch symbolisch gemeint. Wir schlenderten dann noch ein wenig herum. Als wir dann auf dem Anleger Rabenstraße saßen, dort den Segelbooten auf der Außenalster zusahen, und das späte Mittagessen zu uns nahmen, startete ich noch mal ein Gespräch. "Hast du Angst vor morgen?", fragte ich.
"Ja, große Angst. Ich war noch nie auf einer Beerdigung, und jetzt jemand, den ich liebte."
"Du schaffst das! Du bist stark!"
"So wie heute Nacht?"
"Das war doch kein Problem. Das ist ein Urinstinkt. Aber glaub mir, ich kann es nachempfinden. Ich stand damals auch völlig neben mir, als ich meinen Mann beerdigen musste. Aber meine Freunde hatten mir geholfen. Und wir werden dir morgen helfen."
"Danke, das ist sehr nett. Ich weiß noch nicht, wie ich es tun kann. Was macht man da?"
"Also wir fahren da mit dem Auto rein, gehen ..." Sie fragte etwas.
"Da fährt man mit dem Auto rein?"
"Ja, der Friedhof ist riesengroß. Es ist ein Parkfriedhof. Mehr Park als Friedhof. Willst du das nachher schon mal sehen? Dann kann ich dir auch das Grab seines Vaters zeigen."
"Ja, gerne."
"Also, wir gehen zur Trauerhalle, dann kommen die Sargträger mit dem Sarg heraus, der wird auf einen Transportwagen gelegt, damit wird er zum vorbereiteten Grab gefahren. Dann hält manchmal noch jemand eine Rede, ein Kirchenmann oder ein Trauerredner, da wir nicht viel über Marios Leben wissen, haben wir das nicht beauftragt ... oder willst du eine Rede halten?"
Sie sprach in das Handy. "Ich weiß nicht. Schaffe ich das denn?"
"Du kannst dir ja was überlegen. Und wenn es nicht geht, brichst du die Rede ab. Das ist kein Problem. Jeder wird das verstehen."
"Ja gut, ich überlege es mir."
"Also, dann wird der Sarg abgelassen, die engsten Angehörigen treten heran, werfen eine Schippe Sand auf den Sarg, oft auch noch eine Blume oder einen Strauß hinein, sagen vielleicht auch etwas, treten beiseite. Dann kommt der nächste an die Reihe, die Nachfolgenden kondolieren den Angehörigen. Und wenn alle fertig sind, fahren wir fort. Den Rest machen die Leute vom Friedhof."
"Ich hab solche Angst!"
"Du schaffst das! Andrea ist da, Lena und ich natürlich auch."
"Danke, Sandra." Nach dem Essen gingen wir noch ein wenig am Alsterufer entlang, und fuhren dann zum Friedhof. Zu Fuß war es ein ganzes Stück zu gehen bis zum Grab. Antonella war echt beeindruckt und meinte, dass Mario sich hier wohlfühlen würde. Dann waren wir an Uwes Grab angelangt. Die Grube daneben für die morgige Beerdigung war bereits ausgehoben. Mein Herz verkrampfte ein wenig, und Antonella ging es wohl ähnlich. Ich zeigte ihr den Grabstein von Uwe. "Hast du ein Bild?", fragte sie mich. Ich kramte mein Handy hervor und zeigte ihr einige Bilder von Uwe.
Dann zeigte ich auf die Bank. "Hier saß ich, als Mario das erste Mal zu mir gestoßen ist. Bald danach wurde er fordernd, und als er nicht bekam, was er wollte, hatte er mich mit einem Messer angegriffen. Hier bin ich hineingefallen", ich zeigte auf die Bepflanzung von Uwes Grab, "und als er sah, dass sein Vater tot ist, konnte ich mich befreien, er ist geflüchtet, und ich hinterher. Bei der Verfolgung gab es einen Unfall." Ich zeigte auf mein Bein, und Antonella bekam große Augen. "Ich frage mich bis heute, was mit ihm passiert ist, dass er so wurde."
"Ich auch. Ich habe es nie verstanden. Er konnte so ein lieber Kerl sein. Aber manchmal ... da war ich aber nie dabei", sprach Antonella in den Handy-Übersetzer. Wir ließen noch eine Weile die Umgebung auf uns wirken, Uwe kam natürlich nicht, da ja jemand dabei war, und dann fuhren wir nach Hause. Antonella ging dann zu Andrea und Lena ins Zimmer. Später kam sie dann zu mir, während Lena noch bei Andrea im Zimmer blieb. Sicherlich wollten sie sich auf den morgigen Tag vorbereiten oder zumindest einstimmen. Antonella fragte etwas. Ich zückte das Handy und der Übersetzer spuckte aus: "Sandra, ist denn die Sauna funktionsfähig? Ich war schon lange nicht mehr in einer drin."
Ich antwortete mit: "Ich auch nicht, dann stelle ich sie an. Es dauert eine halbe Stunde." Ich ging in meine Spawelt runter und stellte die Sauna an, kam wieder hoch.
Sie sprach wieder in den Übersetzer. "Was ist denn mit deinem Mann passiert? Ich wollte das nicht vor Andrea fragen."
"Er hatte zu seinem Vater kein gutes Verhältnis. Er war für ihn immer nur der Erzeuger und die Affäre seiner Mutter. Die ging ja über zwei Jahrzehnte."
Sie schaute erstaunt. "Das hast du mitgemacht?"
"Ich wusste damals ja nichts davon. Aber irgendwie war wohl auch die Mutter von Andrea mit schuld daran, dass er nie richtig involviert war in das Aufwachsen von ihm und Mario."
"Und wieso ist er jetzt tot?"
"Er hatte einen Unfall mit dem Auto. Er hatte Geld gestohlen, von seiner Firma, aber auch von mir, war mit seiner neuen Affäre geflüchtet, und beim Versuch, Mario seine Drogen abzunehmen und sie später zu vernichten, ist er dann verunfallt. Also das mit den Drogen weiß ich nicht genau, das habe ich mir zusammengereimt aus den spärlichen Informationen, die ich mir in mühevoller Kleinarbeit zusammengesucht hatte."
"Wo war denn dieser Unfall?"
"In Italien, bei dir ganz in der Nähe, zwischen Neapel und Salerno."
"Dann warst du auch dort gewesen?"
"Einige Informationen habe ich dort bekommen. Ich habe Unfallzeugen gesprochen, auch einen früheren Mitarbeiter von Mario, und an der Unfallstelle war ich auch. Es war ziemlich schwierig, dorthin zu gelangen. Man musste dort eine Schlucht hochklettern, über ein Flussbett weglos nach oben."
"Hattest du keine Angst zu ertrinken?"
"Es war ja im Sommer, und sehr heiß zu der Zeit, der Fluss war ausgetrocknet. Es war trotzdem schwierig. Körperlich und emotional."
"Wie bei mir in der U-Bahn Station, oder?"
"Ja, genau so. Aber es ist nicht so, dass mir Mario nichts bedeutet hat. Ich konnte nur noch keine Beziehung zu ihm aufbauen. Er war zu misstrauisch, verschlossen. Du warst wohl die einzige Person, der er vertraut hat."
"Oh, nicht ganz. Er hatte auch einige Kumpels. Hast du denn jetzt mit der Sache abgeschlossen? Ich meine, das mit dem Vater von Mario."
"Ich glaube nicht, dass ich alles erfahren habe. Das Bild ist fast klar, aber einige Details liegen vermutlich noch im Dunkeln. Mehr werde ich wohl nicht erfahren." Ich seufzte. "So, die Sauna müsste jetzt heiß genug sein. Komm mit!"
Wir gingen in den Wellnesskeller, und zogen uns aus. Antonellas Körper sah wirklich toll aus. Eine echte Sahneschnitte, wenn man das so sagen darf. Ihre Brüste so etwa A-B und ihr Popo richtig knackig, aber klein. Sie warf aber einige Male auch Blicke auf meinen Körper. Dann schnappten wir uns Handtücher, und gingen hinein. Schön warm, eher heiß. Nach kurzer Zeit hatte man sich aber dran gewöhnt und es lief der Schweiß. Wie man sehen konnte, machte Antonella auch sehr anmutige Bewegungen beim Abstreifen der Schweißperlen, das musste man reichlich tun. Kurzes Kreischen dann von ihr beim Abduschen mit dem kalten Wasserstrahl. Und dann die Ausruhphase. Ich hatte hier auch Lautsprecher installieren lassen, die solche sphärische Musik abspielten. Wir redeten nicht viel. Mein Handy hatte ich oben gelassen und so verständigten wir uns mit Handzeichen. Damit es sich lohnt, machte ich immer drei Gänge, und Antonella schloss sich mir an. Dann waren wir hier fertig und gar. Die Sauna hatte ich schon ausgestellt. Wir zogen uns an und gingen wieder nach oben.
Mittlerweile war auch Andrea von der Uni gekommen, und kurze Zeit später kamen auch Lena und Oliver vorbei, heute war ja Probentag. Antonella fragte Andrea, ob sie bei den Proben dabei sein darf, und alle sagten zu. So verschwand Antonella für etwa zwei Stunden in Andreas Zimmer, und ich hatte Zeit, die Post durchzusehen und mich um das Abendessen zu kümmern. Als die Probe zu Ende war, verschwand Oliver nach seinem Zuhause, und wir anderen setzten uns an den Abendbrottisch. Antonella sagte, was sie heute alles mit mir gemacht hatte. Andrea und Lena staunten, als sie vom Besuch am Tatort, dem Ort von Marios Tod erzählte. Dabei fiel mir ein, dass ich auch mit Andrea noch keine Vor-Ort-Besichtigung gemacht hatte. Ich würde ihn fragen und das gegebenenfalls nachholen. Wir besprachen noch einiges zum morgigen Tagesablauf, und die drei gingen dann noch für eine Weile ins Zimmer von Andrea. Antonella fragte mich, ob sie wieder die andere Betthälfte benutzen darf, und ich sagte zu. Ich schlief schon, hörte sie dann später, als sie in das Bett schlüpfte, schlief aber gleich wieder ein.
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Teil23: Die Beerdigung
Am Morgen machten wir uns alle fertig. Natürlich alle mit schwarzen Klamotten. Dann fuhren wir los, zur Trauerhalle. Wir hatten uns auf eine kleine Trauerfeier eingerichtet, dann kamen aber doch viel mehr. Nicht nur Andrea, Antonella, Lena und ich, sondern auch Oliver, Ellen, Julian, und sogar Piere. Keine Ahnung, woher er das wusste, ich hatte ihm nicht Bescheid gesagt. Als wir gerade von der Trauerhalle losgehen wollten - es gab keine Rede, denn was hätten wir schon über ihn sagen können, keiner kannte ihn ja wirklich -, kamen auch noch Jens Mehnert und Paula dazu. Ich konnte mir nicht verkneifen, beide zu fragen: "Seid ihr beruflich da?"
Beide hoben abwehrend die Hände. "Nee, von seinen Kumpels wird doch keiner kommen. Oder? Wir dachten, wir geben Andrea und dir ein wenig Unterstützung. Wir wussten nicht, dass noch mehr kommen. Wenn wir sonst zum Beobachten kommen, verstecken wir uns immer hinter Bäumen oder so, und treten nicht so öffentlich auf wie hier."
"Ich glaube auch nicht, dass Kumpels von ihm kommen. Aber eine ehemalige Freundin von ihm ist da." Ich deutete auf Antonella. Wir gingen dann los, Andrea vorne, neben ihm Lena, die ihn stützte. Bisher hatte Andrea es einigermaßen weggesteckt, aber jetzt nahm ihn das doch ziemlich mit. Er ging wie ein Greis und schluchzte leise. Antonella ging es auch nicht anders. Am ausgehobenen Grab hielten wir alle an. Andrea nickte den Sargträgern zu und diese begannen ihr Werk. Böse Erinnerungen an das Begräbnis von Uwe, welches mich damals so mitgenommen hatte, kamen auf. Ich stand damals voll neben mir. War es bei Andrea genauso? Er stand jetzt wie erstarrt und schaute der Sache zu, mit Tränen in den Augen. Antonella schluchzte leise. Dann war der Sarg unten, die Sargträger traten beiseite.
Und dann erhob Andrea seine Stimme. Sie war weinerlich, aber trotzdem fest. Er fing an: "Ich weiß nicht, ob ich Schuld habe, dass er jetzt nicht mehr ist. Ich habe damals versucht, ihn zu stoppen, und habe es nicht geschafft. Bitte verzeih mir, Mario. Auch wenn dich sonst keiner in Erinnerung behalten wird, ich werde es tun. Solange ich lebe. Ich danke euch, dass ihr alle gekommen seid."
Jetzt setzte sich auch Antonella in Bewegung, stellte sich neben ihn, schaute ihm in die Augen, und begann zu reden, natürlich in Italienisch. Andrea übersetzte: "Geliebter Mario, was ist dir nur passiert? Die Welt stand dir offen, ich habe dich mit offenen Armen empfangen, aber es war dir leider nicht genug. Du wolltest die Gefahr suchen, das Böse riechen, Reichtum schmecken, wolltest bewundert werden für etwas, was man nicht bewundern kann. Und auch, wenn dir manchmal der Respekt gegenüber anderen Menschen fehlte, werde ich dich trotzdem in meinem Herzen und in meiner Erinnerung behalten. Lebe wohl, und ich hoffe, du wirst da, wo immer du jetzt bist, deinen Frieden finden. Mach's gut."
Es war wirklich eine schöne Rede von Antonella. Es sah jetzt wirklich so aus, als würde sie erneut anfangen mit Schluchzen, aber dann fing sie sich noch einmal und fing mit Singen an. Andrea begriff, dass eine Übersetzung jetzt nicht passend ist, und unterließ es. Erst summte sie nur, aber dann fing sie an zu singen, anfangs brüchig, dann mit immer festerer Stimme. Und sie hatte eine schöne Stimme. Es war ein bekanntes Stück, aber ich wusste dessen Titel nicht. Dann war das Lied zu Ende. Natürlich klatschte keiner. Antonella blickte in die Runde, viele nickten ihr zu, dann umarmte sie Andrea, und beide ergriffen gemeinsam die Schaufel und warfen damit einen Batzen Sand hinein. Die beiden noch lebenden Personen, die Mario am nächsten gewesen waren. Ich reichte beiden eine Blume, und sie warfen sie hinein. "Arrividerci", sagte Antonella.
"Machs gut Brüderchen. Wir seh'n uns", sagte Andrea. Dann war ich an der Reihe und brachte die traurige Sache für mich zu Ende. Ich umarmte dann Andrea, wurde ganz nass von seinen Tränen. "Mach dir keine Vorwürfe", sagte ich zu ihm. Er blickte mich dankbar an. Stumm tat ich bei Antonella das Gleiche, die natürlich auch Tränen in den Augen hatte. Dann war Lena dran. Alle anderen folgten und kondolierten uns vieren.
Ich hatte ja weiter nichts geplant, aber bei den vielen Leuten ... ich hatte spontan eine Idee. Das Café am Friedhof hatte offen und ich lud alle ein, dorthin zu kommen, zum Abschiedsessen. Jens und Paula wollten erst nicht, aber ich überredete sie, mitzukommen. Wir bekamen einen Tisch im hinteren Bereich, und saßen da noch ein gutes Stündchen zusammen. Von Piere hatte ich beim Essen noch erfahren, dass er die Information von Andrea hatte, mit dem er ja damals meine Betreuung im Krankenhaus organisiert und sich mit ihm abgesprochen und abgewechselt hatte. Jens erzählte mir, dass die gefundene Pistole noch nie polizeilich in Erscheinung getreten war. Immerhin etwas Positives bei der Sache. Danach ging jeder seiner Wege, wir vier fuhren schweigend nach Hause zu mir, jeder hing seinen Gedanken nach.
Angekommen, ließen wir uns aufstöhnend auf der Couch nieder. "Das hast du ganz toll gemacht", sagte ich zu Antonella. "Ihr beide habt das ganz toll gemacht. Und Lena, du natürlich auch." Andrea übersetzte. "Ich weiß, dass das ganz schwierig ist. Damals, bei Uwes Beerdigung ging es mir ganz ähnlich wie euch. Keiner hat mit seinem Tod gerechnet." Wir saßen dann noch zusammen, und Antonella hatte die Idee, uns einige Bilder zu zeigen, welche sie auf dem Handy hatte. Andrea schaffte es, den Fernseher mit ihrem Handy zu verbinden, und dann zeigte uns Antonella ihre Sammlung. Sie hatte echt viele Bilder von Mario und sich gemacht. Auf einem der Bilder waren sie beide ziemlich leicht bekleidet, um nicht zu sagen nackt, aber nach einem: "Oops!" wischte Antonella schnell weiter, und zum Glück war es das einzige Bild dieser Art. Antonella kommentierte alles, Andrea übersetzte.
Erstaunt sah ich hier einen ganz anderen Mario als den, welchen ich kennengelernt hatte. Er sah nett darauf aus, und lächelte. So wie das eigentlich bei allen Liebespaaren auf dieser Erde so ist. Antonella sagte, dass das von ihr gesungene Lied im Original von Eros Ramazzotti war und L' Aurora hieß. Es hatte was mit Morgenröte zu tun, und es war das Lied, welches sie beide gemeinsam schön gefunden hatten. Antonella wollte dann noch eine Weile alleine sein und ich bot ihr an, einfach in mein Schlafzimmer zu gehen, was sie dann machte. Andrea und Lena verzogen sich auch in sein Zimmer. Ich hatte meine sentimentale Phase und schaute in einige alte Photoalben rein, bis ich mich an die Zubereitung des Abendessens machte, welches wir dann wieder gemeinsam einnahmen.
Antonella nahm dann mein Angebot an, wieder auf der anderen Bettseite zu schlafen. Aber vorher fragte sie, ob sie denn zur Entspannung in die Badewanne darf. Ich zeigte ihr die Bedienung der Armaturen, und verzog mich dann. Mir war klar, dass sie jetzt Zeit für sich brauchte, um die psychische Belastung der Beerdigung abzuschütteln. Am anderen Tag begleitete ich sie nach dem Frühstück noch zum Flughafen. Sie bedankte sich überschwänglich für meine Gastfreundschaft, die Organisation und die Finanzierung. Obwohl wir verschiedene Generationen waren, gingen wir als so etwas wie gute Freunde auseinander. Ich sagte ihr, dass sie jederzeit in meinem Haus willkommen ist, wenn sie mal das Grab von Mario besuchen will. Und dann fuhr ich zu meinem Laden. Als ich nach Feierabend zu Hause auftauchte - Lena war heute nicht da, kam Andrea zu mir.
"Können wir mal reden?", fragte er. Oha. Was könnte das sein? Ich nickte. "Ich habe Angst." Er sah meinen erstaunten Blick. "Angst vor mir selber. Meinen Reaktionen."
Was meinte er? Aber ich hatte eine Vermutung. "Hat es was mit Antonella zu tun?"
Er nickte. "Ich habe auf eine Weise auf sie reagiert, die mir Angst macht. Angst vor meinen Genen."
Ich war kurz davor, belustigt zu sein, merkte aber, es war ihm todernst. "Weil dein Vater das so gemacht hat? Das ist Quatsch! Andrea, glaubst du ernsthaft, es gibt ein Fremdgeher-Gen? So etwas gibt es nicht!"
"Aber ich hatte Gedanken. Ich hatte mir vorgestellt, Sex mit ihr zu haben. Dabei liebe ich doch Lena. Das macht mir Angst!"
"Es ist völlig normal, dass du Angst hast, und es ist auch völlig normal, dass du dir vorstellst, mit anderen attraktiven Frauen Sex haben zu wollen. Ich habe schon mit mehreren Männern darüber gesprochen, und die hatten alle diese Anwandlungen irgendwann in ihrem Leben, selbst wenn sie in Beziehungen waren. Auch mir geht es manchmal so. Das ist einfach im Menschen verankert. Überbleibsel unserer tierischen Vergangenheit. Aber letztendlich liegt die letzte Entscheidung immer bei dir. Selbst wenn die Frau dich auffordert, du kannst immer nein sagen. Und falls es dich beruhigt: Mir hatte Antonella auch gefallen. Sehr sogar. Aber sie war tabu. Also, mach dir keinen Kopf über deine genetische Ausstattung. Sie bestimmt einiges, aber nicht alles. Du hast immer die Wahl."
"Gut. Danke, Sandra. Ich hoffe, ich kann auch künftig dauerhaft widerstehen." Es dauerte ein paar Tage, aber Andrea schaffte es, seine Ängste, und die traurigen Gedanken an Mario zu verdrängen, und war nach ein paar Tagen schon wieder der Alte. Wie üblich blieb er natürlich introvertiert, aber alles andere hätte mich ja gewundert. Lena und ihn schweißte das nur noch mehr zusammen. Lena übernachtete nun immer häufiger bei ihm. Sie gaben ein gutes Paar ab, fand ich.
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Teil24: Meikes Anliegen
An einem Samstag etwa gegen 16 Uhr, ich war gerade vom Laden nach Hause gekommen, klingelte das Telefon. Ich nahm ab.
"Ja, bitte?"
"Meike hier. Hi Sandra, wollte mal fragen, wie es dir geht."
"Soweit ganz gut. Wo bist du gerade?"
"Im Alstertal Einkaufszentrum."
"Hey, wollen wir uns nicht treffen?"
"Klar doch, gerne. Im Italiener gegenüber vom Alstertal Einkaufszentrum. In einer Stunde?"
"Klingt gut. Bis gleich!"
Ich ging zu Fuß hin, war ja kein Problem für mich, und war sogar ein paar Minuten eher da, ließ mir einen Tisch geben, und setzte mich rein. Kurz danach kam Meike schon. Sie strahlte mich an, ich stand auf, wir umarmten uns, und setzten uns beide. "Gut siehst du aus", sagte Meike. "Alles gut weggesteckt."
"Ich hatte schon schlimmere Sachen weggesteckt. Viel schlimmere."
"Ja, ich weiß."
"Von der einen habe ich immer noch die Narbe und von der anderen seelische Narben. Die dauern länger, bis sie verheilt sind."
"Schon komisch die Sache damals mit dem Einbrecher. Es verlief alles im Sande, oder hat die Polizei noch was herausgekriegt?"
"Nee, das mit dem Überfall wurde ja eingestellt. Täter tot, kein Auftraggeber ermittelbar. Alles was mit Uwes damaligem Verschwinden und seinem Tod zu tun hatte, war sonst aufgeklärt, aber einige Rätsel blieben."
"Wolltest du da nicht noch nachforschen?"
"Hab ich ja. Aber der Rest blieb im Dunkeln und allzu viel Energie wollte ich da nicht mehr hineinstecken."
"Und die Sache mit dem Unfall? Du sagtest doch beim Besuch im Krankenhaus, der Auslöser wäre dein zweiter Stiefsohn gewesen."
"Da war ich einfach zu leichtsinnig gewesen. Aber der ist nun auch tot."
"Was, der ist tot?" Meike war ganz aus dem Häuschen.
"Ach ja, das weißt du ja noch gar nicht. Ich war nach der Arbeit noch einkaufen, da hat der mich beim Rückweg in der Station Jungfernstieg abgepasst und mich mit einer Pistole bedroht. Der wollte mich dann erschießen."
"Was? Also Sandra!"
"Ich weiß auch nicht." Plötzlich fing ich zu weinen an. Es war wie damals beim dritten Treffen mit Julian. Meike schaute mich ganz mitfühlend an, legte ihre Hand auf meine, und so hörte ich doch recht schnell damit auf. Natürlich schauten wieder einige Leute verstohlen her, die sicher dachten, es wäre eine Sache mit einem Mann, welche ich jetzt meiner Freundin berichtete. "Sorry, geht wieder. Also ich weiß auch nicht, wieso der so einen Hass auf mich hatte. Ich mache ja seit einiger Zeit Selbstverteidigungskurse, und so ist es mir gelungen, seine Pistole ins Gleisbett zu befördern. Als er sie wieder greifen wollte, kam eine U-Bahn und hat ihn erwischt. Er war sofort tot."
"Sandra, das ist ja dramatisch! Und wie hat es sein Bruder aufgenommen?"
"Besser als gedacht. Sie waren schon seit Jahren entfremdet, das hat es wohl leichter gemacht. Irgendwie hatte der ja wohl einen Knall. Der dachte, ich hätte Uwe umgebracht."
"Wie kam der darauf?"
"Keine Ahnung. Er konnte dann ja nichts mehr sagen. Apropos sagen: Du hast mir damals etwas Komisches gesagt, oder eher mich gefragt. Beim ersten Aufeinandertreffen, damals, in eurer Wohnung. Ob mir Jakob gefällt, hast du gefragt. Ich hatte den Eindruck, du wolltest mir Jakob schmackhaft machen. War es so?"
"Meikes Augen lachten."
"Das war tatsächlich so. Aber Jakob hat mir dann gesagt, dass du das Angebot nicht angenommen hast."
"Ich mache doch nicht mit einem verheirateten Mann herum!"
"Aber ich hab mir das doch auch gewünscht! Nicht nur Jakob."
"Ist das dein Ernst? Wieso machst du das? Macht ihr das?"
Meike seufzte. "Ach Sandra! Erst war es eigentlich nur fehlende Lust auf Sex. Bei uns beiden. Und später hatten wir uns immer häufiger gestritten, oft um unwichtige Dinge. Keiner wollte nachgeben. Weißt du, es war anfangs aus der Not geboren. Aber jetzt möchten wir es nicht mehr missen. Wir waren in der dritten Phase der Ehe angekommen. Es war einige Zeit, bevor wir dich kennengelernt hatten."
"Welche Phasen?"
"Na eigentlich waren es ja vier Phasen. Die erste war Sympathie und Liebe. Und dann kam das andere ie."
"ie?"
"Monogamie. Monotonie. Agonie." Obwohl die Sache so ernst war, musste ich unwillkürlich lachen. "Stimmt das etwa nicht? Wart ihr damals nicht so, Uwe und du?"
Ich überlegte. "Also, ich hatte beides. Monogamie und Monotonie. Multitasking, so wie das nur Frauen können."
"Und wie war das bei Uwe?"
"Uwe war schon längst in anderen Phasen. Monogamie hatte er wohl nie. Na ja, vielleicht serielle Monogamie. Monotonie wohl sicher auch. Zumindest bei mir, oder mit mir. Und die Agonie hatte er wohl gekonnt übersprungen. Also auch Multitaskingfähig, trotz Mann."
"Du erzählst das so, als hättest du das alles weggesteckt von damals. Da war ja noch mehr Betrug als nur dieses sexuelle."
"Das scheint nur so. Manchmal kommt alles wieder hoch. Bei bestimmten Gelegenheiten. Und dann? Wie kam bei euch diese Wendung zustande?"
"Ich vermutete, dass Jakob ein Verhältnis hat. Und dann ist es passiert."
"Mach's nicht so spannend!", ermahnte ich Meike. Sie griente dann aber.
"Dann kam der Klassiker. Wir hatten ein Problem mit dem Abfluss. Das war noch im alten Haus. Jakob musste zu einem Auftraggeber, der in Köln wohnt, und so blieb ich zu Hause. Der Handwerker war ganz schnuckelig und so habe ich ihn gefragt, ob er nicht Lust hat ein Rohr zu verlegen. Hatte er dann. Es war einfach ein irres Gefühl und meinem Ego hatte das voll gepinselt. Und als dann später Jakob nach Hause kam, hab ich ihm alles gebeichtet. War mir dann auch egal, ob er mich verlässt, denn so wie bisher ging es nicht weiter."
"Wie hat er reagiert? Ist er dann ausgeflippt?"
"Nein, gar nicht. Er hat angefangen zu weinen und hat mir dann selbst gestanden, dass er schon einige Male mit einer anderen Frau herumgemacht hat."
"Und du hast ihm verziehen?"
"Nein, wir haben uns verziehen. Dann haben wir ganz lange miteinander über unsere Erlebnisse und Wünsche geredet und dann sind wir übereinander hergefallen. Und das war richtig toll. So wie damals nach dem Kennenlernen. Und dann haben wir angefangen, ab und an andere Leute in unser Sexleben mit einzubeziehen. Anfangs war es gar nicht so einfach, die Eifersucht zu bekämpfen, bei uns beiden nicht, aber dann haben wir uns daran gewöhnt und vertrauen dem jeweils anderen. Hätte so etwas auch deine Ehe gerettet? Wäre es dann nicht dazu gekommen?"
"Er redete ja nicht mit mir darüber, was er will. Hat alles heimlich gemacht, dann auch dieses Doppelleben. Und außerdem ... da wäre ich ganz sicher nicht mitgegangen."
"Und danach? Hattest du mal einen anderen Mann?"
"Mehrzahl."
"Märzahl heißt er? Ein komischer Name. Und mit Vornamen?"
"Die Mehrzahl von Mann und mit Vornamen Junge."
"Junge Männer? Du willst mir sagen, du nimmst dir junge Männer?" Meike war ganz aus dem Häuschen.
"Ja, warum denn nicht! Ich will keinen richtigen Mann mehr für's Leben."
"Die sind doch aber volljährig?"
"Natürlich! Was hältst du von mir?"
"Und ledig?"
"Das auch. In dem Alter sind die meisten ja noch nicht verheiratet. Manchmal nehme ich aber auch etwas ältere. Wie's kommt."
Ich bekam einen Flashback.
Ja, das stimmte, normalerweise machte ich nichts mit verheirateten Männern. Aber einmal doch. Es war zu der Zeit des Umbaus meines Hauses. Die Dachdecker hatten mehrere Tage zu tun. Dämmung, neue Dachziegel. Sie waren alle ganz schnuckelig, aber nur der eine war Nichtraucher. Dass er einen Ring trug, hatte ich schon gesehen. Dann hatten sie Feierabend. Die anderen waren schon weg. Er setzte sich noch auf den Baumstumpf im Garten, da, wo früher die Eiche stand, die gefällt werden musste. Da waren meine Eltern noch am Leben. Er holte eine Thermoskanne heraus, trank etwas. Dann zog er auch sein Handy aus seinem Rucksack, schaute drauf, und steckte es enttäuscht wieder ein. Ich ging zu ihm hin. "Soll ich ihnen nicht lieber einen richtigen Kaffee machen?", frage ich ihn. Er schaute mich erstaunt an, sagte dann aber: "Gerne!"
"Komm rein", sagte ich, und wechselte in das 'Du', schmiss meine Kaffeemaschine an und zwei Minuten später hatten wir beide unseren Kaffee. Ich spürte seine Blicke auf meinem Po, schaffte es aber nicht, ihn dabei direkt zu erwischen. Ich lächelte ihn an, als ich zwischen seinem und meinem Kaffee noch einige Kekse auf einen Teller tat und diesen vor ihm hinstellte. Er griff zu, schaute aber immer noch ziemlich betrübt. "Probleme mit deiner Frau?"
"War ja nicht schwer zu erraten, oder?"
"Was ist passiert?"
"Was schon? Sie hat einen anderen. Auf den fährt sie jetzt voll ab. Von wegen ewige Liebe!"
"Kenne ich. Bei meinem Mann war es damals auch so. Du solltest dich davon nicht so herunterziehen lassen. Man ist da eh machtlos. Der andere wird sein Ding durchziehen, egal was man macht. Heutzutage stehen einem alle Möglichkeiten offen. Aber für den anderen auch, also dich."
"Wie haben sie das mit den Kindern gelöst?"
"Bitte sag doch du. Ich heiße Sandra. Wir hatten keine Kinder. Was macht sie denn mit denen?"
"Eine. Sie hetzt sie gegen mich auf, hält mich mit fadenscheinigen Ausreden von Selina fern. Ich sehe sie kaum noch."
"Selina also, ein schöner Name. Ich kann dir da auch keinen Rat geben. Vermutlich kannst du erst mal nicht viel machen, außer Ruhe zu bewahren. Aber vielleicht solltest du alles dokumentieren, auch die Gespräche. Heimlich. Wenn sie später mal groß genug ist, wird sie verstehen, was ihre Mutter ihr angetan hat, dann wird ihr das alles auf die Füße fallen."
"Ja, danke, werde ich machen. Aber momentan ... ich weiß einfach nicht weiter."
"Kopf hoch! Kommen auch wieder bessere Tage. Du suchst dir eine neue Frau und dann wird auch wieder alles gut. Na ja, fast."
"Glaube ich nicht. Wie soll ich die denn finden? Die suchen doch alle solche Bürohengste! Einen Dachdecker wollen die doch alle nicht!"
"Na einen Pluspunkt hast du doch schon mal. Du bist Nichtraucher. Bestimmt finden wir noch mehr. Trinkst du Bier? Bist du Fußballfanatiker?"
"Nee, beides nicht. Manchmal Wein. Und statt Fußball bastele ich gerne so kleine Sachen aus Draht und ab und an lese ich auch ein schönes Buch."
"Na bitte! Die Frauen werden sich um dich reißen!"
"Ach, du spinnst!"
"Also ich werde das!" Oops! Hatte ich das gerade gesagt? Ohne Konjunktiv? Er schaute mich erstaunt an. "Also nicht für immer natürlich, sondern ..." Ich kam ins Schwimmen. Wie kam ich da jetzt wieder heraus? "Küss mich einfach!" Ich merkte, sie hatte mal wieder das Kommando übernommen. Wenn ich nicht widerstehe, würde ich meine Grundsätze brechen müssen. Scheißegal, sagte sie. Aber es war eh schon zu spät. Er kam an mich heran, küsste mich tatsächlich. Ich küsste mit. Er nahm mein Gesicht in seine Hände. Die rochen aber etwas komisch. Nach Dachziegeln vermutlich. Der Geruch musste weg, so kam ich ja nie in Stimmung. Ich stand auf. "Komm mit!", sagte, nein, befahl ich. Ich ging in den Keller und er hinterher. Ich würde mit ihm meine neue Badewanne einweihen, die vorgestern fertig geworden war, stellte den Ausfluss auf 'baden' und machte das warme Wasser an. Dazu kippte ich reichlich, wie sich später herausstellen würde, zu reichlich Badeschaum. Er stand etwas hilflos mitten im Zimmer herum. "Da kannst du deine Hände waschen. Und dann gehst du schon mal rein. Ich komme gleich nach." Endlich bequemte er sich. Ich ging aus dem Bad und in mein Schlafzimmer hinein.
Ich hatte zwar schöne Unterwäsche an, aber ich wollte es doch etwas schärfer gestalten. So zog ich mich noch mal um. Ein weinrotes Set mit Strapshalter, dazu hatte ich sogar rote Stümpfe gekauft. Netzstrümpfe. Dann ging ich, so wie ich war, die zwei Etagen tiefer und öffnete die Tür des Badezimmers. Er saß schön brav in der Wanne, man sah aber nicht mehr viel von ihm. Sehr viel Schaum war in der Wanne. Jetzt sah er mich. Seine Augen quollen regelrecht heraus. Lächelnd stieg ich zu ihm mit rein, schmiegte mich mit meinem Rücken an seinen Rücken, drehte meinen Kopf zu ihm, um Knutschrunde zwei zu starten. An deren Ende spürte ich schon sein hartes Glied an meiner südlichen tropischen Zone. "Na, das hat deine Frau nicht mit dir gemacht, oder?"
"Ich hätte dich heiraten sollen", antwortete er daraufhin.
"Ich überleg mir das", sagte ich. "Wenn du jetzt mal ein wenig aktiver wirst."
Er verstand es wohl richtig, denn seine Hände wanderten jetzt an meine Hügel und kneteten sie durch, erst ganz zärtlich, und dann fester, so wie ich es mag, wenn ich auf Touren kommen will. Knutschrunde drei startete. Meine Hand fühlte mittlerweile, was er da unten hatte. Die nächste Runde startete wieder ich. Ich wendete mich, und wir waren jetzt face-to-face. Wieder knutschen. Ich ging aus der Wanne heraus und zum Spiegelschrank, zog dabei eine Schaumspur hinter mir her. Dort griff ich mir ein Kondom, zog es ihm über, und setzte mich darauf. Jetzt kam er zum Zuge. Die Lust hatte mittlerweile voll Besitz von mir ergriffen. In ziemlich vielen Stellungen trieben wir es miteinander. Beim Höhepunkt war ich mal wieder voll weggetreten und er wohl auch. Und auch vorher bekam ich nicht mehr viel mit, trotz Nullkommanull Promille. Und dann sah ich die Bescherung. Zum Glück war die Wanne nicht so voll gewesen, da ich dann das Wasser abgestellt hatte, trotzdem war eine ganze Menge davon draußen gelandet. Seine Sachen lagen auf einem Hocker und wurden somit Gott sei Dank von der Sauerei verschont.
"Hui, waren wir etwas zu forsch?", fragte jetzt mein bisher namenloser Stecher.
Da gab es natürlich nur eine mögliche Antwort. Erst ein mal lächelte ich ihn natürlich an, und dann sagte ich: "Nein, du warst zu forsch. Aber ist schon okay. Die Überschwemmung habe ich gerne in Kauf genommen. Was tut man nicht alles für das Gefühlsleben! Deinem hat es hoffentlich auch geholfen?"
"Ich bin noch nie ... aber ja, ich glaube, das ist das Beste, was mir in der Situation passieren konnte." Ich ging an einen Schrank und entnahm dort zwei Scheuerlappen, und in etwa 20 Minuten hatten wir es geschafft, im Raum wieder klar Schiff zu machen. Er war die ganze Zeit nackt gewesen und ich immer noch mit dem Dessous ohne Slip, was mir eine Menge Zwischenblicke eingebracht hatte. Dann zog ich mir alles aus und warf es in den Nebenraum, in dem die Waschmaschine stand. "Verführst du alle Handwerker so?", fragte er, und tastete dabei erneut meinen nackten Körper ab.
"Nee, meistens lasse ich den Handwerker auf meinen nackten Körper glotzen und verschwinde dann mit dem in mein Schlafzimmer."
"Wo ist das?", fragte er.
"Na, ganz oben. Na ja, fast oben. Nicht im Himmel oben, aber in meinem Haus."
"Ist das nicht dasselbe? Zumindest wenn du drinnen liegst?"
"Krieg es raus", sagte ich, und ging voran. Während meines Ganges war er immer dicht hinter mir. Einen Meter, höchstens! Dort drin ging es natürlich weiter. Er hatte wohl eine sehr lange enthaltsame Phase hinter sich. Ich quetschte ihn aus wie eine Zitrone, im übertragenen Sinne natürlich. Jedenfalls nicht in meinen heiligen Hallen. In die heiligsten Hallen ging er dann natürlich auch und brachte mich wie erhofft in den Rausch der Sinne. Ich kuschelte mich noch ein wenig an ihn, kraulte seine Brusthaare, dann seufzte ich und sagte: "Du musst jetzt gehen." Mir hatte es gefallen. Ich zog mich wieder an, es war ja noch früher Abend, und er dann auch. Ich überlegte noch, ihn nach seinem Namen zu fragen, ließ es dann aber, da ich mir dachte, dass ich ihn eh nicht wiedersehen würde.
"Angst vorm Verlieben, oder?", war seine treffende Analyse.
"So ungefähr." Er zog sich wieder an und ich ging schon vorher die Treppe herunter, immer noch nackt, um ihn zu verabschieden. Im Blaumann kam er dann die Treppe herunter. Tatsächlich hatte ich es geschafft, seine Stimmung ein wenig aufzuhellen. Er zog sein Handy aus dem Rucksack und schaute drauf. Seine Stirn kräuselte sich. So wie es auch Uwe manchmal gemacht hatte, damals. "Schlechte Nachrichten?", fragte ich.
"Weiß ich noch nicht." Er zeigte mir den Inhalt der Nachricht. Es war von jemandem mit dem Namen 'Schatz'. 'Können wir noch mal über alles reden? Ich habe nachgedacht', stand dort.
Ich küsste ihn noch einmal und öffnete ihm die Tür. "Viel Glück!"
"Danke Sandra." Ich hatte ihn nicht wiedergesehen, hoffte aber, dass er seine Probleme in den Griff bekommen und auch seine Frau es sich anders überlegt hatte. Ja, das war meine erste Verfehlung mit einem verheirateten Mann.
Die Wirklichkeit kam wieder in meine Gedanken. Ich, hier mit Meike in der Gaststätte. "Na, über welche deiner Fehltritte mit verheirateten Männern hast du gerade nachgedacht? Bevor du fragst: Ich hab das Leuchten in deinen Augen gesehen."
Ja, da konnte ich Meike nichts vormachen. "Stimmt, einen hatte ich schon. Eigentlich sogar zwei. Der eine von denen lebte in Scheidung. Aber sonst sind es unverheiratete Männer. Ob die eine Freundin haben, verraten sie mir natürlich nicht alle, aber was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß."
"Ist es nicht schöner, mit älteren Männern? Die haben doch mehr Erfahrung."
"Junge Männer sind immer sehr potent. Aber du hast recht, mit älteren Männern kann es schön sein. Auch solche hatte ich schon."
"Also wäre Jakob so ein Zwischending für dich. Das Bindeglied?"
Ich lachte. "Ein Glied hat er sicher auch, aber er ist trotzdem tabu."
"Tabulose Sachen mag er auch!"
"Du lässt nicht locker, oder? Hast du keine Angst, dass es mal aus dem Ruder läuft?"
"Wir haben es uns versprochen!"
"Uwe hatte mir damals auch Treue versprochen!"
"Ja, aber er hatte alles heimlich gemacht. Wir sind offen miteinander. Und warum sollte mich Jakob verlassen, oder ich ihn? Wir sind voll glücklich, haben wieder guten Sex miteinander, erzählen uns alles."
"Das heißt, wenn ich mich jetzt mit Jakob treffen würde, dann würde er dir alles erzählen?"
"Aber klar doch! Das ist der Deal. Klingt so, als hättest du doch Interesse?"
Nein, hatte ich nicht. Oder doch? Ich müsste es erst herauskriegen. "Ich denke darüber nach."
"Und, wo willst du es machen? Hotel, bei dir zu Hause, bei uns zu Hause?"
"Spinnst du! Vielleicht ... ach komm, lass sein!"
"Sandra! Jetzt kannst du keinen Rückzieher mehr machen! Du hast gerade darüber nachgedacht!"
"Ach Mensch, Meike! Kannst du dir nicht vorstellen, wie ich mich jetzt fühle! Zum Sex verabreden!"
"Wegen deinem Stiefsohn? Dann mach es doch, wenn der mal unterwegs ist. Jakob ist da flexibel, wirklich."
"Hat er sich das wirklich gewünscht? Von sich aus?"
"Schon lange. Musst du doch bemerkt haben. Damals, auf der Poolparty zum Beispiel."
"Ach!" Ich hatte eine Idee. "Macht er mit dieser Ella etwa auch rum?"
"Du bist ein Blitzmerker! Klar. Die geht richtig ab!"
"Woher weißt du das? Hast du sie mal beobachtet?"
"Mehrmals schon."
"Und das hat sie nie mitgekriegt?"
"Kannst du dich an den Spiegel im Wohnzimmer erinnern?"
"Klar, diesen auf alt getrimmten Spiegel? Der sieht gut aus."
"Der ist durchlässig und vom Hauswirtschaftsraum aus kann man durchgucken."
"WOW! Meike schaut private Sexfilme!"
"Jakob hat auch schon zugeschaut. Ich sagte doch, es ist beidseitig."
Ich überlegte, und dachte an meinen damaligen Sexclubbesuch, wo ich ja auch Julia und Heiko zugeschaut hatte. Aber selbst zuschauen lassen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Aber mir selbst zuschauen, das könnte ich. Oder? Ich bekam eine Idee. Spiegel. Wie wäre es mit Spiegeln? Im Schlafzimmer? So eine Idee hatte ich doch irgendwann schon mal gehabt ... "Ich überleg es mir. Ich muss los!", sagte ich, winkte nach dem Kellner. Meike bestand aber darauf, selbst zu bezahlen. Wir umarmten uns und Meike ging mit der Beute ihres Einkaufs zum Busbahnhof, und ich nach Hause.
In Gedanken sah ich bereits x-mal gespiegelte, kopulierende Leiber. Zu Hause schaute ich mir gleich mein Schlafzimmer an. Einen Spiegel hatte ich dort ja schon. Der große Spiegel vom Kleiderschrank. Dann konnte man auf der anderen Seite noch einen anbringen und oben einen kleinen, leicht geneigten. Oder? Ich schnappte mir ein Telefon und rief einen Glaser an. Anderntags kam jemand von der Firma vorbei. Er versuchte es zu verbergen, aber einige Male sah ich ihn leicht grinsen. Der wusste natürlich genau, was Sache war. Die Verspiegelung würde über tausend Euro kosten, das war mir aber die Sache wert. Eine Woche später hatte ich ein schön verspiegeltes Schlafzimmer. Ich testete es, indem ich mich selbst verwöhnte, und war begeistert. Irgendwann würde ich es auch mit einem Mann ausprobieren, aber erst mal lag etwas anderes an.
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Teil25: Der 'Uwe', Berge und Hügel
Der Tag X kam heran. Der Zug würde um 8:28 Uhr fahren. Anton war schon am Vortage am Abend bei mir aufgeschlagen und schlief auf der Couch. Ich hatte ein wenig Bammel. Erstmal vor den Bergen, und vor der Zugfahrt auch. Wieder ein erstes Mal. Wir fuhren mit viel Vorlauf los und waren schon eine gute halbe Stunde vorher im Bahnhof. Es war ungewohnt für mich, mit diesem Rucksack und den schweren Schuhen. Eingelaufen hatte ich letztere schon, kam damit gut klar. Der Bahnsteig war voll, aber das lag daran, dass gleich ein Zug kommen würde. Als er weg war, wurde der Bahnsteig leerer, aber das blieb nicht so. Nach und nach füllte er sich und Hektik kam auf, um mich herum. Ich verstand nicht, warum so viele so nervös waren. Dann gab es eine Durchsage, und auch auf den Tafeln war es zu sehen: Dieser Zug verkehrt heute mit umgedrehter Wagenreihung. Eine Völkerwanderung begann. Dann begriff ich: Auch wir müssten wandern, da unsere Sitzplätze ja nun in der anderen Richtung lagen. Aufatmen, als wir da waren, dann fuhr auch schon der Zug ein. Hätten die das nicht eher durchgeben können? Das wussten die doch schon viel früher!
Von weiteren Problemen wurden wir dann verschont, wir stiegen in München um und am späteren Nachmittag bezogen wir unser Zimmer im Hotel in Salzburg. Verkehrstechnisch wäre Innsbruck zwar günstiger gewesen, aber ich wollte mir unbedingt mal Salzburg ansehen, den Wirkungsort von Mozart. Innsbruck kannte ich außerdem schon. Dieser Ort war damals Etappenort bei meinem ersten und einzigen Bergurlaub mit Uwe gewesen, an den ich heute noch mit Gräuel zurückdenke. Nicht wegen Uwe, sondern meinetwegen und meiner unterirdischen Leistungen auf den Bergpfaden. Hoffentlich würde es dieses Mal besser laufen.
Anton staunte nicht schlecht. Er hatte zwar die Tourplanung gemacht, ich aber alle Hotel- und Bahnbuchungen. Und ich hatte der Einfachheit halber einfach Doppelzimmer gebucht. Nur ein einzelnes für uns beide. Gemein, nicht? Man sah Anton die Verunsicherung an. Sagen tat er aber nichts dazu. Dann schauten wir uns ein wenig die Innenstadt von Salzburg an, schlenderten durch die Straßen und Gassen. Da entdeckte ich einen tollen Laden. Weihnachtsbaumkugeln! Es war zwar die falsche Jahreszeit dafür, aber ich liebe Weihnachtsbaumkugeln! In so einem Laden findet man immer etwas, was man noch nicht hat. Tatsächlich fand ich eine schöne Kugel und bewegte mich weiter durch den Laden. Der Laden war sehr lang und es gab hier nichts, was es nicht gab. Erstaunt stellte ich fest, dass die hier auch Ostereier haben. Sagte ich schon, dass ich auch Ostereier liebe? Ich begutachtete gerade einige von denen. Da sah ich aus dem Augenwinkel etwas. Draußen. Ein Mann. Er ging gerade vorbei. Er ging wie Uwe. Es war Uwe! Mit Bart! War das wirklich Uwe? Ich bekam einen Schreck, stand zunächst wie erstarrt.
"Uwe", rief ich, ließ die Weihnachtsbaumkugel fallen, natürlich nicht mit Absicht, ich war ja total geflasht und reagierte, ohne nachzudenken, und eilte nach draußen. Ich bekam noch mit, dass einige Kunden und Verkäuferinnen mir perplex hinterhersahen. Der Mann, von dem ich dachte, dass es Uwe ist, hatte nicht auf meinen Ruf reagiert. Schon war er verschwunden. Als ich aus dem Laden trat, und nach rechts schaute, wohin er gegangen war, da war er nicht mehr zu sehen. Ein Haufen anderer Leute, aber nicht mein Uwe. War es überhaupt noch 'mein' Uwe? Egal. War er es, oder nicht? Und wo ist er abgeblieben? Mein Herz schlug wie wild. Ich ging in seine Richtung. Ein Laden. Ich ging hinein. Einige Kunden, einige Verkäuferinnen, kein Uwe. Nächster Laden. Da stand er, leibhaftig, und kehrte mir den Rücken zu. Mein Puls ging hoch auf 220. "Uwe!", rief ich laut, und legte all meine Vorwürfe und Verachtung in diesen Einwort-Satz mit den drei Buchstaben. Immerhin hatte er das verdient! Und nun hatte ich ihn gestellt! Ihn, den totgeglaubten! Der Mann drehte sich um. Sein verwunderter Blick fiel auf mich. Er sah tatsächlich so ähnlich aus wie Uwe, aber es war nicht Uwe. Einige Details waren anders: vollere Lippen, andere Nase, außerdem hatte der Typ braune Augen und nicht blaugraue wie Uwe.
"Excuse me?", sagte er jetzt zu mir.
Aha, also ein Engländer. Ich weiß nicht, war ich enttäuscht oder erleichtert, dass es nicht Uwe war? Vermutlich erleichtert. Ich brauchte einige Sekunden. "Sorry, confused", sagte ich, sah mir beim Erröten zu, und ging aus dem Laden wieder heraus. Das war so was von dämlich! Ich beruhigte mich wieder. Hatte ich also eine Fata Morgana gesehen! Lag das an der Beobachtung von Caroline? Wollte ich sehen, was nicht wahr sein kann? Auf einmal schämte ich mich, so reagiert zu haben. Ich ging wieder in den Weihnachtsschmuckladen zurück. Anton war gerade in Diskussionen mit zwei Verkäuferinnen verwickelt. Ich ging zu ihm hin.
Anton schaute mich fragend an. "Hast du ein Gespenst gesehen?", fragte er.
Die eine Verkäuferin, wohl die Chefin, sagte: "Die müssen sie aber bezahlen!"
"Natürlich bezahle ich die. Es tut mir leid. Ich hoffe, sie haben noch so eine."
Sie schaute mich an, als ob ich ein Marsmensch wäre, dann ging sie aber nach hinten zum Laden. Ich griff mir noch das ins Auge gefasste Osterei und legte es auf den Ladentisch. Dann kam die Verkäuferin wieder, nunmehr mit einem strahlenden Lächeln und mit der gewünschten Kugel in der Hand. Vermutlich hatte sie mit mir heute das Geschäft ihres Lebens gemacht, deswegen das Lächeln. "69,58", sagte sie. Na gut, das ging noch. Was nicht ging, war mein Zustand. Wie konnte das passieren!
"Ich dachte, ich hätte Uwe gesehen", sagte ich zu Anton, als wir aus dem Laden raus waren. Sein Gesicht fragte, wer Uwe ist, aber er sprach es nicht aus. "Mein verstorbener Mann."
Dann begriff er. "Ach, der aus dem Buch. Jetzt verstehe ich deine Reaktion", sagte er. "Ich hoffe, er war es nicht."
"Nein, er sah nur so ähnlich aus." Wir gingen weiter durch die Gassen. War ja auch unmöglich, dass es Uwe sein könnte. Die ganze Zeit grübelte ich, wie es zu dieser Halluzination kommen konnte. War es wegen Caroline? Jeder kennt doch das Phänomen. Wenn man etwas hat, bei mir war es zum Beispiel mein gelbes Auto, welches jetzt leider genauso wie Uwe auf dem Friedhof gelandet war. Als ich es bekam, sah ich auf einmal nur noch gelbe Autos. Und jetzt war es mit meinem Laubfrosch, so nannte ich meinen grünen Flitzer, genauso. In den nächsten Stunden heftete ich das Phänomen nach und nach unter Irrtum ab. Anton erzählte ich von diesem Treffen mit Caroline und äußerte ihm gegenüber meine Vermutung, und er dachte ebenso, dass es wohl daran lag. Wir gingen dann noch in einen Paketshop, nachdem Anton mir versichert hatte, dass weder Ei noch Kugel heil ankommen würden, wenn ich sie bei der Wanderung mit mir führen würde. So wurde ich weitere 20 Euro los. Die teuersten Weihnachtbaumkugeleier, welche ich je gekauft hatte, aber das musste jetzt sein. Ich musste mich jetzt schon belohnen für die Anstrengungen, die auf mich warten würden.
Wir aßen zu Abend und dann gingen wir ins Hotel zurück. Den Rat von Anton bezüglich der Packliste hatte ich befolgt. Kein Nachthemd oder Schlafanzug. Da es heute sehr warm war und das Hotelzimmer keine Klimaanlage hatte, zog ich mich zum Schlafen nackt aus. Anton bekam große Augen. Meinen nackten Körper hatte er ja noch nicht gesehen. Verschämt schaute er weg, aber seine Blicke kamen immer wieder zurück. Ich sagte nichts dazu, lächelte nur, zog mir die Decke darüber, nur ein wenig, und schlief schnell ein, nachdem Anton das Licht ausgeknipst hatte. Als ich am Morgen aufwachte, hatte ich meine Bettdecke komplett weg gestrampelt. Ich lag nackt auf dem Bett. Jede normale Frau hätte sich jetzt schnell die Decke gegriffen und wieder zugedeckt. Aber so eine war ich ja nicht mehr. Ich drehte mich um und schaute in die Augen von Anton. Dann lächelte ich ihn an. "So siehst du auch mal meine Vorderseite!"
Anton schmunzelte. "Du liebst solche Spielchen, oder?"
"Mhmmh. Du auch?" Wie zu erwarten, gab es keine Antwort. Ich stand auf und ging, nackt wie ich war, ins Bad. So konnte Anton noch schön hinter mir herschauen. Seine Gier verbarg er besser als damals Nico. Zurückgekommen, war ich natürlich immer noch nackt. Ich hätte das Handtuch um mich schlingen können, aber es machte mir nichts aus. Antons Augen blitzten auf, dann ging auch er ins Bad, bevor ich mich dann anzog. Nach dem Frühstück ging es auf den zweiten Teil der Reise. Mit Zug und Bus mit x-mal umsteigen bis nach Cortina d' Ampezzo. Der kleine Ort ist bekannt, weil da schon einmal Weltmeisterschaften oder Olympia stattfanden, so viel wusste ich. Das vorletzte Mal Hotel, bevor es in die Berge ging, die bereits hübsch und bedrohlich hoch über uns aufragten. Spielchen machte ich heute nicht. Anton schien es nicht zu stören. Wir packten am nächsten Tag die wichtigen Sachen für eine Tagestour in den Rucksack und brachen auf. Und dann ging es los. Wir ließen uns viel Zeit und absolvierten eine Runde im Tal von Cortina, und waren schon am frühen Nachmittag wieder zurück, wo ich mir dann in Cortina eines meiner geliebten Kuchenstücke gönnte. Ich war nicht so fertig, wie ich angenommen hatte, und so drehten wir vor dem Abendessen in aller Ruhe noch eine Runde durch den Ort.
Ich schlief schön, aber schon beim Frühstück hatte ich ein mulmiges Gefühl wegen der kommenden Anstrengungen und der Angst davor, dass ich diesen nicht gewachsen wäre. Wir checkten nach dem Frühstück aus und brachen auf. Im Ort hatte Anton noch Sachen für unterwegs eingekauft, Müsliriegel und so. Für den kleinen Hunger zwischendurch, sagte er. Der Weg zog sich lang hin, die Steigungen fand ich schon ziemlich anstrengend, und ich schwitzte kräftig, wir gingen aber eher langsam mit vielen Pausen (meinetwegen), und schon am frühen Nachmittag waren wir bei unserer Übernachtungshütte angekommen, dem Rifugio Croda di Lago, welche auf etwa 2000 Metern Höhe wunderbar an einem See gelegen war. Hier gab es leider nur Mehrbettzimmer. Es war meine allererste Berghütte. Gegenüber dem Nächtigen in einem Hotel, geht es hier schon ziemlich rustikal zu. Später am Nachmittag konnten wir sogar duschen. Nachdem ich mich ein wenig erholt hatte, umrundeten wir noch den See. Am Folgetag, nach wunderschönem Schlaf wegen der Anstrengung, machten wir eine Rundtour in der dortigen Umgebung. Die Tour war etwa 12 km lang, hatte aber einiges an Höhenmetern, so an die 500. Ich war am Schluss am Ende, konnte nicht mehr. Alle Muskeln zitterten, besonders meine Beine. Anton sagte mir aber, das wäre nötig: "Für die Anpassung."
Ich schlief erneut trotz der Hütten-Situation wie ein Murmeltier und nach dem Frühstück brachen wir in aller Ruhe auf Richtung zweite Hütte, dem Rifugio Averau. Der Weg war konditionell deutlich anspruchsvoller, da wir erst wieder ein wenig heruntermussten und dann einiges wieder hoch. Weit war der Weg nicht, aber die Höhenmeter! Ich schnaufte wie eine alte Dampflok, aber ich schaffte es. Am Nachmittag waren wir dann angekommen, am Rifugio Averau auf etwa 2400 Metern Höhe. Und wir enterten eine ganz andere Welt. Hier tummelten sich Heerscharen von Menschen, was an dem Sessellift lag, der von einer tiefer gelegenen Stelle hierherführte. Hier war es mir gelungen, ein Zimmer für uns mit Etagenbett zu buchen. Ich war ziemlich fertig, meine Beine taten mir weh, und der arme Anton musste erst einmal meinen Redeschwall ertragen, der eher so eine Art Beschwerde war, warum wir denn nicht einfach den Sessel‑Lift genommen hatten. Antons Antwort, dass ich sonst den Berg nicht schaffen würde, leuchtete mir aber ein, nicht an diesem Tag, aber am nächsten. Zum Glück gab es auch hier eine Dusche. Es war Ausruhen angesagt! Der Berg, den ich morgen besteigen wollte, sah furchteinflößend aus. Schlimmer noch: Er sah unschaffbar aus! Jedenfalls für mich. Nur an der Anstrengung des Tages lag es, dass ich überhaupt schlafen konnte.
Am Morgen beim Frühstück dann ein flaues Gefühl im Magen. Würde ich es schaffen? Oder würde ich versagen? Ich holte den Stein aus meinem Rucksack heraus und streichelte ihn. Er würde mir Kraft geben. Fast hätte ich ihn beim Aufbruch zur Fahrt vergessen, aber dann fiel mir der Hauptgrund der Reise noch ein, und ich drehte um und holte ihn. Zum Glück war ich da noch auf meinem Grundstück gewesen. Anton drängte jetzt zur Eile. "Pack 'mers." Mein flaues Gefühl wurde noch schlimmer, mein Magen ein einziges Loch, ein schwarzes Loch, welches meine ganze Energie herauszog, aber ich zwang mich, aufzustehen, meinen Rucksack zu schultern, dann ging es los. Wie vom Dirigenten geleitet. Schritt für Schritt. Frau auf Berg. Aber schon bald stand ich vor einer scheinbar unbezwingbaren Hürde. "Da komme ich doch nie hoch!", schrie ich Anton an. Anton antwortete nicht verbal. Er öffnete seinen Rucksack. Jetzt erst erschloss sich mir, warum sein Rucksack so viel größer als meiner war. Er holte solche Gurte zum Umschnallen heraus, und dann noch zwei Helme. "Komm, ich helfe dir beim Gurt", sagte er.
Ich stieg in meinen Gurt hinein. Dann setzte mir Anton noch den Helm auf, sagte und zeigte, wie man das Klettersteigset richtig einsetzen muss, gab mir noch einige Tipps, und los ging es. Anton ging voran, schaute aber mit Argusaugen auf mich, ob ich alles richtig machte. Ich funktionierte, dachte nicht nach, außer darüber, den nächsten Schritt korrekt zu machen. Und - es funktionierte. In dieser Steinwüste fühlt man sich klein und hilflos, aber es ging trotzdem. Nach einer Weile hatten wir es geschafft, und der Weg wurde einfacher. Keine Ahnung, wie lange es dauerte, aber irgendwann, ich konnte es kaum glauben, sah ich das Gipfelkreuz vor mir. Meine Beine taten mir weh, ich zitterte vor Anstrengung, ich keuchte vor Atemnot, und mein Herz klopfte wie wild, aber ich war oben! Oben auf dem Averau! Ich schrie mir vor Freude die Seele aus dem Leib. Einige Bergwanderer, die schon oben waren, schauten ein wenig irritiert. Noch ein paar Schritte zum Gipfelkreuz. Anton machte erst mal einige Fotos von mir, dann ich auch von Anton, und einer der anderen Wanderer machte auch Fotos von uns beiden.
Die hatten uns beim letzten Teil des Aufstiegs alle überholt. Einige waren sogar schon wieder auf dem Rückweg. Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte weit über zwei Stunden gebraucht. Dann erinnerte ich mich an meine Aufgabe. Zunächst suchte ich eine geeignete Stelle. Da war ein aufgetürmter Steinhaufen, der müsste gehen. Anton bekam mein Handy, an dem ich vorher die Videoaufnahme gestartet hatte. Ich zog einige Steine heraus, sagte: "Möge es dir, Lucia, Glück bringen, und euch im Geiste wieder vereinen." Ich hatte vorher nicht darüber nachgedacht, es fiel mir einfach so spontan ein. Dann legte ich den Stein hinein und verdeckte ihn wieder mit den anderen Steinen. Ein Stein fiel. Nämlich mein Stein vom Herzen. Nie und nimmer hätte ich damals gedacht, dass ich das schaffe. Ich umarmte Anton. "Danke Anton!"
"War es schwer für dich?"
Ich seufze. "Ja. Aber es hat sich gelohnt." Ich schaute mich um. Ein tolles Panorama tat sich vor mir auf. Die Natur war die Bühne und die Berge die Schauspieler und Statisten. Es war weit in der Ferne ein wenig diesig, aber überall waren Bergzacken zu sehen. Eine fremde, skurrile Welt. Trotzdem es hier oben wie auf dem Mond aussah, wenn man genau hinschaute, auch einige kleine Pflanzen. Unglaublich! Wir genossen noch eine ganze Weile das Panorama, dann ging es an den Abstieg. Das war bedeutend schwieriger, was ich aber schon von meinem damaligen Ausflug an die Unfallstelle kannte. Anton zweigte dann zu einem anderen Weg ab und plötzlich standen wir vor einem Nichts. Der Fels war zu Ende. Von oben sah man noch eine eiserne Sprosse. Ich schaute hinunter und schreckte zurück. "Nee!", sagte ich. Ziemlich viele dieser Sprossen führten in so einem engen Schacht nach unten. Das würde ich niemals packen! Angst ergriff mich. Wieder rettete mich Anton. Aus seinem Rucksack zauberte er ein Seil, befestigte es an der ersten Sprosse, dann um meinen Gurt.
"Du gehst voran, bis runter ans Ende der Stufen. Dir kann nichts passieren! Ich halte dich mit dem Seil, wenn du abrutschen solltest oder ohnmächtig wirst. Unten angekommen, machst du das Seil los. Nicht vorher!" Ich erinnere mich noch, dass ich ihn skeptisch anschaute. Aber dann überwand ich mich. Es ließ sich leider nicht vermeiden, dabei nach unten zu schauen, aber ich war schneller unten als gedacht und atmete auf. Dann folgte Anton. Etwa bei der Hälfte rief er: "Geh beiseite, Seil kommt!" Das Seil rasselte herunter. Ich rätselte, wie Anton das jetzt schaffen wollte, aber er klinkte sich ja bei jeder Stufe mit den Karabinern ein, und war auch ruckzuck unten. Nun mussten wir noch ein kleines Stück am Drahtseil entlang und dann sah ich schon: Wir hatten es geschafft. Antons bis dahin angespannte Miene verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln, er hob den Arm. Was wollte er? Ach so! Jetzt begriff ich! Wir klatschten ab. Dann umarmten wir uns auch noch. Die ganze Sache hatte doch einige Stunden gedauert, und ich dachte, wir können auf der Hütte noch was essen, aber Anton trieb uns zur Eile. Keine Ahnung, wieso. Er zeigte auf die Wolken. Für mich sahen die total harmlos aus. Wir machten uns also sogleich auf den Rückweg.
Von den zwei möglichen Wegen zum Passo di Falzarego wählte Anton den Weg über den See Lago di Limedes. Es dauerte eine Weile, dann sahen wir ihn, und eine gute halbe Stunde später waren wir da. Der See war wirklich sehr schön, aber Anton wollte gleich weiter. Er zeigte auf den Himmel. Ich drehte mich um und erschrak. Eine tiefdunkle Wolke, fast schwarz, war auf dem Weg zu uns und wollte Stunk machen. Wir beeilten uns. In etwa einer halben Stunde oder weniger würden wir die Hütte erreicht haben. Und dann, wir waren schon fast da, öffnete der Himmel seine Schleusen, zugleich mit einem Gewitter. Wir waren nur noch etwa 100 Meter von der Hütte entfernt, aber wir waren klitschnass, als wir sie erreicht hatten. Ich sah Antons Blick. Meine Brüste boten unter dem nassen Funktionsshirt einen prima Blick. Schnell schaute er verschämt weg. Wir meldeten uns, tropfnass wie wir waren, beim Hüttenwirt. Der führte uns in den Keller, wo wir die Schuhe lassen konnten. Toiletten gab es hier auch. Gleich hier zogen wir uns um. Mein Sport-BH war auch nass und ich ließ ihn einfach weg. Hatte eh keinen Ersatz mit.
Auch diese Hütte war ziemlich rustikal, aber man konnte duschen. In unserem Zimmer waren noch ein deutsches Ehepaar und eine junge Frau aus Schottland, mit der wir uns gut auf Englisch unterhalten konnten. Das deutsche Ehepaar war auch bergbegeistert und kurz vor uns hier angekommen, und somit wesentlich trockener als wir. Sie erzählten von ihren Erlebnissen und staunten, als ich damit angab, das erste Mal richtig in den Bergen gewesen zu sein und den Averau bezwungen zu haben. Ich schob aber sogleich alles auf Antons gute Vorbereitung, was Anton ersichtlich gut aufnahm. Da er aus Gewichtsgründen seinen Rasierapparat zu Hause gelassen hatte, sah er mittlerweile so richtig verwegen aus. Meine Muskeln taten heute noch viel mehr weh als am Vortag, aber das Wichtigste war: Ich hatte es geschafft. Job vollendet.
Dann ging es am anderen Tag zurück. Wir fuhren erst nach Corvara, dann nach Brixen, dann über den Brenner nach Innsbruck, und weiter nach München. Die Strecke nach Hamburg war an einem Tag nicht gut zu schaffen, und so hatte ich dort noch mal eine Übernachtung eingeplant. Es war mein erster Besuch in München und ich schaute mir alles Wichtige an. Anton kannte München schon, begleitete mich aber. Wir aßen zu Abend und es ging zum Hotel zurück. Immer noch taten mir ziemlich viele Muskelgruppen weh, dafür war aber mein Lustgefühl wieder da, welches bei der Tour verschwunden war, wegen der Aufregung vermutlich. Ich könnte doch mit Anton, oder? Aber wie anstellen? Bis auf seine Blicke gab es noch nichts aus seiner Richtung, keine Komplimente, außer über meine körperliche Leistung. Da kam mir eine Idee. Im Hotel verschwand ich ins Bad und zog mir meinen BH aus, dann das Funktionsshirt wieder über. Anton saß im einzigen Sessel im Zimmer und blätterte gerade durch seine Fotosammlung.
"Hey Anton ... hast du eigentlich auch ein Foto von mir gemacht?"
"Doch klar, jede Menge sogar. Willst du mal sehen?"
Ich ging aber gar nicht darauf ein, denn ich hatte ja einen anderen Plan und suchte nur einen Grund für den Gesprächsanfang. Ich lächelte Anton an, eher war es ein Grienen, da ich schon wusste, dass ich ihn jetzt in Verlegenheit bringen würde. "Ich meine, von mir nach dem Gewitterschauer. Sah toll aus, oder?"
"Der Schauer?"
"Lenke nicht ab. Ich meine mich."
"Na ja, so mit den nassen Haaren, und so triefend. Es sah irgendwie lustig aus."
"Aber auch sexy, oder?" Anton antwortete nicht. Ich ging daher zum kleinen Tisch, wo meine Wasserflasche stand, die noch halb gefüllt war. Ich öffnete sie und goss mir den Inhalt über das Shirt. Augenblicklich wurden meine Nippel hart. Antons Gesichtsausdruck deutete ich als verschreckt. Vor Schreck geweitete Augen. "Sieht das nicht sexy aus?", fragte ich, mit kokettem Ausdruck in der Stimme.
"Ja, klar." Anton war aber auch ein wenig schwer von Begriff. Ich setzte mich auf die Lehne seines Sessels und schmiegte mich an ihn. Endlich reagierte er, zumindest wich er nicht aus.
"Alles schön zu sehen, oder?" Anton schaute nur. Er schaute einfach nur, unschlüssig, was er tun sollte, und vermutlich auch, ob er überhaupt was tun sollte. "Zu fühlen aber auch!" Immer noch reagierte Anton nicht. Ich griff seine Hand und führte sie an meinen Busen.
"Sandra, das ist mir jetzt aber ... das geht doch nicht!"
"Aber ich will es doch." Ein Blick zu seiner Funktionshose. Es war schon eine kleine Beule zu sehen. "Wie ich sehe, er auch. Hab keine Angst." Ich beugte mich weiter über ihn und fing an, ihn zu küssen. Zärtlich erst, aber als er dann endlich mitmachte, glitt es ins Leidenschaftliche. Und endlich wurde seine Hand aktiv. Ich zog mir mein Shirt über den Kopf. Dieses Mal musste ich nichts machen, Antons Hand wanderte von ganz alleine auf meine Brust. Dann kam seine zweite Hand auch noch dazu. Wir knutschten. Schnell fielen alle Klamotten. Auch wenn Anton anfangs zurückhaltend war, wenn er erst mal in Fahrt war, kam auch bei ihm die Leidenschaft durch. Wir landeten dann im Hotelbett. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Anton endlich kam. Er war ganz aus dem Häuschen, was mit ihm passiert war, konnte es kaum fassen. Als ich am Morgen wach wurde, lag ich noch in seinen Armen. Da er kein junger Mann mehr war, konnte er noch nicht wieder, was mich aber nicht störte. Von den fünf mitgenommenen Kondomen hatte ich somit nur eines gebraucht.
"Wieso hast du das gemacht?", kam von Anton anstelle des 'Guten Morgen'.
"Ich wollte das so, hatte Lust. Keine Angst, du musst mit mir keine Liebesbeziehung eingehen. Hast du das befürchtet?"
"Irgendwie ja. Ich habe keine Ahnung, wie ich die hätte gestalten sollen. Meine letzte richtige Beziehung ist schon lange Jahre her."
"Hatte es dir trotzdem gefallen?"
"Es war riesig! Aber nun weiß ich nicht, wie weiter ..."
Ich lachte. "Ich auch nicht. Die Zeit wird es zeigen. Vielleicht habe ich ja mal wieder Lust. Oder du triffst eine andere Frau? Nun sollten wir aber aufstehen, sonst verpassen wir Frühstück oder Zug, oder sogar beides."
"Hast ja recht, Sandra." Er sprang wie ein junges Reh aus dem Bett. Ich versuchte es auch. Auch ich schaffte es, aber mit Ächzen und allerhand Verrenkungen, und etwa zehnmal langsamer, und mit der üblichen Katerfamilie.
Anton schmunzelte. "Die Berge haben dich geschafft", stellte er fest, und verschwand ins Bad. Ich folgte, war schneller, und bot ihm noch eine Duschshow. Wegen seines vielen Schauens war ich dann auch schneller fertig als er und schon komplett angezogen, als er endlich aus dem Bad kam. Nach dem Frühstück gingen wir zum nicht weit entfernten Bahnhof und nach einer ereignislosen Bahnfahrt kamen wir am Nachmittag in Hamburg an, fuhren zu mir nach Hause. Ich machte noch einen Kaffee für uns und danach brach Anton auf nach seinem Zuhause. Wir tauschten noch einige Bilder aus, ich bedankte mich überschwänglich bei Anton. Ohne ihn hätte ich das alles nicht geschafft. Nie und nimmer! Trotzdem war ich auch stolz auf mich. Kaum war er weg, kam Andrea ins Haus, mit Lena und Oliver im Schlepptau.
"Ich hab's geschafft!" Ich konnte meine Augen nicht sehen, aber bestimmt waren sie freudestrahlend.
"Echt jetzt? Du bist übern Berg?" fragte Andrea, nicht ganz ernsthaft gemeint.
"Nicht nur das! Der Stein liegt nun dort. Wollt ... wollt ihr mal sehen?" Ich rief das Video auf und spielte es ihnen vor.
"Toll, Sandra! Ich hätte es ja nicht gedacht, dass du das schaffst!"
Ich lachte. "Ich ja selber nicht so recht. Kannst du das Video Lucia schicken?"
"Klar. Gib mir mal dein Handy!" Auch Lena und Oliver beglückwünschten mich jetzt und bombardierten mich mit Fragen. Fünf Minuten später piepte mein Handy. Es war eine Antwort. Von einer Nummer mit italienischer Landesvorwahl. Leider alles auf Italienisch.
"Sie schreibt: Du hast es geschafft! Vielen, vielen Dank. Du bist eine ganz liebe und patente Frau. Und es hat geholfen! Vor einigen Wochen habe ich einen neuen Mann kennengelernt. Ich bin so verliebt!" Andrea hatte es mir übersetzt. Den Rest konnte ich auch ohne Italienischkenntnisse lesen. Es waren ganz viele Herzen. Ich fühlte mich so richtig gebauchpinselt, und war froh, dieses Vorhaben, welches ich eigentlich nie wirklich in Angriff nehmen wollte, durchgezogen zu haben. Die drei machten sich jetzt ans Üben, und was machte ich? Natürlich ausruhen! Ich zog mir einige Dokus über Bergwelten rein, welche ich in der Zeit meines Wanderns dort aufgenommen hatte, da auch Cortina d' Ampezzo dort vorkam. Einige Sachen von dort erkannte ich auch wieder. Am Wochenende machte ich die liegen gebliebene Hausarbeit, traf mich mit Peter, bis dann in der neuen Woche wieder meine berufliche Tätigkeit anstand.
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Teil26: Jakobs Talent
Etwa zwei Wochen danach rief ich Meike an. Ich hatte mein Buch fertiggestellt. Anton hatte das Manuskript gelesen und fand, dass es gut war, lebendig wirkte. Es war an der Zeit, es in die Freiheit zu entlassen. "Hi Meike, Sandra hier. Du, ich hab mal eine Bitte. Ich brauche mal jemanden, der mir mit dem Coverbild meines geplanten Buches hilft. Meinst du, Jakob würde das hinkriegen?"
Meike lachte. "Klar doch." Ich wusste genau, was das Lachen bedeutete. Sie hatte in Wirklichkeit gedacht: 'Wann soll er denn zum Vögeln vorbeikommen?' Das war zu diesem Zeitpunkt aber gar nicht mein Plan. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt eben nur Jakob, der so etwas wie eine grafische Gestaltung drauf hatte. Dass mein Unterbewusstsein anderes im Sinn hatte, nahm ich nicht wahr.
"Mann, Meike!"
"Sandra, ich hab dir doch gesagt, ich hab kein Problem damit. Er berichtet mir alles, und dann machen wir eine Nachbesprechung."
"Meike! Es geht wirklich um das Buchcover."
"Was ist das denn für ein Buch?"
"Es ist ein ziemlich freizügiger Roman, und es geht darin um meine damalige Geschichte."
"Wann hast du denn gedacht?"
Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht. Vielleicht Samstag? Ich wollte dabei nicht gestört werden. Abends waren Andrea und Lena eigentlich immer unterwegs, und notfalls könnte ich sie auch ins Kino schicken. "Samstag, so gegen 17 Uhr, bei mir? Nein, 16 Uhr. Dann kann ich Jakob erst mal mit Kaffee und Kuchen versorgen."
"Ich frage ihn und gebe Bescheid", sagte Meike. Schon eine Stunde später rief sie zurück und sagte zu.
Am betreffenden Tag war ich aufgeregt. Nach meiner Arbeit hatte ich noch schön geduscht, mich mit Unmengen an Parfüm eingedüst, und mich in Schale geschmissen. Ich machte mir mal wieder was vor. 'Nur das Cover gestalten' nahm ich mir vor. Bullshit! Ich wusste genau, worauf es hinauslaufen würde. Ich wusste es, Meike wusste es, und Jakob wusste es natürlich auch. Es war nur so, dass ich es mir vormachen musste, da es sonst nicht funktionieren würde. X-mal hatten wir uns schon getroffen. Tausendmal ..., wir alle kennen das. Jakob war Normalität, und doch war es keine Normalität, und das Unnormale heute, das waren meine Klamotten. Die sollten den üblichen Gang brechen, unterbrechen. Ich dachte, ich hätte noch Zeit, aber schon zehn Minuten vorher klingelte es. Ich öffnete, aber es stand nur der Paketbote vor der Tür. Er bekam große Augen, überreichte mir die Bestellung, drehte um, und wechselte sich mit Jakob ab, der verwundert schaute. "Wenn der Paketbote zweimal klingelt?", fragte er.
"Nein, ich hab mich für dich aufgehoben. Paketboten können doch solche Arbeiten nicht, die ich benötige." Der kleine Scherz löste sofort die Stimmung zwischen uns. Ich bat ihn herein.
"Meike hat gesagt, dass es um dein Buchcover geht. Da musst du dich also nicht für mich aufheben."
"Du hast ja recht. Ich brauche tatsächlich ein Buchcover. Aber erstmal werde ich dich mit Kaffee betrunken machen und mit Kuchen mästen."
"Das ist gut, bei solcher Verführung sage ich nicht nein, ich kann nämlich nur betrunken richtig gut arbeiten."
Ich ignorierte seine Antwort, bat ihn, in der Essecke Platz zu nehmen, und aktivierte die Kaffeemaschine. Alles andere hatte ich schon vorbereitet und trug es nur noch zum Esstisch. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass Jakob mich beobachtete. Ich hatte aber auch wirklich sexy Sachen an. Der schwarze Rock kurz, und eng anliegend. Weiße Bluse, etwas durchsichtig und so geschnitten, dass man den BH ein wenig sah. Dazu passende Kette und Ohrringe angelegt. Die Strumpfhose, die man vermuten würde, waren in Wirklichkeit halterlose Strümpfe, welche bis weit nach oben gingen und ohne Zierrand waren. Man konnte es nicht sehen, höchstens erahnen. "Du hast also was geschrieben?", fragte er, als ich in Richtung Küche ging, um den Kaffee zu holen. "Oder war das ein Trick, um mich in deine Wohnung zu locken?"
"Was hat denn Meike gesagt?", fragte ich.
"Sie hat gesagt, es geht um ein Cover für dein Buch. Aber sie kennt es nicht. Geschichten aus deinem Leben, sagte sie."
Ich lachte auf. "Es ist ein Erotikroman. Das hatte ich auch Meike gesagt. Deshalb hast du vielleicht fälschlicherweise gedacht, ich will etwas anderes von dir. Willst du es mal sehen?"
"Du hast das Buch schon?"
"Nein, ich meine das Manuskript." Ich schenkte ihm ungefragt Kaffee ein. "Kuchen?"
"Ja, gerne." Ich tat ihm ein Stück auf den Teller, und gab ihm dann das Tablet mit dem geöffneten Manuskript. Während wir beide aßen und Kaffee tranken, blätterte er ein wenig im Text und las einige kleine Abschnitte.
"Sehr schön", sagte er. "Sex und Crime gehen immer."
"Dramatik ist auch dabei. Vor allem mein persönliches Drama."
"Aha, deshalb der Titel, ja?"
"So ist es. Hast du schon eine Idee?"
"Ja. Also ich dachte, dich nackt auf dem Einband, wie du dir verzweifelt den Kopf hältst, um das auszuhalten, was alles auf dich eingeprasselt ist."
"Dein Ernst?"
Ein Lächeln glitt über Jakobs Lippen. "Natürlich nicht. Ich wollte nur mal sehen, wie du reagierst. Das Cover sollte zurückhaltend sein, man sollte schon sehen, dass es da drinnen auch um nackte Tatsachen geht, aber ohne es direkt zu zeigen."
"Mit einem Schleier darüber?"
"Eher stilisiert. Figuren. Tanzende Figuren. Eine Frau in verschiedenen Posen hinter einem Fenster. Einem bunten Fenster."
"Wieso das denn?"
"Soll es nicht 'Drama in Schwarz-Bunt' heißen? So ist jedenfalls der Titel des Manuskripts."
"Kannst du so etwas machen?"
"Aber klar doch!"
Jakob zog aus seiner mitgebrachten Umhängetasche einen Zeichenblock heraus, dazu Stifte. Noch waren wir aber nicht mit dem Kaffee fertig. "Einen kleinen Schnaps?", fragte ich.
"Nein, besser nicht. Zum Zeichnen brauche ich einen klaren Kopf. Wann hast du das denn geschrieben?", fragte Jakob.
"Na als ich im Krankenhaus und in der Kurzzeitpflege war. Da hatte ich jede Menge Zeit."
"Wieso warst du denn in der Kurzzeitpflege?"
"Ich konnte noch nicht wieder gehen, und die Toilette in meinem Haus ist für Behinderte nicht geeignet."
"Das war eine Party mit Greisen, oder?"
"Größtenteils ja. Aber ich hatte eine junge Zimmergenossin, die nach einem Unfall gelähmt ist. Dabei fällt mir ein, ich müsste sie mal wieder anrufen. Wir hatten damals jede Menge Spaß zusammen."
"Kaum zu glauben. Spaß im Rollstuhl?"
"Doch, war wirklich so. Wir hatten die ganze Gegend unsicher gemacht. Ich habe mich zwanzig Jahre jünger gefühlt."
Jakob griente mich an. "Es hat auch auf dein Aussehen abgefärbt. Du wirst wirklich immer jünger."
"Das macht die Kleidung." Ich kicherte. "Ich hoffe, ich bin schon volljährig."
Jakob schaute mich mit großen Augen an und ich beeilte mich zu sagen: "Ich räume mal alles ab, damit du Platz hast. Oder möchtest du noch ein Kuchenstück?"
"Nein, ich hatte schon zwei. Sonst werde ich allzu betrunken." Ich lachte und räumte ab. Jakob breitete seine Zeichenutensilien aus, und ich registrierte seine vorsichtigen Blicke. Als ich das Tablett in die Küche trug, wusste ich, dass er mir auf den Hintern glotzen würde, und zelebrierte meinen sexy Gang. Als ich nach dem Befüllen des Spülers wiederkam, hatte er schon einige Sachen auf das Papier gekritzelt. Aber dabei blieb es nicht. Er fertigte gleich mehrere Varianten dieses Themas an. Jakob war darin wirklich sehr gut. Und ich war gut darin, um ihn herumzuschleichen. Immer wieder drückte ich mich dicht an ihn heran, sog seinen Duft ein, berührte scheinbar wie beiläufig seinen Arm oder eine seiner Hände, oder drückte ihm meinen Busen an die Schulter.
Irgendwann drehte sich Jakob bei so einer Aktion um. Die Zeit blieb stehen. Seine Augen bohrten sich wie Laserschwerter erst in meine Augen, dann über meine Kleidung. Zack, zack, zack. Die Sachen fielen, eine nach der anderen. Zumindest bildete ich mir das ein. Ich stand nackt vor ihm! Er brauchte nur die Hand auszustrecken! Dann ging es tatsächlich los. Er streckte seine Hand aus. Er griff mit festem Griff meinen Rock, schob ihn hoch. Als Nächstes ging sein Griff an meinen Slip, den er langsam nach unten beförderte, bis er unterhalb meiner Knie war. Meine halterlosen Strümpfe musste er längst entdeckt haben. Sein Mund kam meiner Scham immer näher, und dann berührte er mit ihm meine Lustperle. Nicht lange danach erforschte er immer weitere Bereiche meiner Infrastruktur. Mein Gehirn spaltete meine Lust ab. Als seine Hände meinen Po griffen, hatte ich den Verstand schon längst verloren.
Seine Hände blieben nicht dort. Sie wanderten nach vorne, zu meinem Busen. Dann griff er zu, wenig später an meine Bluse. Nach einem kurzen, heftigen Ruck war diese Geschichte, oder zumindest die Knöpfe, welche sie zusammenhielten. Sie sprangen in alle möglichen Richtungen. Meine Knie wurden weich. Jakob stand auf und drückte mich jetzt auf den Esstisch mit den Zeichnungen. Ich ließ es willenlos geschehen. Sein Mund beförderte mich in Sekundenschnelle ins Paradies, sodass ich mich aufbäumte. Seine anschließende kurze und heftige Kopulation - natürlich mit Kondom - ließ ich willenlos über mich ergehen, sie sorgte für einen permanenten Lustpegel. Als ich wieder halbwegs denken konnte, rutschte ich vom Tisch herunter, sagte "Komm mit", und zog Jakob mit mir mit ins Schlafzimmer.
Sein Erstaunen war nur kurz. Sofort ging das Spiel weiter. Wir trieben es in allen möglichen und unmöglichen Stellungen. Am schönsten fand ich natürlich die Stellungen, bei denen ich mich am besten sehen konnte. Jakob, sein Kopf hinter meinem Venushügel und meine Hügel im Vordergrund, Jakob auf mir liegend, Jakob hinter mir kniend, und, und, und. Am Schluss lagen wir aneinander geklammert und ausgepowert im Bett. "Das war so klasse! Tolle Idee mit den Spiegeln."
"Jemand hat mir gesagt, ihr habt auch welche."
"Ach, das hat Meike gesagt?" Ich nickte. "Private Sexfilme sind einfach am besten. Da ist nichts gestellt, alles ist echt." Er schaute zum Deckenspiegel. "Ist dahinter deine Kamera?"
"Schau doch mal nach!" Jakob versuchte es, stand auf, was ich nutzte, um seinen Freudenspender noch einmal zu einem Einsatz zu überreden. Aber es klappte natürlich nicht, und er ließ sich ächzend wieder neben mich ins Bett fallen. "Es ist natürlich keine da. Ist viel zu gefährlich!"
"Puh, Glück gehabt. Hätte aber gut ausgesehen, oder?", fragte mich Jakob.
"Bestimmt. Was hat denn Meike gesagt?"
"Nichts. Sie hat nur so merkwürdige Andeutungen gemacht. So in der Art, dass etwas passieren könnte."
"Wirst du es ihr sagen?"
"Natürlich. Das ist der Deal. Ohne Bericht kein Fremdgehen."
"Da habt ihr ja eine schöne Variante des Fremdgehens gefunden. Sollte ich mal wieder ..., wäre das nichts für mich, glaube ich. Lieber wäre ich treu."
Jakob seufzte. "Ja, man müsste es schaffen, sich immer wieder neu zu erfinden als Paar. Aber so ... muss ich jetzt weiterarbeiten. Oder war das nur Tarnung?" Er stand aus dem Bett auf.
"Sowohl als auch. Natürlich benötige ich auch ein Cover."
"Na dann sollte ich die Skizzen mal so weit fertigstellen, oder?"
"Jakob, du bist ein Schatz."
"Wo ich doch so schön verwöhnt wurde!"
"Ich dachte, es wäre andersherum gewesen." Jakob lachte, zog seine Sachen wieder an, ich auch, und dann gingen wir wieder hinunter, zum Ess- und Arbeitstisch. Jakob setzte sich dran, und zeichnete weiter, so als ob nichts gewesen wäre zwischen uns. Nach etwa einer Stunde hatte ich drei verschiedene Skizzen.
"Welche gefällt dir am besten?"
"Ich glaube, ich schlafe einfach eine Nacht darüber. Dann weiß ich, welche."
"Eine gute Idee", meinte Jakob. So etwas ist immer eine gute Idee, aber ich war mir eigentlich schon recht sicher, welche es werden würde. "So, dann gehe ich mal, ja?"
"Mach's gut, Jakob!" Ich fiel ihm um den Hals, wir knutschten noch mal mehrere Minuten, bis sich Jakob befreite, und zur Tür ging. Ein beidseitig sehnsuchtsvoller Blick wurde von der sich schließenden Eingangstür brutal unterbrochen. Ich war voll geflasht. Es war viel schöner gewesen, als ich es mir vorgestellt hatte. Vielleicht sollte ich das irgendwann mal wiederholen. Schon wegen der Spiegel. Dann aber möglichst nicht mit Jakob. Es sollte eine einmalige Sache sein und bleiben.
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Teil27: Segeltörn mit Samira
Irgendwann bei meinen zahlreichen Besuchen im Salon hatte ich Samira mal von meinem Segeltörn erzählt. Sie war interessiert, aber es kam zunächst keine Reaktion darauf. Aber dann sprach sie mich doch irgendwann an: "Du Sandra, du hast mir doch mal von dem Segeltörn erzählt, den du da gemacht hast. Meinst du, ich könnte das auch mal machen?"
"Warum denn nicht? Wenn du keine Angst vor dem Meer hast."
"Hab ich nicht. Ich stelle mir das schön vor, so alles hinter sich zu lassen, nur man selbst, das Meer, und noch zwei oder drei andere Personen."
"Du willst also, dass ich mitkomme? Hab ich das richtig verstanden?"
"Ja, das wäre mir zu Anfang lieber."
Ich lachte. "Jockel ist ganz lieb. Und der andere auch, falls er mitkommt."
"Wie hieß der noch mal?"
"Ich hab dir von ihm erzählt. Anton. Anton aus Tirol." Im Spiegel des Salons konnte man sehen, dass Samira grinste.
"Kann der denn deutsch?"
"Also Samira, was denkst du denn von den Österreichern! Klar haben die so ihren Dialekt. Aber Anton versteht man sehr gut. Er hat ja lange hier in Hamburg gewohnt und sich viel davon abgewöhnt."
"Das war der Typ, welcher dich in den Bergen begleitet hat, ja?"
"Na ja, ich habe eher ihn begleitet, ich wusste zwar, wo ich hin wollte, aber er wusste, wo und wie. War mein Führer und Tourguide. Sehr brauchbar, und lustig ist er auch. Obwohl er ziemlich viel durchgemacht hat."
"Aha. Was war das? War er im Gefängnis?"
"Nein, das nicht. Es war etwas anderes. Bei Jockel auch."
"Oh Mann Sandra, ich bin so neugierig!"
"Ich kann das nicht verraten, aber wenn es dir einer von ihnen selbst sagt ..."
"Na gut. Aber du fragst ihn mal, wegen des Segelns, ja? Wem gehört denn das Boot?"
"Das gehört Jockel. Weiß aber nicht, ob er gerade vor Anker liegt. Die beiden haben auch schon öfters längere Touren unternommen."
"Wird man da eigentlich seekrank?"
"Kann schon sein. Aber ich wurde es nicht. Aber es war ja auch kein Sturm dabei. Das musst du schon selbst probieren."
"Gut. Also, du fragst mal, ja?"
"Ja, mache ich. Dann gib mir mal mein Handy."
"Wie, jetzt gleich? Okay, da, nimm." Sie reichte mir das momentan für mich unerreichbare Handy. Ich suchte Jockels Nummer und rief an. Es dauerte eine Weile, dann ging jemand ran.
"Jockel hier."
"Hier Sandra, die freche gelegentliche Mitseglerin."
"Hey Sandra! Schön dass du dich mal wieder meldest! Hast du Sehnsucht nach dem Meer?"
"Klar. Bist du immer noch mit Esmeralda verheiratet?"
"Na logisch. Mit wem denn sonst?"
"Lust auf einen Dreier? Oder gar auf einen Vierer?"
"Oh, ich weiß nicht, Sandra. Du kennst doch mein Problem."
Ich lachte. "Jockel, es geht nur um einen Segeltörn! Ich hätte da jemanden, der auch mal mit will. Sie ist hübsch und jung, aber keine Escortdame." Samira, die sich weiter um meine Haare kümmerte, schaute mich über den Spiegel erst fragend an, dann schmunzelte sie.
"Ach so! Wann will sie denn zum Segeln mitkommen?"
"Weiß nicht. Ich frage sie mal." Ich schaute zu Samira. "Nächstes Wochenende? Donnerstag bis Montag?" Ich schaute dabei Samira an, die nickte. "Sie hat ja gesagt. Geht das? Was ist mit Anton? Kommt der dann auch mit?"
"Ich frage ihn mal. Ich glaube ja. So eine hübsche Frau kann er sich doch nicht durch die Lappen gehen lassen."
"Na, schauen wir mal. Samira ist nicht leicht zu haben, glaube ich." Fragendes Gesicht von Samira im Spiegel. Ich lachte. "Du müsstest jetzt mal ihr Gesicht sehen!"
"Ich stelle es mir vor", sagte Jockel lachend. "Verschacherst du immer deine Freundinnen?"
"An nette Freunde ja. Wann sollen wir da sein?"
"Sagen wir elf Uhr nächsten Donnerstag? Sonst würde ich mich noch mal melden."
"Klingt gut. Ich sage ihr Bescheid. Na dann, Käpt'n, auf 'ne steife Brise."
Jockel antwortete brummig: "Wird ja sonst nichts mehr steif", und legte auf. Bloß gut, dass Samira das nicht gehört hatte. Bisher hatte ich es immer vermieden, ihr allzu viele intime Details zu verraten, und das von und mit Jockel würde ich ihr ganz bestimmt nicht erzählen, außer, er erzählte es ihr mal selbst.
"Was meintest du denn mit Escortdame?", fragte jetzt Samira natürlich glatt. "Braucht der die für bezahlten ÄhÄh?"
"Kannst ruhig Sex sagen", meinte ich mit Blick auf Frau Maier, die Kundin neben mir, von der ich und auch Samira wussten, dass sie schwer hört. "Nein, ab und an ist er gerne in Begleitung einer Dame, zum Dinner zum Beispiel. Escortdamen sind keine Sexarbeiterinnen, falls du das meinst. Sie dienen nur der unterhaltsamen Gesellschaft. Er meint, das können die ganz gut. Er geht öfters mal mit einer aus. Also Jockel, Anton nicht, soviel ich weiß. Das ist der mit den Bergtouren."
"Ja, jetzt weiß ich ... das war doch das mit diesem blöden Stein, oder?"
"Sag nicht blöder Stein. Der hat tatsächlich was ins Rollen gebracht. Man müsste ihn rollender Stein nennen."
Samira kicherte. "Rolling Stone. Was hat der denn gerollt?"
"Der hat mich gerockt, mich in Trab gebracht, Kräfte in mir geweckt, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie habe. Und bei derjenigen, welche mir den Auftrag gegeben hatte, da hat er auch gewirkt. Etwa zu der Zeit, als ich die Sache in Angriff nahm, da hatte es bei ihr gefunkt, und sie hat jetzt wieder einen Freund."
Samira seufzte. "Den möchte ich auch gerne haben."
"Kannst du doch! Warum datest du nicht?"
"Ach, das ist mir zu doof, zu unpersönlich. Ist das nicht verrückt? Ich treffe im Salon jede Menge Menschen, auch Männer, aber die kann ich ja nicht einfach so fragen."
"Warum nicht? Und dich hat nie jemand gefragt?"
"Doch. Aber das waren dann solche dreisten Typen. Diese, welche wissen, dass sie immer gewinnen. Und dann lassen sie einen fallen." Samira schüttelte sich. "So welche können mir gestohlen bleiben!"
"Du hattest schon mal so einen, oder?"
Samira verdrehte jetzt ihre Augen, im Spiegel deutlich sichtbar. "Es war mehr als einer. Genaugenommen drei. Ich weiß auch nicht, warum ich mich bei den letzten beiden darauf eingelassen habe, trotz meiner Erfahrung mit dem ersten."
"Ganz einfach: weil du weißt, die gewinnen immer. Jetzt bist du endlich schlauer und willst einen Mann für's Leben."
Samira seufzte. "Erstmal finden!"
"Das wird schon, Sweety. Er wird nicht auf einem weißen Pferd angeritten kommen, aber er kommt."
"Ich nehm dich beim Wort, Sandra." Samira schien die negative Energie, welche sie erfasst hatte, abzuschütteln, und war wieder die Alte. Eine Stunde später, wir waren wieder zum Smalltalk übergegangen, war sie fertig mit meiner Frisur. Ich bezahlte, bedankte mich, und sprach alles mit ihr ab. Ich würde sie abholen und mitnehmen, Samira hatte ja kein eigenes Auto, ich glaube, noch nicht mal einen Führerschein. Am Vorabend rief ich Jockel an, der meinte, dass alles passt, auch das Wetter, und dass er und Anton sich freuen. Aha. Also keine weiteren Leute dieses Mal.
Der Donnerstag war heran. Nach der problemlosen Fahrt gingen wir zum Steg. Man sah Samira an, dass sie ein wenig angespannt wirkte. Ich hatte ihr vorher noch gesagt, was sie zum Anziehen mitnehmen sollte. Da lag das Boot, und schaukelte lässig auf den seichten Wellen, der Wind hatte schon eingesetzt, war aber noch nicht stark. Samira warf mir einen Blick zu. "Das ist aber groß!"
"Wir kommen an Bord", rief ich, und ging die kurze Gangway hoch. Da kamen Jockel und Anton auch schon aus dem Inneren. "Jockel, Anton: das ist Samira. Samira: Der linke ist Jochen, genannt Jockel, und er ist der Skipper, und rechts siehst du Anton, den Bergsteiger."
Anton lachte. "Na, hast du mit mir geprahlt?"
"Musste ich nicht. Du bist der beste Bergführer ever. Und Jockel ist der beste Skipper. Zumindest der beste Skipper, den ich kenne."
Anton sagte zu Samira: "Sandra kennt auch keinen anderen Bergführer", und schmunzelte dabei. Man sah Samira an, dass für sie kurz die Zeit stehen geblieben war. Jetzt fing sie sich aber wieder.
Jockel sagte zu mir: "Du kennst auch keinen anderen Skipper", und schmunzelte dabei. Man sah, Samira gefiel ihm auch, zumindest von der Optik.
Samira machte eine typische Übersprungshandlung. "Sagt mal, gibt es hier eigentlich eine Toilette an Bord?"
Anton lachte, und sagte: "Wir nehmen immer die Große", und zeigte auf das Wasser, ergänzte dann aber: "Nein, natürlich haben wir eine. Komm mit, ich zeige dir alles."
Ich blieb mit Jockel auf dem Oberdeck, stellte meinen Rucksack ab. Jockel fragte: "Wollen wir ablegen?" Ich nickte. "Du steuerst", sagte Jockel, kappte die Stromverbindung und die Leinen, hisste das Segel - zum Glück ging das hier ja elektrisch, stellte es in den Wind, und das Boot glitt lautlos vom Steg weg. Ich hatte das Boot noch nie in einem so engen Bereich manövriert, aber Jockel half mir, und so kamen wir unfallfrei aus der Hafeneinfahrt heraus. Die Wellen wurden nun höher, Jockel reichte mir die Schwimmweste und legte sich auch eine um.
Da steckte Samira ihren blonden Schopf aus der Luke zum Unterdeck. "Was, wir fahren schon?", fragte sie.
"Ich hatte Angst, dass du es dir anders überlegst. Aber noch können wir umkehren", antwortete ich.
"Nöö, ist hier ganz okay. Ich glaube, hier kann man es ein paar Tage aushalten." Auch Anton kam jetzt auf das Oberdeck.
"Komm mal her", sagte Jockel zu Samira. "Du darfst jetzt auch mal steuern und ich zeige dir noch, wie man das Segel zum Wind ausrichtet und alles sowas."
Samira warf noch einen bedauernden Blick zu Anton, und ging zu Jockel hin, während ich mich zum Vordeck bewegte, und Anton mir folgte, nachdem auch er sich eine Schwimmweste angelegt hatte. Samira bekam natürlich auch eine Weste verpasst.
Anton warf einen kurzen Blick zu den beiden. "Das ist also deine Freundin, ja?"
"Ja, Freundin, Friseurin, Fitnessklubpartnerin und zum Selbstverteidigungskurs geht sie jetzt auch."
"Sie ist aber viel jünger als du!"
"Na, und? Wir schwimmen trotzdem auf einer Wellenlänge. Ihr beide übrigens auch." Anton schmunzelte, antwortete aber nicht darauf. "Sie gefällt dir. Das hab ich gesehen."
"Hat sie einen Freund?"
"Nein. Aber ich weiß, dass sie einen sucht. Einen richtigen."
"Ach, ich bin doch zu alt für sie."
"Das denkst du! Samira ist total konservativ. Im Kopf ist sie fünfzig. Warum also nicht?"
"Ach, ich weiß nicht", sagte Anton. Ich ließ ihn sitzen und ging zu den beiden hin.
"Sag mal Jockel, wo geht unsere Tour überhaupt hin?"
"Einmal um die Welt", sagte Jockel. Er sah mein Gesicht, sagte dann aber: "Nur um die dänische Inselwelt. Dieses mal aber eine andere als letztes Mal."
"Puh, du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt."
"Allein um dein verdutztes Gesicht zu sehen, hat es sich gelohnt", sagte Jockel grinsend. "Übernimm mal", sagte Jockel zu Samira, die völlig überrascht ans Ruder griff. Es war keine Gefahr, ich war ja dabei und konnte das Boot in normalen Gewässern beherrschen.
"Welchen Kurs?", rief ich zu ihm.
"Sonne rechter Hand", rief Jockel zurück. Das war ja mal eine originelle, exakte Angabe. Er setzte aber noch nach: "Östlich um Fehmarn drumherum."
Jockel und Anton schienen sich jetzt angeregt zu unterhalten. Wie ich einigen Blicken entnehmen konnte, ging es wohl um Samira. Die tüftelten doch nicht etwa aus, wer von ihnen mit Samira was anfangen durfte? Aber ich vermutete, die Wahl von Samira war schon längst vollzogen. Denn die Frau sucht aus. Immer! Samira warf mir immer wieder kurze Blicke zu. Sie lächelte. Es war offensichtlich, dass sie sich hier an Bord wohlfühlte. Ihre Angst vom Anfang war längst verflogen. "Mann, ist das schön!", sagte Samira. "Das ist ja fast wie Segelfliegen!"
"Schon mal gemacht?"
"Ja, vor einer Weile. War auch schön, aber das dauerte ewig, bis ich endlich an der Reihe war, mit dem Flugzeugführer zusammen abzuheben."
"Das ist hier auch nicht anders. Ohne Wind läuft nichts." Ich betätigte das Navi, um in einer größeren Ansicht zu schauen, welchen Kurs wir ungefähr fahren mussten, und ließ Samira auf diesen Kurs einschwenken. Der Wind fuhr ihr in die Haare und sie sah sehr glücklich aus. Dass sie noch etwas Bedrückendes mit sich herumtrug, konnte man ihr jetzt noch nicht ansehen. Ich textete Samira noch eine Weile damit zu, ihr alles Mögliche über das Segeln und das Stellen des Segels zu erzählen. Aber irgendwann merkte ich, dass sie gar nichts mehr aufnehmen konnte. Ich ging zu Jockel und Anton, die immer wieder mal Blicke zu uns hinübergeworfen hatten. Trauten sie sich nicht an Samira heran? Sie sah toll aus, wie sie da so mit flatternden Haaren am Ruder stand.
"Wie schaut's aus? Soll ich was kochen?", fragte ich. Ich hatte nämlich Hunger und hoffte, den anderen ginge es ebenso.
"Wär nicht schlecht", sagte Jockel.
"Und was?"
"Sandra: wie immer! Nudeln mit Tomatensoße."
"Gut, dann mache ich halt Pasta", sagte ich, und ging unter Deck, zur Kombüse. Zwanzig Minuten später war alles fertig. Ich steckte meinen Kopf aus der Luke. "Essen ist fertig!"
"Geht mal! Ich übernehme das Ruder", sagte Jockel, und Anton und Samira setzten sich in Bewegung, kamen auch unter Deck. Ich tat allen etwas auf und wir fingen an zu essen. Jockel hatte recht. Wegen der Einfachheit hatten wir fast immer was mit Nudeln gekocht, damals beim Törn. Ich hatte es nur wieder vergessen.
"Und du bist also Frisöse", sprach Anton Samira an.
"Das heißt Friseurin", sagte Samira.
"Oh Verzeihung, eure Majestät. Ich wusste nur nicht, wie es korrekt heißt."
"Schon gut", sagte Samira. "Freunde von Sandra dürfen das ausnahmsweise."
"Und, machst du das gerne? Macht das Spaß? Ist ein krisensicherer Job, oder?"
Samira schaute, als ob sie gerade von einem ganzen Wespenschwarm gestochen wurde, zuckte zusammen. Auf einmal fing sie unvermittelt mit Heulen an. Richtig lautes Heulen und Schluchzen. Anton und ich waren total perplex, dass das auf so eine einfache Frage passiert war. "Es ist doch nicht ... kann die doch nicht ... hab mich doch so ... und dann das! Ich will nicht ..."
"Samira, was ist denn los? Haben wir was falsch gemacht?" Anton, der auf der Bank neben ihr saß, war ebenso wie ich ganz erschrocken, legte jetzt aber die Hand auf ihre Schulter, und redete beruhigend auf sie ein. So ganz allmählich beruhigte sie sich wieder, ehe sie mit immer noch stockender Stimme sprach: "Die hat alle entlassen! Die will den Salon schließen! Angeblich wirft der nicht genügend Gewinn ab. Kein Wunder, bei deren Lebensstil!"
"Meinst du deine Chefin?"
"Ja, genau die. Diese blöde Kuh! Und wir müssen sehen, wie wir klarkommen!"
"Samira, wieso hast du denn nichts gesagt!"
"Warum schon! Ich wollte beim Segeln einen freien Kopf bekommen."
Jetzt sprach Anton zu ihr: "Kannst du denn nicht bei einem anderen Salon anfangen?" Immer noch tätschelte er ihre Schulter.
"Weiß ja nicht, wo. Das ist nicht so einfach!"
"Und einen eigenen Salon aufmachen?"
"Da müsste ich erstmal den Meister machen. Das dauert mehrere Monate und da fehlt mir auch das Geld für!" Immer noch war ihre Stimme sehr weinerlich.
"Und wenn ich dir einen Kredit gebe?"
"Das würdest du tun?"
"Klar, warum denn nicht? Und beim Salon habe ich auch eine Idee. Dagmar sucht schon länger nach einem Nachfolger. Sie ist 68 und hat jetzt keine Lust mehr. Ich kann dich ihr vorstellen."
"Das ist deine Mutter, oder?"
Anton lachte. "Du musst mich ja für sehr jung halten. Nein, Dagmar ist die Chefin meines Friseursalons, in den ich immer gehe."
"Okay, das müssen wir dann noch durchsprechen. Da brauche ich auch noch Bedenkzeit."
"Kein Problem", sagte Anton. "Aber nun iss mal weiter, sonst verhungerst du noch. Ist jetzt vielleicht ein wenig versalzen."
"Wieso denn?"
"Deine Tränen", sagte Anton.
"Und, alles wieder gut?", fragte ich Samira.
"Na ja. Geht so. Dank euch. Freunde sind was Gutes."
Wir machten uns wieder ans Essen, und da ich als Erster fertig war, sagte ich: "Ich löse mal Jockel ab, damit der auch essen kann." Beide nickten mir zu und ich ging auf das Oberdeck. "Kannst essen gehen", sagte ich zu Jockel. "Ich übernehme." Ich schaute nach unten. "Da braut sich was zusammen", sagte ich. Jockel schaute ganz erstaunt.
"Wieso? Das Wetter soll doch gut bleiben!"
Ich lachte auf. "Ich meine, bei den beiden. Sie mögen sich!"
Jockel schmunzelte. "Ja, das hab ich auch schon gemerkt. Wird aber 'ne Weile dauern. Anton ist in so etwas immer ein wenig übervorsichtig. Also, bis er reagiert, nicht drängeln! Er muss von selbst draufkommen. Amors Pfeil, verstehst du."
"Macht ja nichts, gut Ding will Weile haben, auch von ihrer Seite her. So etwas zu überstürzen, hat eine nette, so emanzipierte Lady wie sie auch nicht nötig. Sie ist ja schließlich keine Escortdame." Ich grinste Jockel zu meinen Worten an. Als Antwort reichte mir der Blick von Jockel. Er wusste, dass ich seine Art des Zusammenseins mit Frauen nicht verurteilte. Dann ging er zum Essen. Als Jockel wiederkam, folgten auch Samira und Anton, setzten sich auf das Vorschiff, und redeten miteinander. Jockel meinte, dass ich erstmal am Ruder bleiben sollte, nach mir dann Samira dran wäre und erst Anton und er die Nachtfahrt übernehmen würden. Das hatten sie schon letztens so gemacht. Wirklich ganz dunkel war es ja nur einige Stunden. Ich ging in die Koje, schlief wunderbar im seichten Wiegen der Wellen. Ich war früh wach, machte mich frisch, aß Frühstück, auch Anton und Samira wurden dann wach und frühstückten. Samira schwärmte Anton von der Schönheit des Segelns vor. Als Samira mal wohin musste, sprach ich Anton an: "Na, wie läuft's mit Samira?"
"Gut. Ich mag sie. Sie ist nett."
"Nur mögen? Ist da nicht mehr?"
Anton schmunzelte. "Vielleicht ist da ja mehr. Aber ich will es langsam angehen. Es soll ja nicht so aussehen, als ob ich ..."
"Sie mit dem Kredit ködere. Den Tipp wollte ich dir auch geben, aber aus anderen Gründen. Samira ist ziemlich konservativ. Du musst ihr Zeit lassen."
Anton seufzte. "Ich habe sowieso noch eine Bremse im Kopf. Wegen ihres Alters."
"Dann trete da ruhig noch weiter auf die Bremse für eine Weile. Ich gehe jetzt mal Jockel ablösen."
Samira kam aus der Toilette raus. "Na, habt ihr über mich gesprochen?"
Wir beide schauten uns wie abgesprochen an und aus unseren Mündern kam: "Nein, gar nicht."
Ich schaute zu Anton. "Ich gehe jetzt mal!" Ich ging zu Jockel auf das Oberdeck. Keine Ahnung, was die beiden geredet hatten, aber eine halbe Stunde später kamen auch sie nach oben. Ich hatte mich in der Zwischenzeit mit Jockel über meine nervige Genesung im Krankenhaus unterhalten, über die Reha, und über das unerwartete Zusammentreffen mit Evelyn, und natürlich über die Sache mit dem grausamen Tod meines zweiten Stiefsohns. Das hatte ich den anderen noch nicht zum Besten gegeben. Wie schon beim ersten Törn spielte sich unser Zusammenleben an Bord schnell ein. Einmal ankerten wir auch kurz auf einer Sandbank und hier kamen endlich unsere Bikinis zum Einsatz. Alleine die Blicke der beiden waren es wert gewesen!
Zwischen Fehmarn und Langeland kamen wir nicht so gut voran, da wir kreuzen mussten, aber dann nahmen wir wieder gut Fahrt auf. Wir passierten die Insel Fyn östlich, und statteten dann der Stadt Aarhus einen Besuch ab. Zurück ging es dann westlich von Fyn, wo wir auch einen engen Sund passieren mussten, bei dem Jockel für einige Stunden den Motor aktivierte, da das Kreuzen hier zu schwierig geworden wäre, und kamen dann am frühen Montagnachmittag wieder in Grömitz an.
Samira war Feuer und Flamme, das Segeln hatte ihr Spaß gemacht. Wir verabschiedeten uns von den beiden. Samira drückte dabei Anton länger als Jockel. Gleich nach dem Losfahren fragte ich Samira. "Und, war gut? Ist alles wieder im grünen Bereich?"
Samira schaute zu mir rüber. "Es war wunderschön. Ich konnte gut abschalten."
"Du hättest mir aber auch was sagen können. Wir hätten eine Lösung gefunden. Habt ihr euch schon verabredet?"
"Meinst du Anton? Nein. Aber ich mochte ihn."
"Da ist wohl mehr als nur Mögen." Kurzer Blick zu Samira. "Aber es ist gut, das erst mal langsam anzugehen. Lag es am Kredit?"
Samira seufzte. "Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Will er mich kaufen?"
"Ich glaube nicht. Nicht Anton. So schnell verliebt der sich auch nicht. Ich kenne ihn, er ist ehrlich. Notfalls kann ich dir auch aushelfen, wenn nötig."
"Echt jetzt?"
"Ich bin nicht so reich wie er, habe aber Rücklagen."
"Und wie kann ich ihn treffen? Wie oft segelst du denn mit ihnen?"
"Das war erst mein drittes Mal." Samiras Augen füllten sich schon mit Tränen, zumindest wurden sie feucht. "Aber ich habe Antons Telefonnummer."
"Du hast seine Nummer?"
"Ja, klar. Er war ja mein Begleiter in den Dolomiten. Hat er dir von seinem Drama erzählt? Und der Bekanntschaft mit Jockel?"
"Nein, nur angedeutet. Dass er ihn im Krankenhaus kennengelernt hat."
"Wenn du ihn besser kennenlernst, wird es dir vermutlich erzählen. Es ist eine ihn emotional ziemlich belastende Sache, das erzählt er nicht jedem."
"Du meinst, ich sollte wirklich? Ich meine, wegen unseres Altersunterschieds."
"Na und? Der Altersunterschied im Kopf ist wichtig. Und da bist du genau richtig. Ich meine, nicht wirklich altmodisch, aber passend zu seiner Generation. Mit Werten. Lebenseinstellungen, die zu seiner Generation passen."
"Woher weißt du das denn von mir?"
"Na, ich habe zugehört. Deine Meinungen zu Themen. Da reimt man sich was zusammen. Das Flippige, was man bei deiner Generation noch findet, das geht dir völlig ab. Keine Klubs. Keine Exzesse. Keine Drogen. Kein HWG."
"Was ist denn HWG?"
Ich grinste mir einen. "Häufig wechselnder Geschlechtsverkehr."
"Ach so." Kurzer Seitenblick. Samira begann rot zu werden.
Ich spürte, die Zeit war reif für die Frage. "Sag mal, was war denn wirklich der Grund für den Selbstverteidigungskurs?"
Samira seufzte. "Ich hatte mal davor einen Freund. Nur ganz kurz. Und dann wollte der mit mir herummachen, als er was getrunken hatte. Das wollte ich aber so nicht. Ich wollte, dass er das erste Mal mit mir mit vollen Sinnen genießt. Da hat er versucht, mich ..."
"Dich zu vergewaltigen?"
"Ja. Ich konnte dann rechtzeitig flüchten, aber ich hätte mir gewünscht, dass ich mich besser hätte verteidigen können. Deshalb war ich so auf das Mitmachen erpicht, als du davon erzählt hast. Es war kurz vorher passiert."
"Ach Mann, Samira. Das tut mir leid. Ich hoffe nur, dass es diese weitere Geschichte mit Anton nicht belastet."
"Ich auch", sagte Samira. Den Rest der Fahrt unterhielten wir uns mit eher unwichtigen Themen und ich setzte Samira dann zu Hause ab. Ich hatte nicht erwartet, dass so etwas passiert, aber nun drückte ich beiden die Daumen, dass sie erfolgreich eine Beziehung aufbauen können. Bevor ich aber Samira seine Telefonnummer gebe, würde ich mich noch bei Anton rückversichern. Aber ich müsste mich schon sehr, sehr täuschen. Ich wurde ein wenig sentimental. So langsam wurden mir nach und nach die festen Liebhaber abspenstig. Sollte das ein Zeichen für mich sein? Sollte ich der Vielmännerei abschwören und mir einen festen Partner suchen? Aber noch fühlte ich mich nicht reif genug dafür.
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Teil28: In der Tittenklinik
Endlich war es soweit, ich sollte wieder eine Frau werden. Nun ja, die war ich zwar bereits, aber ich sollte, eher wollte wieder eine begehrenswerte, möglichst makellose Frau werden. Mein Termin stand an: Schönheitsklinik. Ich hatte bereits alle Informationen über einige Flyer bekommen, die Voruntersuchung war ja bereits gewesen, und ich war guter Dinge. So setzte ich mich in mein Auto und war nach einer guten Stunde dort, es war ja nicht weit, in Lübeck. Hier war alles strahlend hell, Glasfronten dominierten, ich vermute mal, es sollte die richtige Stimmung erzeugen. Ich brachte die Anmeldung über mich, bekam ein Zimmer - es war ein Zweibettzimmer, räumte alles ein, und wartete. Kannte ich ja von meinem Krankenhausaufenthalt zur Genüge. Dann holte mich eine Schwester ab. Ich sollte zum Arzt.
Sie klopfte und lieferte mich ab. Er saß hinter seinem Schreibtisch und strahlte mich an. "Danke, Indra", sagte er zur Schwester, die sogleich verschwand.
"Frau Neuhaus. Sie wurden mir schon von meinem Bruder angekündigt. Holger Neuhans."
Ich musste unwillkürlich kurz auflachen. "Was hat Karsten denn so über mich erzählt?"
Er griente. "Dass sie beide schon beim Du sind, hat er nicht gesagt."
"Waren wir auch nicht so richtig. Erst kurz vor Ende meines Wellnessurlaubs dort. Und wir werden zusammen essen gehen, wenn sie ihre Sache gut machen."
Ein leichtes Lächeln huschte kurz über sein Gesicht. "Das gehört zu den Sachen, die er mir erzählt hat. Und dass sie damals ziemlich geknickt waren nach dem Unfall. Wie geht es ihnen denn heute damit?"
"Das ist ja nicht wichtig hier, denke ich. Mein Bein soll wieder hübsch werden!"
"Körper und Geist sind eine Einheit. Im fernen Osten ist die Verinnerlichung dessen meist weiter. Aber ich sehe schon, sie haben es überwunden. Keine Depression mehr da. Also, willkommen in der", er senkte die Stimme, und flüsterte das Wort: "Brustvergrößerungsklinik."
Ich musste losprusten. Er griente erneut. "Bin ich jetzt zu weit gegangen?"
"Nein, ich fand es lustig. Was haben sie denn gegen vergrößerte Brüste?"
"Alles. Das Aussehen, die Narben, die Haptik."
"Wieso Haptik?"
"Haben sie schon einmal so eine angefasst?"
"Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit."
"Sie sind ja auch eine Frau!"
"Das ist ja nun kein Hindernis."
"Ach?" Er lächelte. "Na, wie auch immer. Solche Brüste fühlen sich einfach schrecklich an. Nicht was sie denken. Die Frau wollte partout, dass ich es mache. Es war aber lange nach ihrer OP. Die hatte auch jemand anders gemacht. Und in der Tat werden sie bald merken, dass hier eine der höchsten Dichten von unechten Brüsten, aufgeplusterten Botox-Schmollmund-Lippen, und von durch Tattoos verunstalteten Körpern vorhanden ist. Der totale Körperwahn. Fleisch gewordene Selbstoptimierung mit allen Mitteln, egal was es kostet, egal welche Nebenwirkungen und Gefahren auftreten. Solche Patienten wie Sie sind hier in der Minderheit."
"Jawohl, Meister Tattoowan-Kenobi."
"Ich glaube, ich mag ihren Humor."
"Ihr Bruder mochte ihn auch."
"Wundert sie das? Dann zeigen sie mal." Ich fasste an zum Kreuzgriff und zog mir das Oberteil aus. "Sieht schön aus, aber ich meinte eigentlich ihr Bein. Laut den Unterlagen liegt weder eine Brustvergrößerung an noch hatten Sie angegeben, dass am Oberkörper eine Narbe ist."
Mein Mund formte sich zu einem kleinen Lächeln, dann zog ich mein Oberteil wieder an. "Wahrscheinlich haben sie schon viel schönere Körper gesehen." Er antwortete darauf nicht. Ich griff mir unter den Rock und zog mir meine Strumpfhose aus. Auf Strapse hatte ich hier verzichtet, da ich annahm, dass das hier vielleicht nicht ganz angemessen war. Nun waren meine Beine nackt. Zu behandeln war aber nur das linke Bein. Er schaute sich das an. Damals bei der Voruntersuchung war das ein anderer Arzt gewesen, da er im Urlaub war.
"Das war also ein Unfall gewesen, ja?"
"Genau. Mein Auto ist in einen Hänger hineingefahren, auf dem Holz transportiert wurde. Eine der Hölzer hat sich durch den Motorraum gebohrt und das Bein getroffen. Ihr Bruder hat mir das erklärt. Hier ist er an das Bein gegen gekommen", ich zeigte auf die Stelle. "Der Knochen ist dabei gebrochen, dummerweise als Splitterbruch, die Teile sind hier und hier ausgetreten. Auch der Muskel wurde verletzt, deswegen ist hier diese Wulst. Das hatte ich mit ihrem Kollegen besprochen, dass das auch korrigiert werden soll. Und dann natürlich die Narbe vom Eröffnen des Beines. Sieht nicht schön aus, oder?"
"Da habe ich schon Schlimmere gesehen. Im medizinischen Bericht steht auch eine Kopfverletzung."
"Da bin ich gegen die Säule gegen. Die Stelle ist durch meine Haare verdeckt, da muss nichts gemacht werden."
"Okay, also wir gehen da folgendermaßen vor ..."
Ich grätschte dazwischen. "Machen sie das denn nicht selbst?"
Er lächelte kurz. "Operationen sind ein Teamjob. Das macht nie einer alleine. Ich mache das zwar selbst, aber es sind auch ein Assistenzarzt, OP-Schwestern und ein Anästhesist dabei. Wir machen das unter Vollnarkose. Der Wulst am Muskel wird begradigt. Und die Narbe korrigieren wir mit einer Z-Plastik. Eine Narbe sieht man dann zwar immer noch, die ist dann aber viel unauffälliger wegen der Form. Und diese dicke Narbenwulst", wieder zeigte er auf eine Stelle, "die schleifen wir ab. Diese eingefallene Stelle unterfüttern wir mit Eigenfett. Danach bleiben sie erst mal ein paar Tage hier zur Wund- und Narbenpflege. Anschließend können sie nach Hause. Die Narbe muss aber weiter gepflegt werden. Ein halbes Jahr später schauen wir uns das noch mal an. Vielleicht müssen wir dann noch an einigen Stellen eine sogenannte Nadeltherapie machen."
"Klingt gut. Und ich wollte sie und ihr Team nicht beleidigen. Das weiß ich natürlich."
"Wie ist das denn passiert?"
"Was, der Unfall? Spielt das eine Rolle?" Er schüttelte den Kopf. Aha, es ging um Neugier. "Hat das ihr Bruder nicht gesagt?" Wieder Kopfschütteln. "Ich habe meinen gewalttätigen und flüchtenden Stiefsohn mit dem Auto verfolgt, nachdem er mich zuerst umbringen wollte. Dann war auf einmal dieser Unimog mit dem Hänger und diesem Holz drauf im Weg. Zu hohe Geschwindigkeit." Er bekam große Augen, sagte aber nichts dazu. "Müssen sie jetzt überlegen, ob sie leichtsinnige oder besser mutige Frau sagen sollen?"
"Weder noch. Aufgebrachte Frau wäre wohl passender. Da macht man manchmal solche Sachen, die man besser lassen sollte. Ist mir auch schon mal passiert. Hat man ihn gekriegt?"
"Nein, er konnte entkommen."
"Hat er es noch mal versucht?"
"Ja, später, aber das hat er nicht überlebt."
"Oh, muss ich jetzt aufpassen? Lebe ich jetzt gefährlich?"
Jetzt lachte ich auf. "Nicht, wenn ihre Operation glückt. Nein, keine Angst. Sein Tod war so eine Art Leichtsinn beim zweiten Mordversuch."
"Macht ihnen das gar nichts aus? Und ihrem Mann? Wie ging es ihm damit?"
"Er wäre wohl traurig gewesen, aber auch er hatte so seine Probleme mit ihm."
"Ach ...?"
"Er starb schon ein paar Jahre vorher, auch bei einem Unfall."
"Und ihr Stiefsohn hatte bei ihnen gewohnt?"
"Ja, aber nicht dieser, sondern der andere Stiefsohn. Mein Mann hatte Zwillinge mit dieser anderen Frau."
"Sie scheinen eine bemerkenswerte Resilienz zu haben. Ich kenne so einige, die an viel weniger zerbrochen sind."
"Danke. Blieb mir ja nichts weiter über. Das Leben muss ja weitergehen, und es hatte so einige Überraschungen positiver Art für mich gehabt. Ich bin versöhnt mit Allem."
Er gab mir noch einen Flyer mit. "Lesen sie sich das schon mal gründlich durch. Nachher bringe ich ihnen auch noch den Aufklärungsbogen und dann sprechen wir noch über die Risiken und Nebenwirkungen. Muss ja alles seine Ordnung haben."
Das Gespräch war wohl zu Ende. "Ja, bis dann." Ich zog mir meine Strumpfhose wieder hoch, erhob mich von dem Stuhl und ging aus dem Zimmer, warf ihm über die Schulter aber noch ein Lächeln zu. Ich ging in mein Zimmer zurück. Da wartete schon jemand, saß auf dem anderen Bett. Eine Frau. Alter etwa 40 Jahre. Hellbraune Haare. Allerweltsgesicht. Einige Narben waren zu sehen, im Gesicht und am Hals. Sie hatte nicht viel auf den Rippen und einen verhärmten Gesichtsausdruck. Der änderte sich aber sogleich, als sie mich sah.
"Hi! Ich bin Mirja." Aufrichtiges Lächeln.
"Ich bin Sandra. Verkehrsunfall. Und du?"
Sie lachte auf. "Auch Verkehrsunfall. Mit dem Rad. So ein Blödmann hatte mich zu knapp überholt, ich bin gestürzt, auf die Bordsteinkante gekommen, und das Resultat siehst du hier vor dir."
"Und der Autofahrer?"
"Ist über alle Berge."
"Merde!"
"Du sagst es. Auch Rad?"
"Nee, Verbrecherjagd. So ein Blödmann wollte mich umbringen, flüchtete, dann hab ich ihn mit dem Auto verfolgt und war zu unvorsichtig."
Sie bekam große Augen. "Bist du Polizistin?"
"Keine Angst, nein. Das war ein privates Ding."
"Auseinandersetzung im Mafiamilieu?"
"Also Italiener war er wirklich. Keine Mafia, Einzelgänger. Später war er aber zu unvorsichtig und ist von einem Zug erfasst worden."
"Du kanntest den also?"
"Nicht wirklich. Aber er war einer meiner beiden Stiefsöhne."
"WOW. Das ist ja wie im Krimi!"
"Stimmt, ich sollte Drehbuchautorin werden. Über die Vorgeschichte schreibe ich schon ein Buch."
"Ach! Ist das schwer?"
Ich seufzte. "Irgendwie ja. Zumindest der Anfang war schwer. Aber dann ging es besser."
"Zeig mal!"
"Vielleicht später."
"Man sieht bei dir aber nichts. Wo sind denn deine Narben? Nee, warte mal! Du bist gar nicht wegen einer Narbe hier, oder? Brustvergrößerung? Müsstest du aber gar nicht. Sieht doch gut aus." Ich lächelte sie an, und streifte meine Strumpfhose herunter. "Oh. Also doch. Dann ist alles wahr?"
"Wenn ich dich mal anlüge, sage ich vorher Bescheid." Ich überlegte. "Lust, mich ins Foyer zu begleiten? Ich will mal schauen, was hier so rumfleucht."
"Gerne. Muss nur meine Sachen einräumen." Sie zeigte auf ihre kleine Reisetasche. Ich nickte, und las mich währenddessen in die Flyer ein. Dann war sie fertig. Wir sagten der Stationsschwester Bescheid und gingen hin. Das Foyer war wunderschön gestaltet, ein Atrium, mit vielen Pflanzen, so einem Springbrunnen, der von ganz weit oben Wasser herunterrieseln ließ, und viel Marmor. Wir setzten uns hin und beobachteten. Es dauerte keine fünf Minuten, da kam eine Schlange herein. Es war nicht wirklich eine Schlange, obwohl, man weiß ja nicht, wie die drauf war. Aber sie hatte jede Menge Tätowierungen in Form von Schlangen an Armen und Beinen. Es sah eigentlich gar nicht mal so schlecht aus, aber ich bin kein Fan der Unsitte, alle möglichen persönlichen Vorlieben und Weltansichten auf seinem Körper wie eine Monstranz mit sich herumzutragen. Miria sagte: "Die geht mit D hier raus."
Ich lachte. "Gibts hier Noten?"
Auch Mirja lachte nun. "Höchstens Haltungsnoten. Die hat eine 5,3. Wenn die mit ihren neuen D-itten hier herausgeht, hat sie bestimmt 5,5."
"Was sind denn Itten?"
Mirja verdrehte ihre Augen. "Mann! Ich wollte nur nicht Titten sagen."
"Ach so. Ja, könnte sein, dass die so eine Kandidatin dafür ist." Auch das restliche Outfit passte. Bunte Reisetasche, etwas auf Tussi getrimmte Kleidung.
Die Frau ging vom Tresen einige Meter in unsere Richtung, dann blickte sie sich suchend um, kam zu uns hin. "Hi. Sagt mal, wo ist denn Station B?" Es war offensichtlich, dass sie eigentlich eine Brille hätte tragen müssen, aber wohl zu eitel dafür war, denn die entsprechende Beschriftung oberhalb der Türen war ja deutlich zu sehen.
Mirja zeigte in die Richtung am Tresen vorbei. "Brustvergrößerung Station B in diese Richtung. Da, wo 'B' steht."
"Ach so, ja, danke."
"Ist das eine Ringelnatter?", rief Mirja ihr hinterher.
"Nee, das ist Naga. Kommt im Buddhismus und Hinduismus vor."
"Aha, beschützt die dich?"
"Na klar." Mit diesen Worten entfernte sie sich.
"Nur nicht vor Dummheiten, welche du mit deinem Körper machst", flüsterte ich noch hinterher, was sie aber nicht mehr hören konnte.
"Siehst du, habe ich doch recht gehabt!" Ich nickte Mirja zu. Nach unserer Schlange kamen noch so einige andere. Zwei davon hatten sogar keine Tattoos, zumindest an den üblichen Orten, die man an bekleideten Körpern sehen kann. Später holte eine Schwester erst Mirja, und dann mich zum Gespräch. Der Arzt sprach wirklich lange mit mir, alle möglichen Was-könnte-passieren-Szenarien erwähnte er. Aber es nützte ja nichts. Ohne OP blieb ich, oder zumindest mein Bein, weiter ein hässliches Entlein, was keiner haben wollte, zumindest bildete ich mir das ein. Ich hatte es ja schon bei einigen meiner regelmäßigen Partner erlebt, dass es anders war, aber das waren ja alles keine spontanen Bekanntschaften gewesen.
Am anderen Tag kam ich dann gegen Mittag dran, und als ich gegen Abend endlich wieder halbwegs klar im Kopf war, hatte ich ein schmerzendes und verbundenes Bein. Mirja hatte ich mein Manuskript zum Lesen gegeben und sie meinte, dass ich doch einige Sachen peppiger gestalten sollte, also zum Beispiel lustiger darstellen. Mirja bekam nach ihrer Narben-OP dann so einige Pflaster an ihrem Kopf und sah dann dort so ein klein wenig wie eine Mumie aus. Wir lästerten die ganze Zeit über die zumindest sehr oberflächlich wirkenden Brust-OP-Patientinnen und hatten jede Menge Spaß. Bei uns beiden tauschten sie jeden Tag die Verbände an den Narbenwunden aus. In unseren ungeschulten Augen sah das alles noch ganz schrecklich aus, aber nach drei Tagen konnten wir beide nach Hause, und ließen die Nachversorgung dann vom Hautarzt machen. Drei Wochen später fingen die Wunden an, nach und nach unauffälliger zu werden.
Obwohl ich wusste, dass der endgültige Effekt noch mindestens ein halbes Jahr dauern würde, sah man schon, in welche Richtung es gehen würde. Dieser Holger Neuhans hatte seine Sache also tatsächlich gut gemacht und ich musste mein Versprechen einlösen.
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Teil29: Das Essen und der 'Unfall'
Einige Zeit später ging ich dann auf 'meine' Station im Krankenhaus. Ich hatte Glück und sie kam gerade auf mich zu. "Hey Sandra! Gut siehst du aus!"
"Ich fühle mich ja auch gut. Und du?"
"Ach, immer derselbe Trott. Keine Sandra weit und breit."
"Danke für das Lob. Aber du hast doch Doktor Neuhans!"
"Mich behandelt er anders als Patientinnen. Willst du hier wen besuchen?"
"Ja, Doktor Neuhans."
"Echt jetzt?"
"Ja, ich hab eine Wette verloren und jetzt muss ich mit ihm essen gehen."
"Muss ich mit ihm essen gehen", äffte Kristin, zog die Betonung ins Ironische. "Dann können wir ja tauschen."
"Findest du ihn fesch?"
"Aber klar doch!"
"Ich auch. Also, wo kann ich ihn finden?"
"Momentan bestimmt im OP. Übermorgen hat er Frühdienst ab sechs Uhr. Er geht immer über den Hintereingang von Haus C4 rein. Was war das denn für eine Wette?"
"Er meinte, ich werde wieder gesund und sehe auch wieder sexy aus, die letzten Feinarbeiten hat sein Bruder tatsächlich geschafft."
"Sein Bruder arbeitet auch hier?"
"Nee, in der Tittenklinik." Ich formte mit den Händen entsprechende Wölbungen.
Kristin lachte. "Silicon Valley."
"Das war zumindest deren Haupt-Einnahmequelle, glaube ich. Aber sein Bruder war da außen vor. Er kümmert sich nur um solche wie mich, glaube ich jedenfalls. Klinik für plastische Chirurgie und Rekonstruktionen."
"Kann er mich auch schön machen? Rekonstruieren?"
"Braucht er nicht. Bist doch schön!"
"Schön wär's!" Ja, Frauen und Schönheit. Ein besonderes Thema. Kristin brauchte sich eigentlich keine Gedanken darüber zu machen. Das Problem waren bei ihr wohl eher die Arbeit und deren Zeiten, sowie der Stress. Vielleicht sollte sie auch in eine Arztpraxis wechseln, wie Angelika. Ich verabschiedete mich von Kristin, und war dann zwei Tage später wieder dort, vor dem Gebäude wartend. Ich musste sogar mit Wecker aufstehen. Da kam er, es war zehn Minuten vor sechs Uhr frühmorgens. Er stutzte, als er mich sah. "Ah, ich kenne sie! Dich. Sandra Neuhaus, oder? Waren wir verabredet? Oder habe ich bei der OP gepfuscht und jetzt willst du mich umbringen?"
Ich lachte. "Eine schwarze Witwe bringt ihren Liebhaber erst nach dem Geschlechtsakt um." Die Antwort war ein Fingerzeig auf mein Outfit, das 'kleine Schwarze'.
Ein Lächeln wanderte auf sein Gesicht, da er nun gecheckt hatte, dass ich nur meinen Spaß mit ihm machte. "Oh, lebe ich jetzt gefährlich?"
"Nicht heute. Erst Freitag. Nur Essen, ohne Geschlechtsakt und umbringen und so."
"Ach! Hast du die Wette verloren?"
"Zum Glück hattest du recht. Ich bin wieder hübsch, also mein Bein. Nicht mehr wie neu, aber wieder akzeptabel."
"Wohin möchtest du mich denn entführen?"
"Warst du schon mal im Hotel Atlantik?"
"Nein, nie. Dort soll es sein?"
"Genau dort. Du solltest vorher was essen, denn die Portionen sind so klein, dass man davon nicht satt wird." Seine Stirn schlug kleine Falten. "Nein, war ein Scherz, die einzelnen Mengen vom Menü sollen klein sein, aber die Menge macht's dann wohl."
Er lachte. "Ach, wenn nicht, wäre es auch nicht schlimm. Irgendwie habe ich zwischen meinen Operationen ja doch ab und an mal Zeit, eine Kleinigkeit zu essen. Sonst wäre ich schon längst nicht mehr da."
"Also, sagst du zu? 19:30 Uhr vor dem Eingang, was halbwegs Schickes anziehen, also nicht im OP-Dress. Ich reserviere."
"Krieg ich hin. Bis dann, und danke schon mal, ja?"
"Ich hab zu danken. Und jetzt ran an das Buffet. Die Verkehrsopfer warten!" Er grinste mich an und verschwand durch die Tür. Ich reservierte schnell einen Tisch für zwei und fieberte dem Treffen entgegen. Ich hatte mir fest vorgenommen, ihn nicht flachzulegen, wobei es ja eher die Frau ist, welche flachgelegt wird. Zumindest wollte ich es versuchen. Ich zog ein schönes Kleid an, ein Strickkleid, ein Einzelstück von meiner Feder. Nicht zu lang, nicht zu kurz, ein wenig festlich, nicht zu overdressed, wie man so schön sagt. Dazu schöne, farblich passende Hackenschuhe, die ich immer noch nicht mochte, aber manchmal zu solchen Anlässen dann doch anzog. Meine Haare hatte ich hochgesteckt, trug Lippenstift, und passende Ohrringe, in diesem Fall solche, ähnlich wie Creolen, die aber an einer Seite offen waren. Geschminkt war ich natürlich auch. Mit anderen Worten: Ich sah so richtig schön zum Anbeißen aus, wie ich im Spiegel sehen konnte. Da ich was trinken wollte, fuhr ich mit dem Öffi, und war natürlich der Hingucker. Meist verstohlene Blicke, manche aber auch dreist.
Ich schaffte es, pünktlich zu sein, er stand schon da. Nicht im Smoking, aber ein Jackett hatte er schon an, sah also auch recht elegant aus. So dürften wir wohl beide am Türsteher vorbeikommen. Es war aber keiner da. Wir gingen rein und wurden von einem Kellner, wohl dem Oberkellner, begrüßt. "Guten Abend. Haben sie reserviert?"
Karsten antwortete: "Die Dame hat reserviert. Vermutlich unter dem Namen Neuhaus, oder meinem Namen, Neuhans." Ich kicherte und der Typ schaute filmreif perplex drein.
"Folgen sie mir bitte." Er ging zu einem Tisch. "Bitte." Er zeigte auf den Tisch. WOW! Er wusste wohl auswendig, wie die Gäste heißen, welche für diese Zeit reserviert hatten. Karsten hatte wohl mal eine Gentleman-Ausbildung durchlaufen und stellte mir den Stuhl zurecht, was hier wohl nicht unüblich war. Dann bekamen wir die Weinkarte.
"Möchtest du den Wein aussuchen?", fragte Karsten.
"Nein, mach du mal. Ich verlass mich da auf dich." Karsten suchte dann einen Weißwein aus Frankreich aus. Dann wurden wir gefragt, welches Menü wir wünschen. Karten bekam große Augen, als ich das 7-Gang-Menü vorschlug, stimmte aber zu. Wir bekamen die Speisekarte. Zum Aussuchen brauchten wir bestimmt zehn Minuten, aber das kannten die hier sicher schon. Geduld war bei den Kellnern hier wohl eine Grundeigenschaft. Der Wein kam, und wir stießen an. Karsten behielt sein Glas dann in der Hand.
"Ich bin noch gar nicht betrunken, sehe dich aber doppelt." Dabei zeigten seine Augen in das Weinglas.
"Und, welche sieht schöner aus?"
"Die echte!"
"Die Frau im Weinglas widerspricht dir aber nicht."
"Wer will das schon."
"Wie oft hast du das eigentlich?"
Er schien zu verstehen, dass es um die Einladungen ehemaliger Patienten geht. "Ganz selten. Die meisten wollen an diese schrecklichen Dinge im Krankenhaus nicht mehr erinnert werden, indem sie mit ihrem Arzt dinieren. Kann ich verstehen. Ist ja alles auf Effizienz getrimmt und Zeit für die Patienten ist Mangelware."
"Für mich hattest du aber Zeit. Zumindest ein wenig."
"Ich weiß nicht, ob es dir bewusst ist, aber du hast so eine positive Art, mit schrecklichen Dingen umzugehen, welche dir passiert sind. Das findet man nicht so oft. Und dann noch ..." Er brach ab.
"Bin ich schön. Das wolltest du mir sagen, ja?"
"Das ist das i-Tüpfelchen. Ich weiß, das ist oberflächlich. Gehirn-Augen-Koordination." Er lachte. "Nicht wundern, aber wenn ich es auf diese Art herunterbreche, sind meine Mängel für mich besser zu ertragen."
Ich lächelte, und stieß noch mal an. "Gut, dass wir alle so etwas haben."
"Welche hast du?"
"Ich ziehe Unglück magisch an. Wenn jetzt also eine Gruppe Terroristen zur Tür hereinkommt, liegt das an mir."
"Jetzt übertreibst du aber. Oder?"
"Ein wenig. Bestimmt willst du hören, wie es zu diesem Unfall kam, oder?"
"Ich hatte gehofft, du erzählst mir das. Ich liebe Geschichten. Während der Arbeit ist alles immer so nüchtern."
Ich seufzte. "Dann will ich mal loslegen. Es ist aber eine lange Geschichte." Der erste Gang der Vorspeise kam, und zwischen dem Gaumenschmaus der einzelnen Menüs, die auch optisch ein Leckerbissen waren, erzählte ich die Grundzüge der Geschichte, fing an mit der Party. Die Dessous kamen durchaus zur Sprache, aber die dann folgenden pikanten Details verkürzte ich, soweit es ging, erzählte also nur den Kern der Geschichte. Mehr hätten wir zeitlich auch nicht geschafft. Karsten stellte durchaus einige Zwischenfragen, hörte mir aber sonst aufmerksam zu.
"Wow", sagte er am Schluss. "Eigentlich müsstest du nicht Neuhaus, sondern Miss Marple heißen!", war sein Kommentar.
"Ach, Quatsch, so gut bin ich nicht."
"Aber gut genug, wesentliche Teile der Geschichte wegzulassen." Er lächelte. Ein entwaffnendes Lächeln. "Wie viele waren es denn?"
"Keine Ahnung. Habe nie angefangen zu zählen. Ich führe ja auch keine Strichliste, sondern eine Gefühlssammlung. Immer wenn der Pegel zu niedrig ist, schaue ich mich um."
"War mein Bruder auch dabei?"
"Er hat es nicht mal versucht. Ganz Gentleman."
"Früher war er der Draufgängerische von uns beiden."
"Ist es heute umgekehrt?"
Er lachte. "Heute bin ich verheiratet."
"Du drückst dich gerade um die Beantwortung der Frage."
Das Dessert, der Teil Nr. 7 unseres Menüs, kam gerade. Die einzelnen Teile waren tatsächlich sehr klein geraten, aber ich war jetzt wirklich satt, und schob ihm mein Dessert auch noch rüber. Er war schwerer als ich und brauchte sicher mehr Kalorien als ich. "Hier. Mein Dessert darfst du auch essen. Ich schaffe das nicht mehr."
"Puh, hat man mir das angesehen?"
"Irgendwie ja. Lass es dir schmecken." Ich schaute ihm beim Essen zu. Er hatte schöne, gepflegte Hände. Zwischen jedem Happen warf er mir einen Blick zu. Ich bildete mir ein, Sehnsucht darin zu entdecken. Sehnsucht nach Sex mit mir. Sollte ich vielleicht doch noch? Aber nein, er war verheiratet und somit Tabu. Bevor das letzte der beiden Desserts weg war, mopste ich mir aber noch einen kleinen Löffel davon.
"Süchtig machend, oder?" Er schob mir das halbleere Schälchen wieder rüber, aber ich schob es wieder zurück.
"Ich wollte doch nur mal naschen. Jetzt weiß ich, wie es schmeckt. Nach Sommer, Sonne, Strand, und ...", ja, ich wollte erst Sex sagen, entschied mich aber schnell um, und sagte: "tropische Nächte."
"Gute Charakterisierung. Wollen wir noch an die Bar?"
Ich überlegte. Es war nur ein leichter Wein, und Karsten hatte mehr als ich getrunken. Ein Cocktail ginge also noch. "Gerne. Muss aber noch bezahlen." Ich wartete, bis Karsten fertig war mit seinem Dessert, und winkte nach dem Kellner. "Ich möchte zahlen."
"Gerne." Nach einer Weile kam er mit einem dieser Mäppchen wieder, in dem so ein Abrechnungszettel mit einer exorbitant hohen Summe stand, aber ich war darauf vorbereitet und legte die Scheine ganz cool dort hinein. Nachdem der Kellner alles abgeräumt hatte, erhoben wir uns, und schlenderten in den Barraum herüber, und nahmen in einer Zweiergruppe Platz. Wir griffen uns die Karte, und bestellten dann beide den gleichen Drink: einen Limoncello.
"Erzählst du mir auch was? Wie hast du deine Frau kennengelernt? Hat sie dir heute freigegeben? Was hast du ihr für ein Märchen erzählt?"
Er lachte auf. "Du bist aber neugierig. Kein Märchen. Frei: hab ich immer, wenn ich will. Und kennengelernt hab ich sie über meinen Bruder. Sie ist seine Exfreundin."
"Oh, gab's Zoff?"
"Nein, gar nicht. Sie haben schnell gemerkt, dass sie nicht zueinanderpassen, und dann kam sie irgendwann mal bei mir vorbei, wir redeten. Es hat aber trotzdem etwa ein Jahr gedauert, bis wir zueinander gefunden haben."
Plötzlich griff er in seine Tasche und holte sein offenbar auf lautlos gestelltes Handy heraus, schaute drauf. "Sie fragt, ob du noch vorbeikommen willst." Er zeigte mir das Display hin. Eingang einer Whatsapp-Nachricht, empfangen vor zwei Minuten. Da stand: 'Lust, mit Sandra noch auf einen Absacker vorbeizukommen?" Würde mich freuen.'
"Wirklich? Ich will nicht, dass sie eifersüchtig wird, meinetwegen."
"Keine Angst. Du bist nicht die erste Frau, die sie so zu uns einlädt."
"Na gut. Ist es weit?"
"Nicht weit. Zehn Minuten zu Fuß."
"Dann ja. Das werde ich schon schaffen."
"Na dann ..." Karsten ging zur Bar und bezahlte unsere Drinks, wir erhoben uns und gingen hinaus. Tropical Night. Es war noch warm draußen. Er erzählte mir derweil, wie sie an die Wohnung gekommen waren, dann waren wir auch schon da. Es war ganz oben, so ein Loft, mit Balkon. Sie öffnete die Tür, ehe Karsten seinen Schlüssel dort versenken konnte. Sie umarmte mich gleich.
"Hallo Sandra." Ich konnte ihr Parfüm riechen. Es war das Gleiche, das ich auch nahm.
So war das 'du' also gleich geklärt. "Hallo Amina."
"Und? Habt ihr euer Rendezvous genossen?", fragte sie.
Ich lachte. "Wir hatten doch keines! Nur ein Arbeitsessen."
"Was, nicht?" Sie lachte. "Ist ja schade." Huch, wo war ich denn hier gelandet? War das Spaß, oder wollte sie ihren Mann tatsächlich verschachern? Mir wurde ein wenig mulmig, aber wegen meines Alkoholspiegels machte ich mir nicht allzu viele Sorgen. Amina lotste mich ins Wohnzimmer, wo schon Gläser und eine Flasche Sekt im Kübel standen.
"Oh! Woher wusstest du, dass ich mitkomme?"
"Menschenkenntnis. Sonst hätte ich die mit Karsten halt alleine getötet." Karsten hatte mittlerweile die Sektflasche gegriffen und geöffnet, schenkte uns ein. "Cheers", sagte Amina, wir stießen an, und tranken jeder einen Schluck. Nein, bei mir war es mehr. Ich trank es fast aus. Es war, weil mir immer noch ein wenig mulmig zumute war. Der Sekt stieg mir sogleich zu Kopf.
"Ich muss mal für kleine Chirurgen", sagte Karsten, und verschwand.
"Hast du Lust darauf?", fragte Amina. "Du musst nicht ja sagen", fügte sie an, als sie meinen fragenden Gesichtsausdruck sah.
"Worauf denn? Auf den Sekt? Ja, er schmeckt gut."
Amina lachte. "Nein, ich meine auf Karsten. Nicht wundern, wir machen das öfters. Ich schaue zu, oder mache mit, ganz wie du willst."
"Du willst mir hier echt deinen Mann anbieten?"
"Die Eskimos machen das doch auch! Wirklich, ich mag das, und liebe das sogar."
"Also, ich weiß nicht. Er ist doch verheiratet. Da mache ich doch nicht ..."
"Gefällt er dir nicht?"
"Doch, das ist es nicht. Es ist ..."
"Angst, weil ich zuschaue? Ich kann auch hinausgehen, draußen eine Runde drehen."
"Warum machst du das?"
"Damit es nicht langweilig wird." Sie legte eine Hand auf mein Bein. Ein Blitz durchzuckte mich. "Wir wollen offen sein für Neues. Unsere Ehe nicht einstauben lassen. Wir sind ja trotzdem für uns da, lieben uns." Sie schaute mir in die Augen, die ähnlich schön geschminkt waren wie meine. Für heute Abend zu schön geschminkt für mich. Ihr Kopf war nur noch zehn Zentimeter von mir entfernt, viel zu weit weg. Ich ergriff ihn und zog sie zu mir heran. Der erste Kuss war noch zaghaft. Stand sie überhaupt auf Frauen? Der zweite Kuss beantwortete die Frage. Er ging von ihr aus. Schnell waren wir am Knutschen, und ihre Hand zwischen meinen Beinen gelandet.
Jemand räusperte sich. "Kaum ist man mal nicht da!" Amina blickte Karsten an, der neben ihr auf der Couch saß, zog ihn zu sich heran, knutschte jetzt mit ihm. Sie schnappte sich meine Hand und legte diese genau auf die Stelle zwischen seinen Beinen. Ich war willenlos! Mist, was war denn jetzt passiert? Jetzt war ich in eine Situation geraten, in die ich nie gelangen wollte! Eine Dreierkonstellation, noch dazu mit welchen, die miteinander verheiratet waren. Und sie wollten Sex! Bei Amina war das klar, und bei Karsten auch, das konnte ich deutlich fühlen. Das war auch der Grund dafür, dass ich nicht gehen konnte. Das und der Alkohol. Sie hatte mal wieder gewonnen. Amina knöpfte seine Hose auf, und ein wilder Reigen begann. Arme, Hände, Beine, Münder, Körper. Viel mehr als sonst in einer Zweier-Konstellation. Kleidungsstücke fielen. Die Vernunft war schon längst gefallen, und besiegt.
Irgendwann nach endlos schönen Minuten, wir hatten mittlerweile das Kampfgebiet in das Schlafzimmer der beiden verlegt, lagen wir alle drei ermattet auf ihrem Bett. Amina und ich kraulten Karstens spärliche Brusthaare. Ich seufzte. "Ich gehe dann mal besser."
Amina sah mir wohl meine Stimmung an. "Nein, warte, geh nicht so. Wir sollten erst reden. Haben wir dich überrumpelt?"
"Ein wenig schon. Ich wollte nie einen Dreier machen."
"Wir machen dir keine Vorwürfe. Machen wir doch nicht, oder Karsten?" Er schüttelte den Kopf. "War es denn nicht schön?"
"Doch, in dem Moment schon. Aber jetzt fühle ich mich schlecht. So wollte ich nie sein ... eine Betrügerin."
"Du hast niemanden betrogen. Karsten hatte vorher zugesagt, dass wir es versuchen wollen. Wie ich schon sagte, wir machen das öfters, zumindest ab und an."
"Bekommt ihr da keine Eifersucht?"
Amina lächelte. "Aber sicher doch. Das hält die Liebe frisch, und oft fallen wir dann hinterher übereinander her."
"Wir haben es unter Kontrolle", ergänzte Karsten.
"Die anderen auch, mit denen ihr herummacht?"
Ein Schatten fiel über Aminas Gesicht, und ein Muskel zuckte. "Bis auf eine, ja."
"Was war da? Hat sie euch gestalkt?"
"Nur mich. Wir haben dann die Polizei eingeschaltet. Sie drohte auch mit Erpressung. Nach einer Gefährderansprache war dann aber Ruhe."
"Seht ihr. Ist doch nicht so ganz ungefährlich, die Sache."
"Ich hoffe, du bist uns jetzt nicht böse", sagte Karsten.
"Keine Angst", sagte ich. "Ich habe das nur nicht so erwartet." Ich rollte mich vom Bett, stand auf, suchte mir meine Unterwäsche zusammen, zog sie an, dann im Wohnzimmer auch meine restlichen Sachen, immer unter den bewundernden Blicken von Karsten, der zusammen mit Amina auch aufgestanden war. Nun war ich wieder vorzeigbar. "Tschüss, und danke für den Abend."
Ich war im Begriff zu gehen, aber Amina umarmte mich jetzt, sagte auch "Tschüss. Komm gut nach Hause, und mach dir keinen Kopf."
Auch Karsten umarmte mich. "Danke für die Einladung, und überhaupt für alles." Ich nickte den beiden noch zu, verließ die Wohnung und das Haus. Immer noch fühlte ich mich ein wenig mies, wenngleich auch nicht so schlimm wie damals nach der Sache mit Julian. Aber warum eigentlich? Die beiden wollten es offenbar, und ich in diesem Moment auch. Es war schön, vor allem interessant, aber ich würde es nicht wiederholen wollen. Weder mit den beiden, noch mit anderen Leuten. Es hatte mir ein wenig diese Intimität gefehlt. Warum machten sie das? Ich konnte nur vermuten. Sie waren gebunden, wollten aber trotzdem Abwechslung, und das ohne Reue.
Das hatte ich ja auch, aber auf eine andere Art. Ich hatte also keinen Grund, den beiden irgendwelche Vorwürfe zu machen. Sie hatten ihren Weg, ich den meinen. Wer weiß, was ich machen würde, wenn ich irgendwann doch mal wieder einen festen Partner hätte. Aber das war noch weit weg. Und etwas anderes fiel mir auch ein: Alkohol. Oft, wenn etwas passierte, was ich eigentlich nicht wollte, dann machte ich das, wenn ich Alkohol getrunken hatte. Und dann war es meistens ziemlich viel von dem Zeugs. Ich sollte damit echt vorsichtiger werden. Und wenn ich es nicht kontrollieren kann, ganz damit aufhören.
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Teil30: Uwe und immer wieder Uwe!
An einem Sonntagvormittag klingelte es auf einmal bei mir. Ich war gerade dabei, Wäsche zu bügeln, und ging aus dem Keller nach oben. Ich schaute mir im Kamerabild an, wer da ist. Eine hübsche, junge, schlanke Frau. Also keine Gefahr. Ich öffnete. "Guten Tag. Ich möchte bitte zu Uwe Neuhaus."
Ich bekam einen Schreck, fiel in meine alte Strategie zurück. Erst einmal musste ich erkunden, was die Frau von ihm wollte. "Danke, aber wir sind mit Versicherungen gut versorgt."
Ein Lächeln umspielte die Lippen der Frau, die etwa 35 Jahre alt sein müsste, und die Sommensprossenmillionärin war, was man auf dem Kamerabild nicht so gesehen hatte. "Sorry, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Mareike Henning und verkaufe keine Versicherungen. Ich bin ... war Journalistin und hatte früher wegen einer Sache Kontakt mit ihm. Kann ich ihn bitte sprechen?"
Immer noch stand ich im Eingang, versperrte ihn, aber dann gab ich mir einen Ruck. Erstmal mehr erfahren, dachte ich mir. Nun, das würde wohl eine etwas längere Sache werden, schätzte ich. "Kommen Sie erst mal rein, ich muss nur schnell das Bügeleisen ausmachen, sicher ist sicher." Ich ging in den Keller, und kam nach meiner Verrichtung wieder hoch. Sie stand noch mitten im Raum. "Wollen wir auf die Terrasse gehen?", fragte ich.
"Ist ihr Mann denn nicht da?", fragte sie. "Oder sind sie seine Schwester?"
"Nein, ich bin Sandra Neuhaus. Seine Frau."
Sie schaute mich so merkwürdig an. "Die Sache kann ich aber nur mit ihm besprechen."
"Es wird lange dauern, bis er wieder hier ist. Er ist gerade auf einer Reise. Aber vielleicht kann ich ihnen ja weiterhelfen." Ich öffnete die Terrassentür, ging heraus, und sie folgte etwas zögerlich.
"Hat ihnen ihr Mann denn damals von der Sache erzählt? Wegen seiner Firma? Arbeitet er dort noch?"
"Nein, da ist er nicht mehr. Und nein, er hat es mir nicht gesagt. Aber einiges habe ich später trotzdem herausgefunden."
"Ach! Herausgefunden? Das überrascht mich jetzt aber. Und was haben sie dann gemacht? Haben sie ...? Jetzt weiß ich: Sie haben sich dann getrennt, oder? Deshalb ist er nicht da. Können Sie mir seine neue Adresse geben?"
Ich konnte nicht verhindern, dass ich aufseufzte. "Nein, es ist eher so, dass wir getrennt wurden. Er hatte einen Unfall."
"Ist er ... ist er etwa tot?" In ihrem bisher fröhlichen Gesichtsausdruck mischte sich Erstaunen, welches dann ansatzlos in Entsetzen überging. "Oh nein! Deshalb hat er sich nicht mehr gemeldet! Und ich ... oh, sorry, mein Beileid! Ich plappere hier und plappere, und vergesse das Wichtigste. Passiert mir immer wieder. Wissen Sie mehr über den Unfall? Aber es hat ihn doch nicht etwa jemand aus seiner Firma umgebracht?"
"Warum sollte seine Firma das tun?" Sie schwieg einen Moment. Man sah es in ihr arbeiten, sie überlegte vermutlich, was sie mir sagen könnte. Ich hatte es jahrelang verdrängt, aber nun kamen mir seine Worte wieder in den Sinn. Es war: 'Sandra, mach das rückgängig! Es wird sonst ein Unglück passieren'! Oder so ähnlich. Just in dem Moment fiel es mir wieder ein. "Hatten die etwa illegale Sachen vor? Uwe hatte damals so eine Andeutung gemacht, im letzten Telefonat vor dem Unfall."
Wieder kam ein kurzes Lächeln über ihre Lippen. "Illegal wohl nicht, oder schwer beweisbar, aber zumindest moralisch fragwürdig, eher abscheulich."
"Worum ging es da?"
Sie seufzte. "Seine Firma hatte da was geplant, war in Schwierigkeiten, und die Richtung in die es gehen sollte, um dort wieder herauszukommen, hatte ihm nicht gepasst. Seine Firma wollte einen großen Teil des Immobilienbestandes verkaufen und in ein Investment in Afrika investieren. Wie üblich hatte man vorher natürlich eine Risikoanalyse gemacht in Bezug auf alle möglichen Auswirkungen, also z. B. Stabilität, Umwelteinflüsse, politische Einflüsse, Auswirkung auf die Bevölkerung, und so weiter. Und da sah es zu Teilen ziemlich übel aus. In Bezug auf die Umwelt und auch auf die Bevölkerung. Das Projekt würde einen Teil des Waldes, wie er heute existiert, vernichten und dieser würde einem Nutzwald weichen, und außerdem war bekannt, dass es dort Kinderarbeit geben soll, in ziemlichem Ausmaß. Auf der Habenseite stand eine exorbitant hohe Renditeerwartung."
Ich war erschüttert. Es schnürte mir den Hals zu. "Wovon reden wir da genau?"
"Kakaobohnen. Es sollte dort eine Plantage mit Kakaobäumen in ein Naturschutzgebiet gebaut werden, und eine Fabrik dazu. Sie können sich ja denken, dass dies nicht ohne Bestechung abgehen kann. Ist in Afrika leider gang und gäbe. Die Pläne waren nur einem kleinen Personenkreis bekannt."
"Und was war da mit meinem Mann?"
"Er war strikt dagegen. Es war alles noch in den Anfängen, aber er hatte so eine Ahnung, dass er mit seinen Bedenken nicht durchdringt, und wollte mich auf dem Laufenden halten. Aber dann hat er mich nicht mehr kontaktiert. Ich hatte keine Ahnung, wie ich an ihn herantreten könnte. Ich kannte ja damals seinen Namen nicht. Noch nicht mal seinen Vornamen. Auch nicht den Namen der Firma. Er hat sich 'Jan' genannt, aber gleich gesagt, dass es nicht sein richtiger Name ist. Und dann, einige Wochen später, war ich nicht mehr in der Redaktion."
"Aber jetzt haben sie ihn ja doch gefunden. Zumindest mich. Wie ging das?"
Wieder dieses kurze Lächeln. "Ich war ja Reporterin. Aber der Fund war eher ein Zufall. Ich recherchierte gerade über die neue Art des Tourismus in den Alpen. Ich kannte ihren Mann nur vom Sehen, aber darauf hab ich ihn erkannt." Sie zückte ihr Handy und rief dort eine Webseite auf. Dort berichtete ein Harry Weber von einer schönen Dolomitentour, die er zusammen mit seiner Freundin und den Zufallsbekanntschaften Lorena und Uwe Casanova gemacht hatte, die zufällig zur selben Zeit auch den gleichen Dolomiten Höhenweg gegangen waren. Ich schaute auf das Display. Es waren einige Fotos von Almhütten und Gipfelfotos dabei, und mehrere Male Uwe und auch Lorena, von der ich ja mittlerweile auch schon etliche Bilder gesehen hatte. Auf den Fotos war das Mal auf seiner Stirn zu sehen, also kein Zweifel möglich.
"Da nennt er sich also Uwe Casanova! Und seine langjährige Geliebte hat er wohl als seine Frau ausgegeben, oder?"
"Ach? Das war seine Geliebte? Dann passte der Name Casanova ja irgendwie zu ihm." Jetzt lächelte sie. "Das ist dann wohl zweideutig. Ich wusste nicht, dass das seine Geliebte ist, dachte ja, es ist seine Frau, aber dann passt es ja. Sie wissen es nicht, oder?"
"Klar weiß ich das von seiner Dauergeliebten. Wenn auch noch nicht so lange. Er hat sogar zwei Kinder mit ihr gehabt."
"Ach, sind die auch tot?"
"Nein, nur der eine. Der andere Sohn wohnt bei mir. Wenn sie ihre Ohren spitzen, dann hören sie ihn auch." Schon vor einiger Zeit hatte ich die Tür des Zimmers von Andrea mit schallschluckenden Materialien versehen lassen, sodass die Proben nicht mehr ganz so laut im Haus zu hören waren.
"Ach, spielt er das Cello? Aber um noch mal auf die Sache zurückzukommen: Casanova heißt in Italien Neuhaus. Casa Haus, nova neu. Ganz einfach."
Ich schlug mir vor den Kopf. "Da hätte ich auch draufkommen können, oder?"
"Sie sind Recherchen wohl nicht gewohnt. Durch das Internet ist das heute alles viel einfacher, dafür muss aber auch viel mehr gegengecheckt werden. So viele Lügen ..."
"Aber dann kannten sie ja nur den falschen Namen. Wie sind sie auf die Adresse gekommen?"
"Der Rest war relativ einfach. Aus Casanova Neuhaus gemacht, meine Beziehungen sprudeln lassen, ein wenig Recherche, und Glück. Es gab ja mehrere infrage kommende Leute in Hamburg. Drei. Ich habe alle abgeklappert und ihre Adresse war nun die letzte Hoffnung für mich."
"Und warum kommen sie erst jetzt?"
"Sie seufzte. Kurz nach dieser Sache hatte ich einen Burnout. Mich kotzte das alles so an. Ich hatte noch eine andere Recherche gerade abgeschlossen, aber dann kommt dieser Feigling von Redakteur und sagt alles ab. Die Arbeit von einem halben Jahr dahin. Das hatte ich nicht mehr ausgehalten, habe alles hingeworfen."
"Und heute arbeiten sie wieder als Reporterin?"
"Ja, aber als eine andere. Ich blogge. Da kann mir niemand mehr hineinreden. Wirtschaftlich abhängig bin ich auch nicht mehr, seitdem ich geheiratet hatte. Einen Mann aus Neuseeland. Nach der Sache bin ich dorthin, brauchte Ruhe, Abgeschiedenheit. Aber dort habe ich mich auch neu erfunden. Später sind wir dann aber in die Staaten gezogen, wegen seiner Arbeit."
"Und jetzt sind sie also wieder hier."
"Da waren zwei Sachen mit ein mal passiert. Erst einmal hat mich eine frühere Kollegin kontaktiert, die sich daran erinnert hat, dass ich ja auch mal an so einer Sache dran war, an der sie jetzt selber recherchiert. Und dann ist meine Mutter gestorben, und ich beschloss, für einige Wochen nach Deutschland zu fliegen. Da wollte ich das eine mit dem anderen verbinden."
"Mein Beileid. Meine Eltern sind auch schon gestorben, beide."
"Das tut mir leid." Kurzes Schweigen. "Und ihr Mann hatte ihnen nichts davon gesagt? Auch nichts hinterlassen? Keine weitere Andeutung?"
"Nein, das höre ich jetzt das erste Mal. Kurz vor seinem Unfall ist er mit seiner neuen Geliebten durchgebrannt. Da war natürlich Funkstille. Und hinterlassen: nicht viel. Einen unverständlichen Zettel. Einige Gegenstände. Auf dem Handy war kein Hinweis auf so etwas und sein Laptop war beim Unfall vom Feuer zerstört worden."
Sie seufzte. "Dann ist es wohl verloren gegangen. Er sagte noch, dass er sich absichern wollte. Aber dann hat er es wohl nicht mehr geschafft."
Brühwarm fiel mir auf einmal der Überfall ein. Die Suche nach dem Datenträger. "Vielleicht doch. Wer wusste denn davon? Haben sie das noch jemandem gesagt?"
Sie blickte erstaunt, mehrmals wechselnd in schneller Folge von meinem linken zum rechten Auge. "Ich: Keinem." Sie schüttelte den Kopf und ihre wippenden, zusammengeklammerten Haare verstärkten noch den Eindruck ihrer Verneinung. "Aber er könnte es natürlich jemandem gesagt haben." Dann schien sie zu verstehen, und Erstaunen bildete sich in ihrem Gesicht. "Ach, hatten sie Besuch?"
"Ja, der war nicht lustig, da ich ihn dabei überrascht hatte. Genau so etwas hat er wohl gesucht, und nicht gefunden."
"Ist der Einbrecher dann geflohen?"
"Ja, er ist jetzt die Nummer 1 auf meiner My-Home-Is-My-Castle-Liste. Radieschen-Dünger."
Sie schaute aus, als könnte sie es kaum glauben. Erstaunt fragte sie: "Sie haben ihn getötet?"
Ich lachte kurz auf. "Nein, er lief auf der Flucht vor einen Bus. Die Polizei fand den Überfall auch nicht lustig und hatte ihn dann bei der Fahndung nach ihm entdeckt."
"Puh, ich dachte schon ..."
"Nein, ich bin eigentlich ganz harmlos, kann mich aber notfalls wehren."
Sie kramte in ihrer Handtasche und legte mir ein Kärtchen hin. "Danke für ihre Informationen. Wenn ihnen noch was einfällt. Aber in zwei Wochen bin ich wieder in den Staaten, bei Anrufen bitte die Zeitverschiebung beachten."
"Mache ich", sagte ich, und geleitete sie nach draußen. Dann atmete ich erst mal tief durch. Und dann brüllte ich durchs ganze Haus. Meine Wut musste heraus. "SO EINE SCHWEINEREI!"
Andrea hörte mit dem Cellospiel auf und steckte seinen Kopf raus. "Ist was passiert?" Es war so laut gewesen, er musste es wohl trotz der schallgeschützen Tür gehört haben.
"Nichts. Ich hatte nur Besuch und einige blöde Sachen erfahren."
"Wieder was von Uwe?", fragte er besorgt.
"Nein", log ich, was Andrea beruhigte, denn er übte dann weiter. Eigentlich war es ja keine Lüge gewesen. Dieses Mal kamen die schlimmen Sachen ja nicht von Uwe, sondern aus Richtung seiner Firma. Es war mir unvorstellbar, dass Piere nichts davon wusste. Und wenn es wahr war, hatte er mich benutzt. Oder ich mich freiwillig zu seinem Erfüllungsgehilfen gemacht. Innerlich war ich total aufgewühlt, aber äußerlich schaffte ich es, die Ruhe zu bewahren. Ich musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Und ich musste unbedingt mehr erfahren, hatte aber keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Doch kurz darauf hatte ich auch schon eine Idee. Ich hoffte, es passte noch. Am anderen Tag fuhr ich schon früh los, parkte so, dass ich nicht zu sehen war. Piere fuhr nach einer Weile warten mit seinem Auto los. Dann kam auch schon, wenige Minuten später, das andere Auto. Der dunkelgraue SUV mit dem Schild Fahrschule. Ich wusste, dass Evelyn wieder selbst fahren wollte, aber noch zu unsicher war, und deswegen Fahrstunden zur Auffrischung nahm. Letztens sagte sie, dass es immer Montags früh ist. Absichtlich da, weil dann starker Verkehr herrscht und sie das ja üben will, mit dem Fahrlehrer als Rettungsanker, um Sicherheit zu bekommen.
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Teil31: Verdeckte Ermittlungen
Ich wartete zehn Minuten, dann ging ich auf das Grundstück, gleich zum seitlichen Nebeneingang, von dem aus man mich von vorne nicht sehen konnte, von der Straße aus. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Was, wenn jetzt jemand um die Ecke kommt? Piere gar? Was würde ich ihm sagen? 'Tut mir leid, habe letztens meine Handtasche hier verloren'? Oder so? Oder gar, wenn ich drinnen erwischt würde? 'Sorry, mein Schal muss noch irgendwo sein, und die Tür stand offen'. Ja, das müsste zur Not gehen. Ich drückte die Taste. Dann erschien wie damals 'Namen eingeben', was ich tat. Dann kam: 'bitte Zugangspin und dann #'. Ja, wie war die PIN? Ich rief die alten SMS auf. Nachdem ich so an die 10 km runtergescrollt hatte, sah ich sie: 616996. Mit zittrigen Fingern gab ich sie ein. Dann summte es und die Tür sprang auf. "Hallo, ist da wer?", rief ich hinein. Stille antwortete mir. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die alte PIN war noch gültig. Piere hatte damals in der Aufregung wohl vergessen, die Zugangsdaten für mich zu löschen. Hoffentlich wird das nicht irgendwo geloggt. Oder gar hier geloggt? Egal, ich war erst mal drin, und das Haus offenbar leer.
Ich war hier ja oft genug gewesen, ging gleich hoch ins obere Bad. Hier war wie bei mir das Hauptbad. Ich war nicht hier oben gewesen, seit Evelyn hier wieder wohnte. Wozu auch? Jetzt lief nichts mehr. Bei den zwei Malen, wo ich seitdem offiziell zu Besuch war, bin ich dann immer auf die untere Toilette gegangen. Ich schaute mir die Konsole an. Da standen so etliche Fläschchen mit Nagellack. Ich nahm jede von denen in die Hand. Woran würde ich das Richtige erkennen? Sah man da unten was am Boden? Ich hatte keine Ahnung. Aber bei allen tauchte so etwas nicht auf. Ich war mir auch sicher, dass Evelyn vorher andere Fläschchen hatte, auch andere Farben. Kräftigere, leuchtendere. Ich schaute in den hohen Schrank, wühlte alles durch. Es gab eine Etage mit Handtüchern, eine mit Duschgel, Toilettenpapier, Flaschen zum Saubermachen. Ganz unten lag neben anderem alten Zeugs eine alte Kulturtasche. Ich öffnete diese. Mit einem Mal hörte man eine Tür klappern. Ich erstarrte. Dann flüchtete ich, machte vorher aber noch den Schrank zu. Ich warf mich im Schlafzimmer auf den Boden und rollte mich unter das Bett.
Wenn jetzt jemand auf dem Handy anruft, bin ich geliefert, dachte ich. Selbst eine Message würde dafür reichen. Es war nicht auf lautlos gestellt. Jemand ging die Treppe hoch. Jetzt werde ich erwischt, dachte ich. Dieser Jemand öffnete die Schlafzimmertür und ging zielgerichtet zum Kopfende des Bettes. Gleich würde ein Gesicht auftauchen. Pieres Gesicht. Seine Füße, oder zumindest Füße von jemandem, sah ich bereits. Auf einmal klingelte ein Handy. Ich bekam fast einen Herzkasper, merkte dann aber, es war nicht mein Klingelton. "Da ist es ja", sagte derjenige mit der Stimme von Piere, es raschelte, dann verstummte das Klingeln. Schritte nach draußen, die Schlafzimmertür ging wieder zu. Endlich durfte ich wieder atmen. Hoffentlich hatte ich draußen nichts liegen lassen! Die Schritte gingen aber weiter die Treppe herunter, dann hörte man die Tür klappern. Ich blieb noch fünf Minuten unter dem Bett liegen. Es war kein Laut mehr zu hören, außer meinem sehr lauten Herzschlag. Ich war tausend kleine Tode gestorben! Was wäre gewesen, wenn er jetzt mit einer Geliebten gekommen wäre, und Sex auf dem Bett gehabt hätte? Das wollte ich mir gar nicht ausmalen ...
Ich rollte mich dann wieder unter dem Bett hervor, öffnete leise die Schlafzimmertür, horchte, lange. Stille. Ich ging wieder ins Bad zurück. Nun öffnete ich die Kulturtasche. Ein erstickter Aufschrei. Neben anderen Utensilien zum Schönmachen lagen darin auch einige Nagellackfläschchen. Ich nahm alle nacheinander in die Hand und schaute mir die Unterseite an. Im hellroten Fläschchen schien etwas zu sein, aber vermutlich auch im dunkelblauen. Ich nahm sie an mich, den Rest legte ich wieder rein und so hin, wie es wohl gewesen war. Dann machte ich, dass ich hier wegkam. Während der Fahrt fiel mir aber noch ein, dass es ein Risiko gab. Was, wenn jemand das Fehlen der Nagellackfläschchen bemerkt? Unwahrscheinlich zwar, aber nicht unmöglich. Trotzdem, das Risiko, nochmal dorthin zu müssen und erwischt zu werden, war zu groß. Sonst hätte ich versucht, neue zu besorgen.
Ich fuhr zu mir nach Hause und leerte die Flaschen aus. Leider war nur in der hellroten was drin. In der blauen war der Pinsel recht lang und hatte weiteren Inhalt vorgetäuscht. Ich tupfte das kleine Teil ab, und wartete, bis alles getrocknet war. Dann rubbelte ich darauf herum. Was dort drum war, sah wie eine Gummierung aus. Zum Vorschein kam eine winzig kleine Speicherkarte, die nicht in meinen Kartenleser passte. Viel zu klein. Da musste mir Nico helfen. Ich fuhr erst mal in den Laden und später, nach Feierabend, klingelte ich bei ihm. Er gab mir so einen Adapter, und als ich die Karte bei mir hineinschob, poppte eine Meldung auf, dass ich das Passwort eingeben soll. Mist! Woher soll ich das denn haben?
Ich schnappte mir die Karte und klingelte erneut bei Nico. Dieses Mal machte Bettina auf. "Hi Bettina. Ich muss mal was wissen."
"Meinst du das mit den Dessous damals? Ob es geholfen hat? Klar. Und noch mehr."
"Mehr?"
"Am besten finde ich die Fliegenklatsche."
"Komisches Dessous."
Bettina wurde rot. "Die ist doch nicht zum Anziehen. Damit klatscht mir mein Mann immer auf den süßen Po darauf. Oder ich bei ihm." Sie kicherte. Nico kam die Treppe herunter. "Oh, Sandra. Hast du Insektenbefall? Ich hab da was von Fliegenklatsche gehört."
"Nö. Mit so einer Klatsche kann man ja auch andere Sachen machen." Bettina und ich schauten uns verschwörerisch an, und Nico wurde rot im Gesicht. Bevor es allzu peinlich wurde, sagte ich "Du Nico, kannst du mal was über diese Karte herausbekommen? Ich komme da nicht weiter."
"Na dann gib mal her."
Ich gab sie ihm, er legte sie in seinen Leser, sagte "Aha", wechselte zu einem anderen PC, versuchte es da. Wieder dieses "Aha." Er schrieb etwas auf und gab mir dann einen Zettel. "Die ist verschlüsselt. Das Dateisystem der Karte wurde am 10. Juni 2019 um 17:30 Uhr erstellt. Soll ich da mal eine Wörterbuchattacke drüberlaufen lassen? Ich sehe sonst keine andere Möglichkeit, an den Inhalt zu kommen, es sei denn, du hast das Passwort."
Ich schüttelte den Kopf. "Hab ich nicht. Bitte, versuch mal dein Glück."
"Ich geb sie dir morgen früh wieder. Mit oder ohne."
"Sex?" Ich schaute ihn wie entgeistert an, und Bettina konnte sich vor Lachen kaum einkriegen. Auch Nico lachte nun. "Jetzt erkenne ich auch den Zusammenhang mit der Fliegenklatsche. Deine Gedanken sind aber schnell auf Abwege zu bringen. Ich meinte, mit oder ohne gelungene Entschlüsselung." Ich schaute mir beim Rotwerden zu, bedankte mich, und ging zu meinem Haus hinüber. Und schämte mich. Aber Bettina hatte ja angefangen! Natürlich ging mein Kopfkino an, während Nico an der Karte geforscht hatte. War ja klar, Sandra, immer nur das eine im Kopf. Immer noch! Am nächsten Morgen gegen 7 Uhr, ich war zum Glück schon angezogen, klingelte es. Ich öffnete. Nico. Ich sah es schon an seinem Gesichtsausdruck. Er gab mir die Karte. "War leider nichts zu machen. Vielleicht kannst du es noch probieren mit persönlichen Sachen. Einfach einstecken und ins Eingabefeld eingeben."
Ich seufzte. "Danke Nico. War einen Versuch wert!"
"Gerne. Ich weiß nicht, woher du die hast, und was du dir davon versprichst, aber bring dich nicht wieder in Schwierigkeiten! Das letzte Mal ist immer noch nicht ganz verheilt! Jedenfalls nicht in der Psyche, oder?"
Im Grunde hatte er ja recht. Ich startete eine typische frauliche Ablenkungsstrategie, lachte auf. "Keine Angst. Der Typ, von dem ich das Teil habe, ist schon tot."
"Uwe?" Sein Gesichtsausdruck durchlief eine interessante Wandlung. "Wieso erst jetzt? Du hattest ... von wem hast du die Karte?"
"Ich hatte Besuch. Und der Besuch hat mich auf eine Idee gebracht. Und da habe ich die Karte ... gefunden."
Nicos Augenbraue hob sich, fast unmerklich. Jetzt hatte er den Gedanken gehabt, dass ich ihn angelogen hatte. Zumindest, dass ich ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Aber egal. Da musste er durch. Es lag ihm irgendwie auf der Zunge, aber er sagte nichts dazu. "Na dann ... viel Erfolg, Sandra."
"Danke Nico. Ich würde dich ja gerne belohnen, aber Sex wolltest du ja nicht." Nico grinste nur dazu und ging. Er hatte tatsächlich schon viel für mich gemacht, aber ich auch für ihn oder besser für sie alle. Ab und an mal ihr Kind gehütet, das in meinem Garten auch spielen durfte, mehrere Partys auf meiner Gartenterrasse veranstaltet. Und damals seine 'Ausbildung'. Und die Müllers, in deren Haus sie gezogen waren, hatte ich auch so lange bekniet, bis sie das Haus an sie verkauft hatten und nicht an einen der anderen Interessenten. Im Grunde genommen waren wir quitt. Die nächsten Tage hatte ich nach Feierabend reichlich zu tun. Ich träumte mittlerweile schon von der aufpoppenden Nachricht 'Falsches Passwort für USB0'. Ich war mit meinen Möglichkeiten am Ende. Dann erinnerte ich mich an die damals mitgehörten Worte von Uwe. 'Das benötigte Codewort ist dort, wo wir es in Wien zuletzt getrieben haben'. Ja, Mist. Das wusste ich natürlich nicht. Aber ... wäre es nicht wahrscheinlich, dass es im Hotelzimmer war? Aber wo war das? Das Hotel kannte ich anhand der damaligen Geodatenspur, das Zimmer aber nicht. Trotzdem, ich müsste es versuchen.
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Teil32: Ösi-Tripp
Ich checkte, wie ich dort hinkomme, und wählte den Flug. Die Bahn wäre auch nicht viel preiswerter geworden, der Fernbus zu langsam und unbequem. Und am nächsten Tag saß ich früh im Flieger. Ein Hotel hatte ich nicht genommen, da ich hoffte, schnell wieder weg zu sein. Ich fuhr mit dem Öffi zur bekannten Station und stand gegen 11 Uhr vor dem Gebäude, an das ich nicht so gute Erinnerungen hatte. Ständig gingen Uniformierte dort rein oder raus. Ich sprach einfach einen einzelnen von denen an, der gerade hineingehen wollte. "Servus. Sag mal, wo kann ich denn den Julian finden? Ist ein Kollege von dir."
"Der Julian Semmelmeister? So a langes Bürschchen? Der arbeitet nimmer bei uns."
"Oh, das ist ja schade. Wissen Sie, wo er jetzt ist, wie ich ihn finden kann?"
"Na, ka Ahnung."
"Und die ... Ines?"
"Uns're Postenkommandantin, oder? Zu der woll'n's?"
"Ach, die ist das jetzt?" Das war nicht das, was ich erwartet hatte, und mulmig war mir sowieso bei dem Gefühl, zu ihr gehen zu müssen, und die Stellung Postenkommandantin potenzierte das auch noch. Trotzdem, es musste ja sein. "Ja, dann halt zu ihr."
"Kommen's mit! Wen soll i melden?"
"Neuhaus ist mein Name. Sandra Neuhaus." Er führte mich herein und dort gleich in einen Nebenraum.
"Da warte!" Nach weniger als einer halben Minute erschien er wieder und sagte: "Komm! Zwoate Tür auf da rechten Seite."
Mit einem sehr, sehr mulmigen Gefühl näherte ich mich dieser Tür, die offenstand. Dort saß sie hinter einem Schreibtisch, über Unterlagen gebeugt, die sie las. Ich klopfte.
"Hallo." Mehr traute ich mich nicht zu sagen.
Sie blickte nicht von ihrer Arbeit auf. "Ach, die Frau Neuhaus. Wollen's sich vergiften?"
"Wieso vergiften?", fragte ich.
"Na, des blonde Gift sitzt vo euch!" Mit lief es eiskalt den Rücken herunter. War ja klar, dass die das wieder hervorkramt. Erstmals blickte sie von ihren Unterlagen auf.
"Ja, sorry, ich war da an dem Tag nicht gut gelaunt. War wütend. Lief nicht so gut für mich, da ... ja, also sorry. Sie konnten ja nichts dafür und mussten nur ihre Arbeit machen." Ich hoffte, der Tonfall war jetzt unterwürfig genug.
"Und?"
"Was und?"
"Na, wos d' woll'n?"
"Achso, ja, ich brauche mal ... also ich würde liebend gerne was erfahren. Entweder, wo ich ihren Kollegen Julian finde, oder ..."
Sie fiel mir ins Wort. "Des soll i ihnen einfach so sogn?"
"Wäre nett, ja."
"Kumma seh ich so aus, als ob i liab wär?"
"Einfach so nicht, aber ... es würde mir sehr, sehr helfen, die Wahrheit herauszukriegen."
"Die Wahrheit über ihren schrägen Gatten? I denk, der lebt ned mehr?"
"Tut er ja auch nicht. Aber er hat mir da so einiges hinterlassen. Das muss ich herausbekommen. Bitte!" Sie schaute mich an, immer noch streng, aber man sah es in ihr arbeiten.
"Das passt hier ned. Sei um sechs halb am Park beim Fleischmarkt. Möglichst so hungrig, wie i. Verstehst?"
Ich schaltete blitzschnell. "Klar, gerne. Bis ... ja dann."
"Schleich di." Jetzt huschte doch tatsächlich kurz ein Lächeln über ihre Lippen. Es bestand noch Hoffnung. Trotzdem machte ich, dass ich hier herauskam. Bis dahin war noch eine Menge Zeit. Ich absolvierte daher ein touristisches Programm, fuhr sogar, was ich damals mit Uwe nicht gemacht hatte, eine Runde mit dem Fiaker. Dann aß ich in einem edlen Café ein sündhaft teures Stück Kuchen zu einem sündigen Kaffee, Pardon, Einspänner, Kaffee kannten die hier ja nicht, shoppte noch ein wenig. Allerdings nur Kleinigkeiten, also ein wenig Modeschmuck, der noch problemlos in meine Handtasche passte, und war dann pünktlich am Treffpunkt, und auch im richtigen Zustand. Hungrig. Da kam sie angeschlendert. Lässig. Elegant gekleidet. Sogar ein wenig sexy, zwar mit Hose, aber mit einem Oberteil, das ihre BH-Träger zeigte. "Servus Sandra. I kann dich jetzt eh duzen, oder? Des macht's einfacher."
"Klar, kein Problem."
"Komm, geh'n wir. Is' net weit."
Wir gingen los. Ich fragte: "Und du bist jetzt also Postenkommandantin. Hab mir schon gedacht, dass du es weit bringen wirst. Hattest damals schon die Hosen an."
"Ja, die Männer mach'n, wos i sag. Des mag i."
"Ich jetzt auch." Ein Blick von ihr von der Seite, fragend. "Nach all den Sachen war ich dann nicht mehr die brave Ehefrau. Auch nicht die brave Witwe. Ich hab die Puppen tanzen lassen. Erst noch mit angezogener Handbremse, aber dann. Weiß auch nicht, wieso. Vielleicht wollte ich die ausgefallene Jugendzeit nachholen. Also, die männertechnisch ausgefallene Jugendzeit."
"I hab mir schon dacht, dass du des damit meinst."
"Und ich meine nicht, dass mir das geschadet hat. Ganz im Gegenteil."
"I mei auch net. Komm, ma san doa!" Wir gingen durch eine schwere Holztür in einen Gang mit unverputzten, roh behauenen Steinen, offenbar ein altes Gemäuer, und dann wieder durch eine Holztür in einen gemütlichen, mit altem Intarsien geschmückten Raum. Sogleich kam ein Kellner angewuselt.
"Ah, Ines. Kumm mit!" Aha, man kannte sie hier. Er führte uns zu einem Tisch mit massivem Untergestell, die Platte aus Bohlen, die mit einem Eisenrahmen eingefasst waren.
"Du bist natürlich eingeladen", versicherte ich gleich. Wir nahmen Platz, der Kellner reichte uns die Karten, ich fragte Ines wegen des Getränks und bestellte zwei Gläser Rotwein. Als der Kellner mit den bestellten Getränken kam, bestellten wir unser Essen, wir nahmen beide ein Fleischgericht: ich Hühnerbrustfilet, Ines ein Wiener Schnitzel.
"Willst a bissl was erzähl'n?" Die Frage von Ines hatte ich erwartet. Während wir auf unser Essen warteten, servierte ich Ines schon mal die Vorspeise, welche aus meiner Geschichte bestand, die ich erlebt hatte. Ganz entspannt war das für mich nicht, musste ich doch jeweils meine sexuellen Verfehlungen weglassen, als auch möglichst viele der illegalen Aktivitäten, und die jeweils durch etwas anderes ersetzen, durch das ich dann zur jeweiligen Lösung gekommen war. Ich glaube aber, das hatte ich ganz gut hinbekommen. Das meiste ließ sie ziemlich kalt, von der Drogensache und Uwes Tod wusste sie ja schon wegen der Anfrage der deutschen Polizei, aber bei der Sache mit dem Einbruch und dem Feuerlöscher merkte sie doch auf. "I hab's dir eh schon g'sagt, du wärst a super Polizistin, gell?"
"Vermutlich. Aber dann müsste ich mich ja immer strikt an das Gesetz halten." Ein Augenzwinkern würzte den Satz. Dann erzählte ich weiter, wobei ich nun auch meine vielen Eskapaden mit jungen Männern mit einfließen ließ. Dann kam unser Essen. Wir mampften erst einmal, währenddessen erzählte ich schon von meinem Besucher Antonio, und als wir alles verspeist hatten, ließ ich die Bombe platzen. Und als ich dann bei der Sache mit dem Apothekerehepaar angekommen war, da hatte Ines endgültig große Augen bekommen. Aber noch hatte ich ja ein Ass im Ärmel. Eigentlich zwei. Und ich wollte sie bei Laune halten. Noch hatte ich ja meine Information nicht. "Hast du noch Appetit?"
"Wollen wir uns noch a Nachspeise nehmen?", fragte Ines zurück.
"Klar. Ich liebe Nachspeisen."
"Siehst ma!", antwortete Ines grinsend. Sie meinte wohl meinen Hüftspeck. Der Kellner kam und räumte das Geschirr ab. Wir bestellten erneut. Ich nahm Kaiserschmarrn und Ines eine Sachertorte. Wieder Wartezeit, und ich servierte das Hauptgericht. Erst einmal den Überfall auf dem Friedhof mitsamt meiner Verfolgungsjagd und dem Unfall. Und dann auch noch den vereitelten Mordversuch in der U-Bahn-Station. Ines hing an meinen Lippen. "Du bist a richtig gscheite Frau! Stark und voller Power! I bin beeindruckt!", gab Ines von sich, voll beeindruckt. Jetzt kam unser Dessert und wir mapften es weg.
"Was war denn damals mit deinem Freund? Dem Polizisten?"
"Ah, der! Nix! Is eh bald vorbei g'wen. Jetzt bin i verheiratet." Jetzt war ich baff. Es gab keinen Ring an ihrem Finger. Jetzt setzte sie nach: "Mit a Frau!"
Das war ja mal eine überraschende Einlassung. "Ach ...! Bist du mir immer noch böse?", fragte ich.
"Na, i wär' o auch ausg'tickt in der Situation. Was soll's, war ja für di ned leicht. Und was willst hier in Wien wissen? Wo steckt da Julian? Was weiß da der?"
"Na ja, ich müsste wissen, in welchem Hotelzimmer die damals beide waren. Das Hotel weiß ich."
"Sandra, des kann i dir ned sagn. Des wär ja a Verrat von Dienstgeheimnisse." Ich spürte regelrecht, dass sich meine Miene verdüsterte. Dann fügte Ines aber noch was an. Sie grinste. "Bist heut in Wien daheim? Das Hotel is fei echt super. I rats dir, nimm die Junior-Suite in da zwoaten Etage." Dazu zwinkerte sie mir zu. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
"Da ... ja, werde ich machen. Danke für den Tipp!"
Ines seufzte. "Merci für die Einladung. I muss jetz gleich ham. Mei Frau wart auf mi. Gehst a?"
"Ja, klar." Ich winkte nach dem Kellner und bezahlte die Rechnung. Nicht grad wenig, aber auch nicht astronomisch hoch. Wir standen auf und verließen den Gastraum. Draußen angekommen, zog Ines an meinem Arm. Sie schaute mich mit ihren großen Augen sehnsüchtig an. Ich kannte solche Augen. Von Männern, aber auch von Frauen. Lippen näherten sich, immer weiter. Es fing an, da unten zu kribbeln. Dann ging es los. Geknutsche. Es war intensiv, aber leider nur kurz. Ines seufzte.
"Geht leider net. Nur a bissl Appetit hol'n. Mach's gut, Sandra."
Enttäuschenderweise ging sie nun wirklich und ließ mich mit der entfachten Leidenschaft allein. Mein erwachtes Biest reagierte enttäuscht und quälte mich noch eine ganze Weile mit Kribbeln. 'Du hättest sie aufhalten müssen', sagte sie zu mir. Die macht es sich ja auch immer einfach. Was hätt ich denn tun sollen? Sie festhalten? Klappt bei manchen. Bei ihr sicher nicht. Sie hatte einen festen Willen. Das hatte ich jetzt davon, dass ich ihr erzählt hatte, dass ich auch was mit Frauen hatte! Konnte ja nicht ahnen, dass sich ihre Vorliebe geändert hatte. Aber ich hatte jetzt meine Information. Ich checkte die Verbindungen und stieg am Schwedenplatz in die U-Bahn, welche mich bis kurz vor das Hotel bringen würde. Eine Viertelstunde später war ich da. "Guten Abend. Ist noch ein Zimmer frei?"
"Ja, passt! Willst a Einzel oder a Doppelzimmer?"
"Doppel. Ist die Junior-Suite auf der zweiten Etage vielleicht noch frei?"
"Naa, die is' weg. Du kannst in die 301 geh'n. Do siehst viel besser. Okay?" Ja, schade, aber erst mal einchecken, dann würde ich weitersehen.
"Ja, das nehme ich. Mein Mann war mal in der Junior-Suite 201, deshalb wollte ich das."
"Nei, die Suite is die 203. Aber, wie gesagt, scho belegt."
"Passt schon", sagte ich, füllte das herüber geschobene Anmeldeformular aus, zückte meinen Ausweis, den sie schon ziemlich genau in Augenschein nahm, und bekam den Schlüssel. Bei dieser Frau hatten sie damals wohl nicht eingecheckt, so wie die aufgepasst hatte, hätte die das bemerkt. Wegen der falschen Namen, meine ich. Aber vielleicht hatte Uwe sie ja mit seinem Charme geflasht. Charme konnte er. Alles war möglich. Ich ging erst mal in mein Zimmer, hatte ja keinen Koffer dabei, nichts sonst, nur meine Handtasche. Ich fischte mein Handy heraus und dachte nach. Denn ich brauchte eine Legende. Dann fiel mir eine ein. Ich ging eine Etage tiefer und klopfte an der Tür der 203. Man hörte etwas drinnen. Es dauerte bestimmt eine Minute, dann öffnete jemand. Ein Mann. Nackte Brust. "Sorry für die Störung. Ich bin die Sandra. Mein Mann hat mir hier was hinterlassen. Es gehört zu einer Schnipseljagd. Wäre es möglich, dass ich hier mal nachschauen darf?"
Der Mann schaute mich an, als ob ich vom Mars komme, durchdringend, ich überlegte schon, ins Englische zu wechseln, dann sagte er aber, und das in Hochdeutsch. "Na, dann kommen sie rein. Wo ist denn ihre Information?"
"Das hat er mir leider nicht gesagt. Aber ich habe eine Idee." Ich war nun vom Flur ins Zimmer gewechselt. Im Bett lag ein Mann, zugedeckt, vermutlich sogar nackt. Ich wurde augenblicklich rot.
"Kein Problem", sagte der Mann, mit dem ich bisher kommuniziert hatte. "Ist offiziell. Ohne Trauschein, aber alle wissen davon."
"Macht nichts", sagte ich. "Ich bin auch manchmal in anderen Gefilden."
Der im Bett liegende Mann grinste. "Hast 'nen Dreier organisiert, Bent?"
"Nein, hat er nicht", antwortete ich an seiner Stelle. Dazu hatte ich auch keine Lust. Bei zwei schwulen Männern wäre ich ja nur Beiwerk und nicht die Hauptperson. Meine umherschweifenden Blicke hatten einige Sachen erfasst. Das Bett. Den Sessel. "Darf ich?", fragte ich, wartete die Antwort aber nicht ab, sondern wälzte mich unter das Bett, nachdem ich die Handy-LED angemacht hatte. Ich leuchtete alles ab, aber hier war nichts zu finden. Es musste schon versteckt sein, also unten, da, wo man es sonst nicht sieht. Also am Rahmen. Auf der anderen Seite des Bettes war auch nichts. Ich nahm mir den Sessel vor. Auch hier nichts. Dann wechselte ich zum Tisch. Bingo! Am Rahmen der Fläche unterhalb, da, wo die Hotelmappe drauflag, da war etwas eingeritzt. Ganz fein zwar, aber sichtbar. MyblondLo-hovEve stand dort. Das war es! Ich hatte ja die Karte nicht mit, aber machte ein Foto von der Schrift. "Danke, das war's", sagte ich, nachdem ich mich unter dem Tisch hervorgewälzt hatte, die Haare ganz zerzaust. "Habs gefunden."
Der andere Mann hatte sich mittlerweile auch wieder in das Bett gelegt, aber er lag obendrauf und hatte seine Hose noch an. "Dann noch viel Spaß beim Zweier", sagte ich grienend, und ging aus dem Zimmer. Yes! Ich machte ungefähr ein Dutzend virtuelle Freudensprünge und ging in mein Hotelzimmer, und legte mich bald schlafen. Leider hatte ich am anderen Morgen nichts dabei für die Morgentoilette. So konnte ich lediglich den Ersatzslip anziehen, den hatte ich eigentlich fast immer dabei. Ich war beim Frühstück gerade fertig, da tauchten die beiden schwulen Männer auf. Ich wünschte ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt und checkte dann auch gleich aus. Den Rückflug hatte ich schon beim Warten auf das Frühstück gebucht.
Ohne weitere Zwischenfälle absolvierte ich den üblichen Fliegerzehnkampf und war dann am Nachmittag wieder zu Hause. Andrea und Lena saßen auf der Couch und spielten mit den Controllern ein Videospiel. Ich begrüßte sie nur kurz, schnappte mir meinen Laptop, und ging ins Schlafzimmer. Die Karte wanderte in den Slot. Ich gab das Passwort ein. Aber ich sah nichts - keine Datei ging auf. Ich verließ meinen Platz und ging zu Nico rüber. Dabei störte ich Andrea und Lena. Sie waren wohl fertig mit dem Zocken und Andrea hatte gerade seine Hand unter ihr Oberteil geschoben. Ich ging stur geradeaus schauend an ihnen vorbei, so als ob ich es nicht gesehen hätte. Nico öffnete. "Hi Nico. Hör mal, der hat jetzt das Passwort angenommen, aber ich sehe nichts."
"Du musst mal schauen. Da sollte jetzt ein neuer Laufwerksbuchstabe aufgetaucht sein. Da sind die entschlüsselten Daten drin."
"Danke, Nico." Ich ging wieder zurück. Andrea hatte sich mit Lena in sein Zimmer verzogen. Ich suchte das Laufwerk. Aha, Laufwerk G. Ich öffnete es. Es waren mehrere Textdateien dort. Ich öffnete diese nacheinander. Es waren fast alles Zugangsdaten für Banken. Die meisten waren internationale Banken. Ich loggte mich dort nacheinander ein. Bei zweien war der Zugang gelöscht. Auf einigen lagen noch geringe Summen darauf. Bei einer von denen konnte man die Überweisungshistorie des fraglichen Zeitraums noch sehen. Da es von da an eine andere Bank ging und auf dieser Zielbank nur noch Peanuts drauf waren, lief die Spur des Geldes ins Leere. In einer anderen Textdatei war eine Auflistung, wann und von welcher Bank zu welcher Zielbank das Geld geschoben werden sollte. Das war alles irgendwie uninteressant, da es längst gelaufen war und wir das Geld ja wiedergeholt hatten. Von dem aufgelösten Aktiendepot war hier nichts erwähnt und auch nicht, ob und wo dieses Geld angelegt wurde. Und es stand auch nichts von möglichen Vorkommnissen in seiner alten Firma. Ich stand wieder am Anfang meiner Ermittlungen. Alles umsonst gewesen!
Ich brauchte einige Tage, um die Enttäuschung zu verdauen, dann erwachte meine Neugier erneut. Ich suchte das Kistchen mit seinen Sachen heraus und schaute mir noch mal alles an. Dabei fiel mir auf, dass ich dem Zettel bisher viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte.
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Teil33: Neue Spuren
Darauf stand:
Sind alle neuen Daten richtig angekommen: Prüfe alles! Gehe weit in die Vergangenheit! Schaue auch dort nach, wo dein Liebstes liegt!
Hm, damit konnte ich erst mal nicht viel anfangen. Der Zettel enthielt eine Botschaft. Aber für wen? Und wofür? Das war ja irgendwie Unfug. Ich verlor erst einmal die Lust an der Sache, dachte aber noch oft darüber nach. Dann kamen am Wochenende Piere und Evelyn zu Besuch, mitsamt ihrem Sprössling Justus. Ich hatte sie eingeladen. Zwischen mir und Evelyn war nach der Sache natürlich keine Freundschaft mehr, aber ich akzeptierte es, dass sie wieder die aktive Partnerin von Piere war. Unsere Sexcapaden machten wir seitdem ja auch nicht mehr. Ihr Erinnerungsvermögen war noch sehr eingeschränkt, und sie sprach langsamer als vorher, aber sie war wieder im Leben angekommen. Nur nicht mehr so sprudelnd wie vorher. Sie war jetzt mehr ... häuslich.
Ich war heilfroh, dass Piere offenbar meinen heimlichen Besuch nicht mitbekommen hatte. Also keine versteckte Kamera im Haus, und die Logins in sein elektronisches Türschloss hatte er offenbar auch nicht überprüft. Oder würde er während des Besuches die Bombe platzen lassen? Piere hatte ein Gastgeschenk mitgebracht. Eine Rudbeckia. Angeblich winterhart. "Hier, Arbeit für dich", sagte er grienend. Er hatte gut reden, in seinem Garten gab es nur Sträucher, Hecken und Bäumchen, im Vorgarten dazu noch Steine und Steinchen. Keine einzige Blume, es sei denn, es kam mal ein Unkraut hoch.
"Danke Piere. Guter Tausch, als Dank dafür werde ich euch mästen!" Ich deutete auf den gedeckten Kaffeetisch mit der Brombeersahnerolle, welche ich selbst angefertigt hatte. Schon geschnitten und verzehrfertig. Auch für Justus genau das Richtige. Er liebte meine Tortenkreationen!
"Gib dir keine Mühe, das schaffst du nicht!" Er deutete auf sein nicht vorhandenes Bäuchlein, und auf das von Evelyn. Die beiden konnten echt essen, was sie wollten. Das musste ich neidlos anerkennen.
"Nehmt Platz!"
Die beiden setzten sich und Justus ging auf den Schoß seiner Mutter. Wir machten währenddessen erst einmal Smalltalk. Ich erfuhr, dass Evelyn jetzt halbtags in einem Bekleidungsgeschäft arbeitete, da sie das Gefühl hatte, dass ihr zu Hause die 'Decke auf den Kopf fiele', wie sie sagte. Es war allerdings kein Dessousladen mehr wie früher. Trotzdem schien es für sie genau das Richtige zu sein, denn als sie davon erzählte, bekam sie leuchtende Augen. Und Piere strahlte sie dabei an. 'Zurück ins Leben', waren wohl seine Gedanken dabei. Ein langer Weg, der aber gerade erst angefangen hatte. Und in den allgemeinen Smalltalk hinein über das Thema allgemeine Wirtschaftslage, den Ukrainekrieg und die gegenwärtige Teuerung versuchte ich, das Thema auf seine Firma zu bringen. "Sag mal, Piere, macht euch das auch zu schaffen in der Firma?"
"Klar, auch, aber wir sind ja eher im Großkundensegment tätig, da spielt das nicht so eine Rolle."
"Und bei euch, Evelyn?"
"Ich bin ja noch nicht so lange da, aber der Laden brummt noch. Aber ich kann ja mal die Kollegen fragen."
"Ja, mache ruhig mal." Ich wendete mich wieder an Piere. "Wie habt ihr damals eigentlich die Krise bewältigt? Als es der Firma so schlecht ging?"
"Na wir haben uns von einem ganzen Haufen Gebäude getrennt. Die Käufer haben die Zweigstellen übernommen und mehr einheimische Leute eingestellt, zu niedrigeren Konditionen. Und einige Zweigstellen haben wir ganz geschlossen. So waren wir wieder flüssig, und behalten haben wir nur die lohnendsten Gebäude. Also weit weniger als die Hälfte."
"Uwe hatte damals irgendwas von Afrika erzählt." Beide horchten auf. Evelyn wohl beim Namen Uwe, und Piere beim Wort Afrika.
"Ja, da haben wir auch Engagements. Es ist relativ neu und noch alles im Fluss."
"Hab mal gelesen, dass es da auch Probleme mit den Menschenrechten geben soll. Hungerlöhne und so", warf ich ein.
"Also davon weiß ich nichts. Jedenfalls nicht bei uns." Ich sah, dass der Kopf von Piere dabei ein wenig rot geworden war.
"Schokoladengeld", sagte Evelyn auf einmal. "Ich hab mal den Begriff Schokoladengeld gehört. Weiß aber nicht mehr, wann und wo."
Ich lächelte sie an. "Das sind diese Kindertafeln. Die in Papier verpackt sind und ein wenig wie Geldscheine aussehen. Nur kleiner. Als Kind habe ich auch mal solche gehabt."
"Ach ja, ich dann wohl auch."
Piere versuchte abzulenken. "Und, bist du immer noch so geknickt wegen Mario?"
"Ein wenig schon. Ich frage mich immer noch, was jemanden antreibt, so zu handeln. War es Hass? Empfundene Ausweglosigkeit? Ungerechtigkeit? Das Gefühl, es hätte ihm jemand was weggenommen? Ich werde es wohl nie erfahren." Ich seufzte. "Beim Einbrecher damals war es ja auch so."
"Du hast immer noch nichts gefunden, oder?"
"Nee, die Polizei hatte ja damals auch einen Datenspürhund durchgeschickt, sagte mir der Hauptkommissar. Da ist nichts mehr. Vermutlich nie da gewesen." Justus spielte mittlerweile mit dem Spielzeugbagger auf dem kleinen Sandhaufen, ging jetzt aber mit dem in Richtung Blumenbeet. "Justus, nicht dorthin! Immer nur im Sand", wies ich ihn zurecht. Er hörte augenblicklich. Er war ein ganz liebes Kind.
"Was war eigentlich damals mit dem Handy von Evelyn passiert?", fragte ich. "Hast du es wiederbekommen?"
"Nein, das ging offenbar verloren. Ich vermute mal, es wurde im Krankenhaus gestohlen. Italien eben."
"Ja, schade. Alle Erinnerungen futsch."
"Ist vielleicht ganz gut so", sagte Evelyn. "Piere hat mir gesagt, was ich damals gemacht hatte. Ich schäme mich und es belastet mich bis heute. Er hat trotzdem die ganze Zeit zu mir gehalten." Sie schaute ihn wie verliebt an. "Das rechne ich ihm hoch an. Auch, dass er sich um Justus gekümmert hatte in der Zeit."
"Bringt ihr ihn in die Kita?", fragte ich.
"Klar, sonst könnte ich ja nicht halbtags arbeiten. Aber Justus liebt die Kita."
"Gutes Stichwort", sagte jetzt Piere. "Wir wollen nächsten Sonntag früh ins Konzert. Könntest du ihn denn übernehmen, wenn Melli da nicht kann?"
Melli war ihre Babysitterin, und es kam echt selten vor, dass es bei ihr nicht ging. "Klar, kann ich machen. Sagt einfach Bescheid." Wir erzählten dann noch ein wenig, machten Smalltalk, aber da Evelyn dann müde wurde, fuhren die beiden am frühen Abend nach Hause. Das war bei ihr normal und eine Spätfolge des Unfalls, sagte Piere. Am Sonntag brachten die beiden dann tatsächlich Justus vorbei. Wir gingen zuerst zum nahen Spielplatz, zum Mittag legte sich Justus kurz hin, und ging danach in den Garten, zusammen mit dem Junior von Nico und Bettina, die auch herübergekommen war, und mit den beiden draußen blieb. Ich hatte während der Schlafpause von Justus noch mal alles an Sachen zusammengesucht, was von Uwe noch da war. Wieder und wieder schaute ich mir diesen Zettel an. Er verbarg ein Geheimnis. Aber welches?
Sind alle neuen Daten richtig angekommen: Prüfe alles! Gehe weit in die Vergangenheit! Schaue auch dort nach, wo dein Liebstes liegt!
Plötzlich bekam ich eine Eingebung!
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Teil34 (Finale): Der Schock!
Die Anfangsbuchstaben bis zum Doppelpunkt ergaben Sandra! Meinen Namen! Wurde so ein Schuh draus? Sandra: Prüfe alles! Gehe weit in die Vergangenheit! Schaue auch dort nach, wo dein Liebstes liegt! Aber wo lag hier meine Vergangenheit? Gut, ich war hier groß geworden. Aber von meiner Vergangenheit war nichts übriggeblieben. Beim damaligen Auszug nach Eppendorf hatte ich alles mitgenommen. War es ein Gewächs? Ein Baum? Ich überlegte. Etwas unter einem Baum Verborgenes? Aber die infrage kommenden Bäume waren entweder zu jung, oder zu alt. Was war mein Liebstes? Was hatte ich damals besonders lieb, in meiner Vergangenheit hier? Da fiel es mir ein. Es war meine Puppe Sandra-chen. Die Puppe, die auch im Komatraum aufgetaucht war! Könnte da was dran sein?
Ich rief aus der Terrassentür Bettina zu: "Hab mal eine Weile oben zu tun! Wenn du nicht mehr kannst, sag Bescheid!" Bettina gab mir das Daumen-hoch-Zeichen. Ich ging in den Keller, schleppte die Aluleiter nach oben, öffnete die Bodenluke, und schaute neugierig hinein. Hier war schon ewig keiner mehr gewesen. Hier standen die Kartons, und alles, Kartons und Boden, waren von einer gleichmäßigen Staubschicht bedeckt. Wenn hier wer was versteckt hätte, dann wären noch Spuren zu sehen, oder? Zum Beispiel verwischter Staub. Ich konnte mich noch an die Hausdurchsuchung von damals erinnern.
Da wollten sie auch erst suchen, und der Polizist, der den Kopf durch die Luke gesteckt hatte, sagte damals: 'Das können wir uns schenken. Bei dem vielen Staub war hier schon ewig keiner mehr'. Enttäuscht schloss ich die Luke wieder und wollte die Leiter schon wieder nach unten bringen, aber dann entschied ich mich um. Mein Püppchen von damals hatte ich schon ewig nicht mehr in der Hand gehabt, obwohl es mich damals vom Koma ins Aufwachen gerettet hatte. Ich schaute Kiste für Kiste durch, bis ich sie entdeckte und seit Ewigkeiten wieder in den Händen hielt. "Sandra-chen", flüsterte ich, und streichelte sie. Ich verstaute wieder alles.
Der ganze Staub war jetzt auf meine Klamotten übergegangen. Ich sah aus wie ein Lumpensammler. Die Leiter brachte ich in den Keller, machte mich notdürftig wieder zurecht, und schaute mir meine Beute an. Sandra-chen war ziemlich zerzaust. Außerdem roch sie muffig. Ich hatte sie von damals lieblicher in Erinnerung. An einer Stelle war die Naht des Stoffes aufgegangen. Ziemlich viel. Ich fühlte und spürte etwas Hartes. Erstaunen. Was war das? Ich drückte und fummelte. Auf einmal hatte ich etwas in der Hand, was wie ein USB-Stick aussah. Es war ein USB‑Stick! Mein Herz schlug Purzelbäume! War das der damals gesuchte Datenträger? Das muss er sein! Versteckt in meiner Puppe und unter Bergen von Staub, der wie natürlich gewachsen aussah. Deshalb wurde er nicht gefunden! Er war gut getarnt gewesen! Mein Herz klopfte wie wild. Von wem war er? Ich hatte einen Verdacht. Uwe! Und was war da drauf?
Ich schob ihn in den PC. Nico hatte mir mittlerweile etwas installiert, sodass ohne einen gezielten Klick von mir nichts geöffnet wurde und ich auch immer den Dateityp sehen konnte, und ein automatischer Virenscan war auch dabei. Aber es tat sich nichts. Ich schaute, was drauf war. Eine Datei 'Inhalt' und eine Datei Entschlüsselung.exe. Ich scannte Letztere erst einmal auf einen möglicherweise enthaltenen Virus, startete dann das Programm und öffnete damit die Datei namens Inhalt. Ein Passwort wurde verlangt. Mist. Ich versuchte es mit dem gleichen Passwort wie für die damalige Speicherkarte, aber das funktionierte nicht. Was könnte das sonst sein? Ich probierte alle möglichen Kombinationen mit unseren Namen und dem Geburtsdatum. Aber es ging nicht.
Dann hatte ich noch eine Idee. Ich vermutete ja, dass der Stick damals von Uwe deponiert wurde. Und er kannte neben mir und meinen Eltern als einziger Mensch meinen Namen für das Püppchen. Ich gab Sandra-chen ein. Ging auch nicht. Ich probierte es nochmal. Bingo! Mein neues Laufwerk war da! Ich hatte mich wohl beim ersten Versuch vertippt. Oder hatte ich sandra-chen eingegeben? Egal, es hatte funktioniert. Jetzt bekam ich wieder Herzklopfen. Es gab im Laufwerk einige Filme. Ich öffnete den ersten. Ein typischer Selfi-Film. Er zeigte Uwe mit Bart und ernstem Gesichtsausdruck. Er fing an, in die Kamera zu sprechen. Ich fing an, Herzprobleme zu bekommen. Jetzt noch! Nach so langer Zeit!
"Ich habe mich verrannt. Ich traue ihr nicht mehr. Es sah erst aus wie die große Leichtigkeit, die grenzenlose Liebe, aber jetzt verheimlicht sie mir was. Schon in Zürich hatte ich so eine Ahnung. Die Nachfrage nach den Zahlungsdaten hatte mich irritiert. Auch wenn du es mir nicht glauben wirst, ich habe das Geld nicht nur für mich privat gestohlen. Jedenfalls nicht nur. Ich wollte vor allem dieses erbarmungslose, unmenschliche Projekt verhindern. Ich sah da keinen anderen Weg mehr. Das Geld war dann ja weg, aber ... wenn du es nicht gemacht hättest, wäre es wohl Evelyn gewesen. Und die Firma ist jetzt aus dem Schneider. Und Piere, dieser Mistkerl! Erst tat er so, als wäre er auf meiner Seite, und dann fällt er mir in den Rücken. Der ganze Vorstand und er gegen mich. Und die anderen haben natürlich nicht aufgemuckt! So ein Mist! Wenn du wüsstest! Aber du hast mich ja gar nicht zu Wort kommen lassen! Ja, kann ich verstehen, Sandra, hätte ich wohl an deiner Stelle auch so gemacht. Ich bin so ein Arsch, ein Betrügermistkerl! Aber so kommen die mir nicht davon! Ich hab ja noch den Kontakt zur Presse! Und ich bin jetzt ja wieder flüssig, zumindest ausreichend für den Anfang. Aber seit das Problem mit Mario aufgetaucht ist, murrt sie noch mehr. Er ist doch mein Sohn! Ich muss das doch machen! Und da jammert sie über diese paar Kröten! Gut, siebzigtausend sind kein Pappenstiel, aber mit ein wenig Finanzgeschick habe ich das übrige Geld bald wieder vermehrt. Es scheint so, als ob es Zeit ist für Plan B. Aber ich muss versuchen, an ihr Handy zu kommen. Nur wie? Das hütet sie immer wie ihren Augapfel! Ist sie noch auf meiner Seite? Oder hat ... muss Schluss machen, sie kommt gerade wieder!"
Er blickte sich gehetzt um, und dann war der Film zu Ende, und ich war ratloser als je zuvor. Überrascht. Und geschockt! Warum hatte sich Uwe an mich gewendet? Hatte er gedacht, ich helfe ihm, nach all dem, was er gemacht hatte? Pustekuchen! Und was war das mit der Firma? Und Evelyn? Spielte die ihr eigenes Spiel? Oder war sie sogar auf Uwe angesetzt worden? So etwas soll es ja geben. Wenn ja, könnte es doch nur Piere gewesen sein, sein, oder? Es gab noch weitere Filme. Ich öffnete den nächsten Film. Wieder Uwe.
"So, ich habe jetzt die Firma informiert, dass ich mir das nicht gefallen lasse. Die Information wird den Weg an die Presse finden. Schon in einigen Tagen werde ich mich mit jemandem treffen, der von der Redaktion geschickt wird. Dazu muss ich nach Deutschland fliegen. Das dürfte als der andere wieder kein Problem sein. Unseren Flug in die Freiheit hab ich erstmal verschoben. Aber Evelyn murrt schon wieder deswegen. Sie versteht nicht, dass ich das machen muss!"
Der kurze Film war zu Ende, wobei Uwe nun nicht mehr ganz so besorgt schien. Im nächsten Film änderte sich das. Er sah verwirrt aus, geradezu geschockt.
"Es ist ein Alptraum! Werde ich bald auch ein Messer im Hals haben? Was hab ich mir hier nur eingebrockt!" Er fuhr sich durch die Haare. "Sobald ich das zu Ende gebracht habe, werde ich sie damit konfrontieren. Und wenn mir ihre Antwort nicht gefällt, fliege ich alleine und lasse sie hier zurück. Ich habe alles in die Wege geleitet. Außerdem scheint sie mit dem Heini herumzuturteln. Nur mit den Augen bisher, aber wer weiß! Ich muss mich nur noch um Mario kümmern, dann kann ich abhauen. Vielleicht für immer!"
Der Film war zu Ende. Meine Ratlosigkeit und Verzweiflung stiegen ins Unermessliche! Was hatte sich hier nur für eine Schlangengrube aufgetan? Jeder gegen jeden? Und meine Befürchtungen hatten sich bestätigt. Ich, ich ganz alleine war verantwortlich dafür, dass dieses vermutlich unmenschliche Projekt durchgeführt werden konnte. Uwe wollte es verhindern, und ich hatte seinen Plan durchkreuzt. Warum hatte er denn nichts gesagt? Stopp! Er hatte was gesagt, sagen wollen, aber ich hatte ihn abgewürgt. Wollte nichts hören, aus gekränkter Eitelkeit. Vielleicht nicht Eitelkeit, aber gekränkt war ich schon! Und die Eifersucht! Die kleinen Hinweise, die es gab, hatte ich nicht ernst genommen. Ich war schuld! Alleine? Nein! Alleine nicht. Aber ich hatte wesentlichen Anteil daran, dass dieses Projekt nicht gestoppt wurde. Vorangetrieben hatten es andere. Piere! Nur Piere? Oder gab es noch jemand anderen, der seine Finger im Spiel hatte? Jemand noch Mächtigerer? Im Hintergrund? Ich musste es herausbekommen!
Und ich bekam eine unglaubliche Wut auf Piere. Was hatte der mir für ein Theater vorgespielt, so getan, als wäre er mein Freund! Sogar herumgemacht hatte ich mit ihm! Ich Idiotin! Das Schellen der Türklingel riss mich aus meinen Gedanken. Ich startete die Türkamera-App auf dem Handy. Vor der Tür standen Evelyn und Piere. Ich seufzte auf. Nun würde es unweigerlich zur Konfrontation kommen! Ich ging zur Tür, öffnete diese. Beide schauten arglos drein. "Na, wollt ihr Justus abholen?" Noch schaffte ich es, mich zusammenzureißen, aber meine Stimme war ganz anders als sonst. Nicht fest, sondern zitternd, und scharf. Evelyn und Piere warfen sich einen Blick zu. "Kommt rein!" Ich ging voran. "Geh schon mal zu Justus raus. Er spielt mit Bettina im Garten", sagte ich zu Evelyn. "Ich muss mit Piere nur noch was besprechen!" Piere schaute mich verwundert an. Ich wartete, bis Evelyn draußen war, schloss die Terrassentür. "In meinem Büro!" Jetzt hatte meine Stimme endgültig einen harten, scharfen Ton angenommen.
Pieres Augen waren schreckgeweitet, dann ging ich voran zum Laptop. Ich startete Film #1. Piere starrte wie entgeistert auf das Bild des Laptops. Dann erst wandte er sich mir wieder zu. Er wollte schon etwas sagen, aber dazu kam er nicht mehr. Ich holte nahezu ansatzlos aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Piere bekam sofort Tränen in die Augen. "Sandra, ich ..."
Peng! Erneut knallte ich ihm eine. "Was bist du nur für ein elender Mistkerl! Ich will dich nie, nie wiedersehen! Geh aus meinen Augen!!!!"
Piere drehte sich um, und schlich wie ein begossener Pudel zur Terrassentür, sagte mit brüchiger Stimme und mit Tränen in den Augen zu Evelyn: "Komm, wir gehen!" Evelyn schaute ihn erstaunt an, schnappte sich aber Justus, bedachte die gerötete Wange von Piere mit einem verwunderten Blick, dann mich mit einem ebenso verwunderten Blick, und ging zusammen mit Piere und Justus außen herum Richtung Vorgarten und Vorderhaus.
"Tschüss Sandra", sagte Evelyn noch.
Bettina hatte dem Ganzen erstaunt zugesehen. "Was war da denn jetzt gerade passiert?", fragte sie.
"Ich habe soeben einen Betrug entdeckt. Einen noch viel größeren Betrug als alles vorhergehende! Und Piere war der Hauptakteur!"
Bettina kam heran und nahm mich in den Arm, drückte mich. Es tat gut, von einer vertrauten Person getröstet zu werden. Wieder einmal war mein Leben mitsamt allen Gewissheiten den Bach hinuntergegangen. Was würde noch alles zum Vorschein kommen? Ich war am Boden zerstört!
"Und was machst du jetzt?", fragte sie.
Ich seufzte, schaute zum Himmel, welcher bedrohlich nach Regen aussah. Nicht um von dort Hilfe zu bekommen, sondern um meine weiteren Tätigkeiten zu priorisieren. "Bevor es regnet, noch die Markise einfahren!"
"Oh, Sandra, heute eine neue Strategie? Erzielt leider keine Wirkung, fürchte ich. Meinst du nicht, dass du da wegen der Betrugssache noch nachhaken solltest?"
"Natürlich tue ich das noch! Aber was?" Ja, was? Mir fiel nichts ein. Aber ich sollte eine Nacht darüber schlafen. Möglichst ohne Mann und auch ohne Frau. Zum Nachdenken. Vielleicht schlaflos. Aber hoffentlich mit einer Idee am Ende. "Ich lasse mir noch was einfallen."
"Gut, Sandra, aber sieh dich bitte vor!", ermahnte mich Bettina.
"Klar doch!" Bettina schnappte sich ihren Sohn, verabschiedete sich und ging zu ihrem Haus.
Ja, würde ich das, mich vorsehen? Nach meinen bisher gemachten Erfahrungen ganz sicher! In diesem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen, der Regen prasselte lautstark auf das Dach und übertönte mein Schluchzen und Weinen ...
--- Ende ---
Selbst gegen alle Widrigkeiten dieser Welt, Sandra macht das, was ihrem Herzen gefällt.
Sie bringt sich dabei manchmal in Probleme, zeigt bei Angriffen aber auch gern ihre Zähne.
Nimmt selbst in die Hand die wichtigen Sachen, lässt aber auch was von ihren Freunden machen.
Mutig übersteht sie jedes gefährliche Abenteuer, auch wenn ihr so manches ist nicht recht geheuer.
Selbst in fiesen Prozessen ist sie nicht am Ende, und bekommt mit ihren Ideen noch die Wende.
Unerwartete Ereignisse erträgt sie meist locker, doch die letzte Wende haut selbst sie vom Hocker.
Wird er zur Strecke gebracht, der Bösewicht, Oder stoppt ihn erst später das jüngste Gericht?
Und wer weiß, was sie noch alles machen kann, bekommt sie am Ende gar einen lieben Mann?
Zusammenfassung Gefährliches Minenfeld (die Vorgängergeschichte)
Die Zusammenfassung des ersten Teils, 'Milfy Way', ist am Ende von 'Gefährliches Minenfeld' zu lesen.
Sandra bekommt Besuch von jemandem aus Italien, der Uwe sprechen will und Antonio di Stefano heißt. Er wirkt krank, hat kein Hotel und Sandra lässt ihn daher bei sich im Haus übernachten. Am anderen Tag, Antonio ist sehr hartnäckig wegen Uwe, fährt Sandra mit ihm zum Friedhof. Erst als er Uwes Grab sieht, erfährt er von Uwes Tod. Er bricht zusammen und landet im Krankenhaus. Sandra holt ihn da wieder ab und fährt mit ihm nach Hause. Antonio erzählt ihr da, dass Uwe ein Kind mit einer anderen Frau hat, welches sie bei sich aufnehmen soll, damit es hier zu Hause zu Ende studieren kann. Die andere Frau ist Antonios Schwester, welche vor kurzem zusammen mit deren Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen ist und welche sich eigentlich um die Unterbringung dieses Kindes in Hamburg kümmern wollte. Sandra erfährt auch, dass Uwe die ganze Zeit so eine Art Doppelleben geführt hatte und sich mehrmals im Jahr weiter mit dieser Frau getroffen hatte. Nach Diskussionen sagt Sandra zu, dieses Kind bei sich für das Studium im Haus aufzunehmen. Als Gegenleistung beichtet Antonio ihr, dass er gestreuten Krebs hat und nur noch kurze Zeit zu leben hat.
Zwei Tage später macht Sandra mit Antonio zusammen ein Stadtbesichtigungsprogramm. Sie fragt ihn ein wenig über sein Privatleben aus und erfährt, dass er lange keine Frau mehr hatte. Dann verführt sie ihn in der Badewanne und hat Sex mit ihm im Bett. In den nächsten Tagen geht es Antonio immer schlechter. Als Sandra vom Laden kommt, bemerkt sie, dass Antonio nicht im Haus ist, und entdeckt Blutstropfen. Sie hastet zu seinem vor dem Haus stehenden Auto und entdeckt ihn dort, tot. Sie ruft noch die Rettung, aber die können nichts mehr für ihn tun. Weil es ein ungeklärter Todesfall ist, kommt die Polizei in Gestalt von dem Polizisten vom damaligen Verhör, der Jens Mehnert heißt. Sie erzählt ihm die Hintergründe und die Polizei nimmt Antonio, sein Auto, und seine Sachen mit.
Eine gute Woche später steht ein junger Mann vor Sandras Tür, als sie sich gerade in einem Hotel mit ihrem Langzeitbekannten Peter Müller treffen will. Er entpuppt sich als das avisierte Kind von Uwe namens Andrea Bulosio, spielt ein Cello und wird Musik studieren. Sandra führt ihn kurz ein und macht dann das Treffen mit Peter. Anschließend informiert sie Andrea, dass auch sein Onkel Antonio gestorben ist. Am anderen Tag fahren sie beide zur Polizei. Die haben eine natürliche Todesursache festgestellt. Sandra sagt zu, die Beerdigungskosten zu übernehmen, und sie suchen sich ein Beerdigungsinstitut dafür. Einige Tage später fliegen beide zur Beerdigung von Antonio in einer Kleinstadt nahe Mailand. Bei der anschließenden Abschiedsfeier lernt sie eine Frau namens Lucia kennen. Es stellt sich heraus, dass sie die frühere Freundin von Antonio war, die sich dann aber jemand anderem zugewendet hatte, als Antonio zur See fuhr. Sie gibt Sandra einen Stein, den Sandra auf einen Berg bringen soll, auf dem sie damals Antonio kennengelernt hatte. Da die Frau sehr hartnäckig ist, sagt Sandra zu, einfach nur, um Ruhe vor ihr zu haben. Nach der Rückkehr legt Sandra diesen Stein hinten in ein Regal, und Andrea geht dann einige Tage später zu seinen Vorlesungen, da das Semester bei der Uni beginnt.
Einige Tage später fragt Andrea Sandra, ob auch noch zwei andere Studenten bei ihr im Haus mitüben dürfen. Sandra sagt zu, und dann kommen sie vorbei: Lena, die Querflöte spielt, und Oliver, der eine Oboe spielt. Sandra hat nun mehrmals in der Woche Hausmusik. Eines Tages bittet Lena Sandra um ein Gespräch. Sie erhofft sich einen Tipp, um Andrea dazuzubekommen, sie zu begehren. Sandra schlägt eifersüchtig machen vor, was dann Lena überraschenderweise mit ihr selbst praktizieren will. Sandra wird schwach und es kommt zum Sex zwischen ihnen im Wohnzimmer. Sandra macht sich Vorwürfe und vermutet, sie hat etwas kaputtgemacht, aber am nächsten Tag proben sie wieder zusammen. Einige Tage später hat Sandra noch mal ein Gespräch mit Lena, und sie tröstet sie und erklärt ihre Situation und Triebhaftigkeit. Einige Tage später hat sie Sex mit Andrea, wacht dann aber auf und merkt erleichtert, dass es nur ein Traum war.
Kurz darauf hört Sandra, dass die drei ein neues Stück üben. Es gefällt ihr, sie hat eine Idee und sie fragt Andrea, ob sie denn mal bei den Proben dabei sein darf. Es klappt, und so landet Sandra zusammen mit einigen wenigen anderen Zuhörern im Saal, wo ihr mitten in den Proben ein Lapsus passiert. Sie muss ausgerechnet während einer leisen Passage niesen und erregt damit die Aufmerksamkeit des Dirigenten. Nach der Probe kommt der Dirigent noch einmal zurück, da er seine Noten vergessen hat, und bittet Sandra, ihm Gesellschaft zu leisten, bevor Andrea sie wie geplant vom Saal auflesen kann. Sie geht mit ihm mit in die Cafeteria und unterhält sich mit ihm. Er ist beeindruckt von ihr und besorgt ihr eine Karte für das richtige Konzert, nachdem Sandra ihr Bedauern darüber geäußert hat, der Aufführung nicht beiwohnen zu können, da ausverkauft.
Sandra geht zum Konzert. In der Pause trifft sie auf Jens Mehnert von der Polizei, hat aber keine Zeit für ihn und schlägt sein Vorfühlen, ob sie danach mit ihm ausgehen würde, unter einem Vorwand aus. Sie hört das Stück und ist sehr angetan davon. Nach dem Konzert wartet sie vor dem Künstlereingang auf Andrea, wird dann aber vom Dirigenten abgefangen, der sie zum Essen einlädt, und schickt Andrea schon vor. Es geht in dieselbe Gaststätte wie damals mit Peter. Sie erzählt ihm ein wenig aus ihrem Leben. Aber er durchschaut auch, dass sie die Aufgabe, den Stein auf den Berg zu bringen, verdrängt hat, feuert sie an, macht ihr Mut, und sie muss es ihm versprechen. Es macht Sandra auf Andrea, Lena, und Oliver aufmerksam, die was in sich hineinfressen. Er nimmt sie mit seinem Auto, welches einen Chauffeur hat, mit, da sein Hotel auf ihrem Weg liegt. Sandra fährt das letzte Stück mit der S-Bahn bis Poppenbüttel und will zu Fuß das Stück nach Hause gehen.
Da wird sie kurz vor ihrem Haus von einem Mann überfallen, der sie vermutlich vergewaltigen will. Bevor etwas passiert, kommen ihr zwei Passanten zu Hilfe, und dann taucht die Polizei auf, aber sie findet den Angreifer nicht, obwohl dieser eine Bisswunde an der Hand von Sandra davonträgt. Sandra fährt von der Polizeiwache mit dem Taxi nach Hause, wird von Andrea im Empfang genommen, ein klein wenig getröstet. Am nächsten Morgen erzählt sie ihm alles und fasst den Entschluss, einen Selbstverteidigungskurs zu belegen. Andrea weicht aus bei der Frage nach der Sache, welche ihn bedrückt. Sandra überredet Piere dann für ein Date in Form eines Spaziergangs um den Bramfelder See. Beide tauschen Neuigkeiten aus und Sandra schafft es, Piere mehrmals zum Erstaunen zu bringen. Aber auch Piere hat Neuigkeiten, denn Evelyn reagiert jetzt langsam wieder.
Sandra macht einen Termin für den Selbstverteidigungskurs, geht dorthin und freundet sich gleich am ersten Abend mit Julia an und geht mit ihr einen alkoholfreien Cocktail trinken. Julia erzählt ihr, dass sie ab und zu mit ihrem Mann in einen Sexclub geht, und fragt Sandra, ob sie denn nicht mitkommen möchte. Am nächsten Tag wird sie nach der Arbeit von Oliver erwartet. Er gesteht ihr, dass er sich in sie verliebt hat. Sandra schafft es aber, ihm das auszureden, und gibt ihm den Tipp, sich eine andere Frisur zuzulegen, um bessere Chancen bei den jungen Frauen zu haben. Sandra macht weiter ihren Kurs. Einige Übungseinheiten später fragt Julia nochmal und Sandra sagt zu, mit in den Club zu fahren. Julias Mann Heiko holt Sandra vom S-Poppenbüttel ab und sie fahren dorthin, ein Ort hinter Lübeck.
Angekommen, ist Umziehen angesagt. Julia hat einen knapp sitzenden Bikini an, Sandra ein edles Dessous, mit dem sie alle Blicke auf sich zieht. Den ersten, der sie anspricht, weist Sandra ab, aber später geht sie mit einem sympathischen jungen Mann mit, der ihr einiges zeigt. Sandra lässt sich dann von ihm in einen Raum führen und hat dort Sex mit ihm, kehrt dann wieder zu Julia und Heiko zurück. Nach ein wenig Smalltalk fragen die beiden Sandra, ob sie mal bei ihnen zuschauen will. Sandra sagt zu, die beiden haben Sex miteinander und Sandra beobachtet sie dabei. Es hatte Sandra gefallen.
Zurück an der Bar, fällt Sandras Blick auf einen Mann, der sich sofort verbergen will, Reißaus nimmt. Sie hat eine Ahnung und verfolgt ihn. Im Dunkelraum stellt sie ihn. Ihre Ahnung hatte sie nicht getäuscht. Es ist Jens Mehnert, der Polizist. Sie trinken an der Bar zusammen einen Cocktail und unterhalten sich ganz angeregt. Sandra merkt, dass sie doch einen guten Draht zu ihm hat, und beide mögen eine ähnliche Art von Humor. Geschickt lenkt Sandra das Gespräch auf eine Verabredung mit ihm, welche sie mit ihrem zweiten Ich Ludmilla ausführen will. Sie lässt sich von Jens nach Hause fahren. Außer ein wenig Knutschen passiert aber nichts. Einige Tage später ruft Sandra an und macht mit Jens ein Date für Ludmilla aus. Gekleidet ist sie wie dort im Sexclub, hat aber eine silbrige Perücke auf. Sie haben Sex in Sandras Standard-Hotel für diesen Zweck.
Eine Woche später bekommt sie einen Anruf von Jens Mehnert. Dienstlich. Sie soll bei der Polizei vorbeikommen. Dort angekommen erfährt sie von ihm, dass in Italien ein Drogenlabor ausgehoben wurde, in dem früher die Drogen produziert wurden, welche Uwe dabeihatte. Er schiebt ihr ein Foto des mutmaßlichen Betreibers rüber, worauf der wie Andrea aussieht. Jetzt erfährt sie, dass es sich um den Zwillingsbruder von Andrea handelt, welcher Mario heißt, den Spitznamen Solco hat, und in kriminelle Aktivitäten verwickelt war und ist. Stinksauer fährt sie nach Hause, geht in das Zimmer von Andrea und schreit ihn an. Erst da wird sie gewahr, dass Andrea gerade Sex mit Lena hat. Sie schleicht voller Scham hinaus und macht sich eine Badewanne. Sie geht ins Bett und macht mit bangem Gefühl am Morgen danach das Frühstück.
Andrea kommt dazu und fragt Sandra zunächst erst mal darüber aus, ob Lena vielleicht lesbisch ist. Dadurch erfährt sie, dass Andrea ihr Intermezzo mit Lena damals gesehen hat. Und dann erzählt er Sandra Details seines Lebens mit seinem Zwillingsbruder Mario. Seit einiger Zeit hat er keinerlei Kontaktmöglichkeiten mehr zu ihm. Sandra macht ihm den Vorschlag, ihn zu suchen, aber Andrea warnt sie vor ihm, da er gefährlich und rücksichtslos ist. Erst hier erfährt Andrea, dass Sandra damals selbst beschuldigt wurde, irgendwas mit den damaligen Sachen zu tun zu haben, den Drogen, dem Unfall. Bis zum Nachmittag hatte Sandra überlegt, in Italien weitere Nachforschungen anzustellen. Sie engagiert Andrea und auch Lena darf mitkommen. Am Freitag geht es nach Neapel. Dort angekommen, geht es am anderen Morgen über die Amalfiküste nach Sorrent.
Dort fragen sie herum, aber keiner kann oder will etwas über Mario sagen, und unverrichteter Dinge kehren sie ins Hotel zurück. Hier erfährt Sandra, dass es in Salerno noch ein anderes Viertel gibt, wo man bei der Suche nach solchen Leuten fündig werden könnte. Am anderen Tag klappern sie das ab, aber auch hier: nichts. Sie essen zu Mittag. Der Kellner hält Andrea für Mario. Eine erste Spur! Er vermittelt einen Kontakt zu einem Bekannten von Mario. Das Treffen mit ihm ist aber erst am späten Nachmittag. Sandra ändert daher den Plan. Nach dem Essen bringt sie die beiden zum Flughafen und hängt noch einen Tag dran. Sie fährt zum Treffpunkt. Dort trifft sie einen früheren Mitarbeiter von Mario. Sie gehen in eine Garage. Zum Übersetzen nutzen sie den Übersetzer im Handy, da der frühere Mitarbeiter von Mario (mit dem Namen Angelo) nur Italienisch spricht.
Sie erfährt von ihm, dass er auch nicht weiß, wo Mario steckt, und warnt Sandra vor ihm. Sandra zeigt ihm ein Bild von Uwe. Er erkennt ihn wieder und erzählt Sandra von den drei Besuchen von ihm in diesem Gebäude mit dem Drogenlabor. Er hatte auch Evelyn gesehen, und kann erzählen, wie ein dritter Mann die Drogen an sich nehmen konnte, während Uwe Solco abgelenkt hatte. Erstaunt erfährt sie, dass Mario ihm damals hinterhergefahren ist. Hatte er vielleicht doch was mit dem Unfall zu tun? Er warnt Sandra noch einmal vor ihm und sie trennen sich. Sandra fährt anschließend zum Haus mit dem damaligen Drogenlabor. Es gelingt ihr mit einem gebastelten Dietrich, die Türen zu öffnen, und sie bricht dabei das Polizeisiegel. Sie schaut sich in dem Haus um. Leider entdeckt sie nichts weiter als geschredderte Dokumente, die in einem Papierkorb liegen. Sie beschließt, diese mitzunehmen, und stopft sie in eine Mülltüte, wirft diese vor die Tür. Sie schaut sich weiter um und entdeckt eine Tür zu einem Keller ohne elektrisches Licht, geht hinunter.
Auf einmal taucht eine Gestalt mit einer Taschenlampe auf, welche sich als Polizist entpuppt. Sandra sitzt in der Falle! Sie wird von ihm gefilzt und festgenommen. Nach einer kleinen Diskussion mit dem etwas unwirsch wirkenden Polizisten entschließt er sich, sie nicht zur mittlerweile geschlossenen Dienststelle mitzunehmen und auch nicht zur Hauptdienststelle zu fahren, sondern sie mit zu sich nach Hause zu nehmen. Sie wird in sein Privatauto verfrachtet und landet in einer winzigen Siedlung, seinem Zuhause. Dort wird sie von seiner wesentlich netteren Mutter mit Namen Janine begrüßt. Sie erfährt, dass der Polizist Ricardo heißt. Janine lädt Sandra zum Mitessen ein. Als das Gespräch auf den Tod ihres Mannes, also Uwe, zu sprechen kommt, wird dem Polizisten auf einmal schlecht und er muss sich übergeben. Danach erzählt er, dass sein allererster Einsatz als Polizist genau dieser Unfall war.
Als Sandra davon hört, macht sie Druck, will die Unfallstelle sehen. Sie erzählt ihm, dass sie Mario alias Solco sucht. Erneut wird sie vor ihm gewarnt. Sie darf im Besucherzimmer übernachten. Immer noch ist der Ricardo ein wenig abweisend, misstrauisch. Nach einem schönen Frühstück verabschiedet sie sich von Janine und es geht los zur Unfallstelle. Sie parken bei einem Parkplatz und müssen zu Fuß zur Unfallstelle. Man sieht nicht mehr viel vom damaligen Unfall, aber Ricardo zeigt ihr alles. Dann will Sandra in die Schlucht hinuntersteigen. Ricardo weiß, dass dies viel zu steil ist, und hält sie davon ab, fährt sie daraufhin aber zum Eingang der Schlucht. Sie parken hinter einer kleinen Brücke und ab da müssen sie weglos die Schlucht hochsteigen. Sandra tut sich sehr schwer damit, neckt Ricardo aber auch beim Aufstieg. Dann sind sie da. Wehmut ergreift Sandra und sie muss weinen. Auch Ricardo nimmt die Erinnerung an das damalige Ereignis mit.
Dann suchen sie die Unfallstelle nach den immer noch verschwundenen Gegenständen ab. Sie finden Uwes Sonnenbrille, sein Notizbuch, ein Feuerzeug. Und Sandra findet in einer Felsspalte Uwes verschwundenes Handy, verbirgt es aber vor Ricardo. Sandra hat Probleme mit dem Abklettern beim Rückweg, aber dann hilft Ricardo ihr, und am Schluss geht es auch schon besser. Anschließend lässt sich Sandra von ihm zu einem Hotel fahren. Sie deutet an, dass sie Sex mit ihm will. Den haben sie dann, erst Fummelsex unter der Dusche, dann im Bett. Dann verabschieden sie sich. Sandra möchte einen Kontakt zu den damaligen Unfallzeugen haben und bekommt dafür die Handynummer von Ricardo. Sandra erinnert sich daran, dass sie ja noch den hinter dem Haus stehenden Leihwagen abholen muss, und fährt mit einem Taxi dorthin, holt diesen mitsamt der Mülltüte mit den Schnipseln.
Am Folgetag trifft sie die Zeugen, ein damals ausgewandertes deutsches Ehepaar mit den Namen Richard und Madeleine. Im Wesentlichen bestätigten sie ihr den schon vom Verhör bekannten Unfallhergang, aber Sandra erfährt, dass Evelyn kurz vor dem Unfall die Position im Auto bei einem Halt gewechselt hatte. Und sie erfährt, dass vermutlich Marios Auto hinter ihnen war, nach dem Unfall gehalten hatte, ausgestiegen war, und in die Schlucht geschaut hatte, bevor es zurückgefahren ist. Und Madeleine war sich nicht sicher, ob sie vielleicht noch eine weitere Person im Auto gesehen hatte. Sie bedankt sich bei den beiden, fährt zum Flughafen und fliegt dann nach Hause. Gleich am anderen Morgen geht sie zu Bettina und Nico herüber. Nico hat eine Idee, wie er die Papierschnipsel lesbar machen kann, und will sich um die Daten im Handy kümmern. Bettina braucht einen Rat und geht mit Sandra in ihr Haus.
Sandra gibt Bettina ein paar Ratschläge für ein besseres Sexleben und erzählt ihr von Andrea und den anderen Musikern. Nico kommt vorbei und gibt grünes Licht für die Papierschnipsel. Die müssen aber noch aufgeklebt werden. Bettina organisiert Leute, welche dabei helfen können, alles Kollegen von ihrer Kita. Sie beschließen, dass Sandra eine Party in ihrem Garten veranstaltet, bei der dann die Schnipsel von den Gästen aufgeklebt werden. Sandra besorgt alle Sachen dafür und bereitet einiges vor. Andrea, Lena und Oliver geben anfangs ein kleines Ständchen und Oliver will sogar mithelfen beim Puzzeln. Oliver verguckt sich dabei in Elana, die scheinbar nichts dagegen hat, ihn näher kennenzulernen. Beim Vorbereiten des Grills steht auf einmal Jens Mehnert vor ihr. Sie führen ein anregendes Gespräch, aber sie schickt ihn weg.
Sie versucht, den einzigen Kita-Mann, Marco, fürs Bett klarzumachen, aber der macht ihr klar, dass er schwul ist. Einige Zeit, nachdem alle Schnipselfolien fertiggestellt sind, verschwinden dann nach und nach alle Gäste nach Hause. Nur eine geheimnisvolle junge Frau mit dunkler Stimme namens Tessa bleibt und hilft Sandra beim Aufräumen und klar Schiff machen. Sie fühlt sich zu ihr hingezogen, aber Tessa ist ein wenig ängstlich, und noch nicht bereit für eine intime Beziehung. Am anderen Morgen gibt es ein Zusammentreffen mit Andrea und Lena beim Frühstück, und eine kleine Fragerunde über Tessas Werdegang.
Sandra scannt die zusammengesetzten Papierschnipsel und gibt die Dateien Nico, bekommt von ihm die Daten von Uwes Handy. Sie entdeckt dort Fotos, vor allem von Evelyn, einige uninteressante SMS, und WhatsApp-Konversationen. Einige sind beruflich, eine ist offenbar von seiner Dauergeliebten Lorena, und eine ergiebige Konversation ist von und mit Evelyn. Das Bild wird klarer, aber erneut wird Sandra von Gefühlen überrannt. Nico hilft ihr mit den Standortdaten, dann verfolgt sie die Wege von Uwe und entdeckt Erstaunliches. Uwe war noch mal im Haus gewesen, kurz bevor Sandra das Schloss ausgetauscht hatte. Und sie entdeckt den Flug nach Hamburg. Sie rätselt, wie Uwe den machen konnte, ohne dass die Polizei davon wusste. Sie schaut sich seinen Pass an, der ist erst kurz vor Uwes Tod ausgestellt worden. Ein weiteres Rätsel! Die Fahrten zum Drogenlaborhaus waren nachvollziehbar, und die letzte Fahrt bis zum Unfall. Sandra ist etwas mitgenommen, hält es aber aus.
Sandra bekommt die zusammengesetzten Scans. Viel geben die Dokumente nicht her, aber Sandra schafft es, daraus eine vermeintliche E-Mail-Adresse von Mario zu antizipieren, und schreibt ihn an, bittet ihn um Informationen, um ein Gespräch. Der antwortet aber nicht. Im Selbstverteidigungskurs bekommt sie heraus, dass Sven, der Trainer, und seine Assistentin Valerie vermutlich was am Laufen haben. Etwas später lässt sich Sandra von Jens Mehnert zum Essen einladen. Sie bringt ihn auf den neuesten Stand ihrer 'Ermittlungen'. Im Anschluss fährt er mit Sandra zu sich nach Hause, wo sie dann Sex haben. Sein Gitterbett leistet wertvolle Hilfe für Fesselspiele. Sie verabschieden sich voneinander, unbestimmt im Wiedersehen.
Sandra macht weiter ihren Selbstverteidigungskurs. Sie bringt Samira, ihre Friseurin, mit. Während der Übung gibt es eine kleine Eskalation von Valerie, aber es geht alles gut aus. Sogar die kleine Anmache von Sven nach dem Training, die von Valerie gestört wird. Sandra bekommt zu Hause Kopfkino von der Sache und macht es sich selbst. Beim nächsten Training entschuldigt sie sich bei Valerie, die sich aber längst wieder beruhigt hatte. Vermutlich hatte sie eine Aussprache mit Sven gehabt. Sandra hat einen Auftrag bei einer Kundin in Uhlenhorst. Beim Trip an die Außenalster danach bekommt sie angesichts der Segelboote einen Flashback. Es war schon eine Weile her, dass sie mal anstatt Samstagnachmittag am Sonntagfrüh zu ihrem Ferienhausort gefahren war. Dort hat sie eine kleine Meinungsverschiedenheit mit einem älteren Mann an der Strandbalustrade. Nachdem sie sich entschuldigt hat, lädt er sie zu einem Trip mit seinem Segelboot ein.
Sein Name ist Jochen, für Freunde Jockel. Während des Weges erfährt sie einiges von ihm, auch dass er impotent ist, entern das Boot und fahren aufs Meer heraus. Unterwegs ankern sie bei einer Sandbank und schnorcheln, dann sonnen sie sich. Jochen bewundert ihren Körper, darf ihn sogar streicheln. Da noch Zeit ist, segeln sie später noch weiter, drehen aber um, als die Fehmarnsundbrücke in Sicht ist. Beim Abendessen erfährt Jochen Sandras Geschichte mit Uwe, dem Betrug und ihrer Wandlung. Anschließend geht es in seine Villa, sie haben trotz seiner Impotenz schönen Sex und nach dem Frühstück fährt Sandra nach Hause. Sie ist nun wieder im Hier und Jetzt, erinnert sich an Jochens Angebot, und ruft ihn an. Er lädt sie zum Törn mit dem Boot ein. Es soll um einige dänische Inseln gehen.
Sie bereitet sich vor, und während sie den Garten in Ordnung bringt, ist sie froh, dass sie nicht mehr Rasen mähen muss. Dafür hat sie jetzt einen Rasenmähroboter. Bei diesen Gedanken hat sie wieder einen Flashback. Sie denkt an Carl den Großen, der aber klein war, dafür ein großes Herz hatte. Sie hatte ihm damals in ihrem Laden ein Geburtstagsgeschenk für seine Mutter empfohlen und kommt anschließend noch mal im Laden vorbei, um sich zu bedanken. Dabei erfährt Sandra, dass er Schränke bauen kann. Sandra hat eine Idee und bittet ihn, eine 'Hundehütte' für ihren Rasenmähroboter zu bauen. Er willigt ein, denkt erst, es ist für einen Hund, und lacht sich schlapp, als er hört, dass es ein Rasenmähroboter ist. Er stellt die Hütte fertig und bringt sie vorbei, stellt sie auf. Sandra bedankt sich bei ihm zusätzlich mit einem Abendessen.
Sie erfährt dann von ihm, dass er in Scheidung lebt, eine Tochter hat, und mit seiner Frau immer wieder Ärger hatte wegen des Umgangs und des Besuchsrechts, er es aber mit seinem Talent der Holzbearbeitung geschafft hatte, die zuständigen Behördenmitarbeiter zu motivieren, sein Recht durchzusetzen. Sandra bekommt Lust auf ihn und nimmt ihn mit nach Hause. Dort angekommen, macht sie ihm einen Strip, und führt ihm ihre Dessoussammlung vor. Er darf sich eines aussuchen, welches sie dann anzieht, und verführt Carl mit erotischen, lasziven Bewegungen zum Sex. Sandra sinniert, dass dies eines der wenigen Male war, dass sie etwas mit einem verheirateten Mann hatte. Dann lag wieder ihre Wirklichkeit an: der Segelausflug. Sie trifft weitere Vorbereitungen, packt sich geeignete Kleidung ein und fährt zum Yachthafen.
Als sie vor dem Boot steht, wird sie als Erstes von Sabine begrüßt. Sie geht an Bord, wird unter Deck mit den anderen bekannt gemacht, dann laufen sie auch schon aus. Sandra unterhält sich mit allen. Maik und Sabine hält sie zuerst für die Piloten, welche sie damals nach Zürich geflogen haben, aber es stellt sich heraus, dass sie beide Programmierer für medizinische Geräte sind und in Lübeck wohnen. Und Anton kommt aus Österreich. Sie unterhält sich mit ihm über Bergwandern und erzählt von ihrem Auftrag, wobei Anton zusagt, sie bei Bedarf zu unterstützen. Sie erzählt auch die anderen Teile ihrer Geschichte. Jochen und Anton verbindet eine gemeinsame, schmerzliche Zeit in der Vergangenheit. Sandra schafft es aber nicht, die beiden zum Reden zu bringen.
Sandra geht zur Einweihungsparty vom neuen Haus von Jakob und Meike. Sie unterhält sich gut, es gab einige Singles, aber der von Sandra anvisierte, verließ die Party zu früh. Als sie nur noch zu viert sind, lässt Meike den Pool einweihen. Da Sandra keinen Badeanzug dabei hat, gehen alle nackt hinein. Es passiert aber nichts. Die andere noch verbliebene Frau hatten die beiden auf Teneriffa kennengelernt, und sie geben Sandra den Tipp, doch mal da hinzufliegen, da das dort prima zum Wandern geeignet ist. Und Sandra überlegt, vielleicht auch mal einen Pool in ihrem Garten bauen zu lassen. Dabei bekommt Sandra eine weitere Erinnerung an eine Begebenheit während der Corona-Zeit mit einem Einkäufer für Bekleidung, die auch in einem Pool stattfand.
Einige Wochen später: Sandra geht auf den Friedhof. Sie will mit Uwe sprechen, diese Art fiktivem Gespräch, so als ob er da wäre. Sie wirft ihm dabei ihre Erkenntnisse an den Kopf, seine Kinder, und sein Doppelleben mit dieser Lorena. Und sie erzählt Uwe von ihrem Ableben. Und von ihren Nachforschungen bezüglich der Drogensache. Da spricht sie eine Frau an, ob alles in Ordnung ist. Sie hat wohl das Selbstgespräch gehört. Die Frau entpuppt sich als die Witwe, welche Sandra im vergangenen Spätsommer/Herbst bereits auf dem Friedhof gesehen hat und damals überlegte, zu versuchen, was mit ihr anzufangen. Von der Frau, die Angelika heißt, erfährt sie, dass sie wieder einen neuen Freund hat und dass ihr Mann damals an Krebs gestorben war. Seine Chemo hatte nicht geholfen.
Sie finden sich sympathisch und gehen in das nahe gelegene Friedhofscafé. Sie machen sich über einen Macho-Typen lustig, der offenbar auf Sandra scharf ist. Sandra macht Andeutungen darüber, dass sie öfters was mit jungen Männern macht. Sie suchen sich jeder ein Stück Kuchen aus und trinken auch was dazu. Sandra erzählt ein wenig über sich und Angelika vom Krebs ihres Mannes. Sie macht Andeutungen darüber, dass da eventuell was nicht korrekt gelaufen sein könnte. Und dass sie dazu Ermittlungen durchführt. Angelika hilft dabei ihr neuer Freund, der Apotheker ist. Sie tauschen ihre Nummern aus. Sandra hat wegen der geheimnisvollen Sache Feuer gefangen. Schon am nächsten Tag ruft Sandra Angelika an und lädt sie und ihren Freund zu sich nach Hause ein. Die beiden kommen an, die Feier findet wegen des guten Wetters im Garten statt.
Andrea und Lena gesellen sich dazu. Nach kurzer Zeit klingelt es und es erscheint zuerst Oliver, dann eine andere Studentin namens Gina, die Violine spielt und diese mitbringt. Andrea hatte die Idee, ein kleines Stück zu spielen. Zunächst stärken sich alle an Kaffee und Kuchen, und dann spielen die vier etwas von Mozart. Sandra hat Angst, dass diese Gina vielleicht was mit Oliver hat, aber das stellt sich als unbegründet heraus. Die vier verschwinden dann und Sandra erzählt Angelika und ihrem Freund Markus die ausführliche Geschichte davon, wie sie erst betrogene und bestohlene Ehefrau, und dann Witwe wurde, und dann von dem entdeckten Doppelleben. Auch Angelika erzählt dann die Geschichte von ihr und ihrem Mann, dann von der Krankheit. Und dann vom merkwürdigen Verlauf der Krebserkrankung, von der wirkungslosen Chemotherapie. Dann folgt die Geschichte des Kennenlernens von den beiden.
Und dann wird es spannend. Markus erzählt, dass er jetzt in der Apotheke arbeitet, wo damals die Chemobeutel für Angelikas Mann hergestellt wurden. Er hatte Auffälligkeiten in den Abrechnungen entdeckt, ist seitdem bisher nicht weitergekommen. Er arbeitet jetzt als Auslieferungskurier und prüft seitdem, soweit möglich, die Wirkstoffkonzentration in den Beuteln. Bisher hat er noch nichts Verwertbares entdeckt, ist aber weiter dran. Sandra bekommt es mit der Angst und warnt die beiden, ermahnt sie, vorsichtig zu sein. Sie lassen den Abend bei Gesprächen ausklingen und verabreden sich für das nächste Wochenende im Haus von Angelika. Sandra freut sich, aber dann kommt es doch ungeplant ganz anders. Als Sandra von ihrer Nachhause-Wanderung zurückkommt, wartet Angelika schon in ihrem Auto auf sie, ist ganz aufgeregt. Sie übergibt ihr so einen Chemo-Infusionsbeutel, den sie in den Kühlschrank legen soll. Angelika schlägt die Warnungen in den Wind. Sie will mit Markus diesen Apotheker zur Rede stellen und fährt mit ihrem Auto weg.
Sandra bekommt aber Gewissensbisse und fährt mit ihrem Auto zum Haus der beiden, in der Hoffnung, dass dieses Treffen dort stattfinden wird. Sie fährt hin und entdeckt Angelikas Auto davor. Sie klingelt, hört Geräusche, aber keiner macht auf. Sandra geht ums Haus drumherum nach hinten. Jemand rennt weg, zur Hinterseite des Grundstücks. Sandra geht zur offenen Terrassentür. Plötzlich schlagen Rauchmelder Alarm! Sie geht hinein, sieht Markus auf dem Boden liegen, neben dem Kopf eine Blutlache. Zeitungen brennen unter der Couch. Sandra kann die Flammen mit einer Decke ersticken, aber die Couch hat bereits Feuer gefangen, brennt und kokelt. Es gelingt Sandra, die Couch nach draußen auf die Terrasse zu ziehen, wo diese weiter vor sich hinbrennt. Sandra checkt Markus und ruft bei der Polizei an, um diese und den Rettungsdienst zu holen.
Der vorher weggelaufene Mann kommt zurück, bleibt im Garten stehen, scheint verwirrt. Da kommt von der Vorderseite seitlich am Haus eine Frau und attackiert diesen Mann mit Fäusten und Tritten. Sie greift sich ein Aststück und setzt an, um ihn damit zu schlagen oder gar zu erschlagen. Sandra hatte sich mittlerweile einen Stein aus dem Steingarten geklaubt und wirft den nach ihr, gerade noch rechtzeitig. Die Frau fällt auf den Rasen und hält sich schmerzerfüllt das Bein. Da erscheinen Feuerwehrleute, kümmern sich um die brennende Couch, befragen Sandra, welche die Retter erst einmal ins Haus schickt, um Markus zu versorgen und nach Angelika zu suchen. Sandra setzt sich geschockt hin, dann kommt ein uniformierter Polizist zu ihr und befragt sie. Sie gibt ihm einen ersten, kurzen Bericht. Sie wird in den Einsatzwagen geleitet, nachdem Markus und Angelika auf Tragen in die RTW's gebracht werden.
Eine Weile später taucht auf einmal Jens Mehnert auf. Sie erzählt das Erlebte jetzt nochmal, detaillierter, bekommt dabei eine emotionale Krise, fängt sich aber wieder. Nach Eintreffen der Spurensicherung fahren sie zu Sandras Haus, um den Infusionsbeutel zu holen. Paula ist dabei, die frühere Streifenpolizistin, die damals bei Sandras Hausdurchsuchung dabei war und nun nach einer Weiterbildung beim Kriminaldauerdienst arbeitet. Mit ein wenig Flachserei schaffen sie es, Sandra ein wenig aufzuheitern und auf andere Gedanken zu bringen. Sie überreicht ihnen den Beutel, wird zurückgefahren, bekommt einen ersten medizinischen Lagebericht und fährt zum Krankenhaus, in dem Angelika und Markus liegen. Nach ein wenig Warten wird sie zu Angelika gelassen, steht ihr ein wenig bei, und fährt sie dann zu sich nach Hause. Sie kocht noch Essen, da beide Hunger haben. Markus' Zustand soll nicht schlimm sein, sagte der Arzt.
Angelika erzählt dann Sandra ihren Ablauf der Geschehnisse und auch Sandra erzählt den aus ihrer Sicht. Außerdem schimpft Sandra über den Leichtsinn der beiden. Angelika bedankt sich bei Sandra. Am anderen Morgen erstatten sie Andrea Bericht, und dann fahren sie zum Polizeipräsidium. Sie werden getrennt vernommen, Sandra von Jens Mehnert. Er zeigt ihr einen Film der Tätlichkeit gegen den Apotheker, den ein Nachbar aufgekommen hat. Als auch Angelika fertig ist, sowohl mit ihrer Aussage als auch selbst, fahren sie zum Haus von Angelika. Sie schauen sich noch einmal die einzelnen Tatorte im Haus an. Sandra wischt dann den Blutfleck weg, während Angelika den von Sandra empfohlenen Malermeister anruft, der kurze Zeit später zur Begutachtung eintrifft.
Als er da ist, bekommt Sandra einen Flashback. Damals gab es einen Tag, an dem der Meister nicht da war, nur der Lehrling. Sie lässt sich wegen einer Gestaltungsänderung von ihm beraten. In der Mittagspause erfährt sie, dass er momentan solo ist. In ihr reift ein Plan. Sie erwartet ihn im anderen Schlafzimmer in einem rosafarbenen Dessous, sich selbst verwöhnend, und bittet ihn mitzumachen. Er willigt ein und sie verbringen einige schöne Stunden miteinander. Sandras Gedanken sind wieder in der Gegenwart. Sandra seufzt auf, als die Erinnerung sie ereilt. Angelika fragt nach und Sandra beichtet ihr das Erlebnis, Angelika auch ein eigenes Erlebnis. Sie machen sich Gedanken um die verbrannte Couch und Angelika entscheidet sich dafür, alle Sitzmöbel im Wohnzimmer neu zu kaufen. Sie bereiten im Wohnzimmer alles vor und fahren dann ins Krankenhaus.
Angelika geht alleine Markus besuchen, während Sandra sich in der Cafeteria stärkt. Kaum sitzt sie, setzt sich der Arzt von gestern zu ihr, stärkt sich ebenfalls. Sie unterhalten sich nett und Sandra erzählt ihm die Hintergründe davon, warum Angelika am Vortag bei ihm gelandet ist, was ihn schockiert: dass es solche Menschen gibt. Der Arzt muss wieder los. Später kommt Angelika und erstattet Bericht, dass es Markus schon wieder relativ gut geht. Sie entschließen sich, zur Möbelmeile zu fahren, und Angelika sucht sich neue Sitzmöbel aus. Sie fahren nach Hause und dann gibt es endlich wieder ein wenig Normalität. Kurze Zeit später kommt Markus aus dem Krankenhaus. Einige Wochen später wird Sandra von den beiden zum Essen eingeladen. Sie erzählen Sandra, dass sie in einer Opfertherapiegruppe sind, wo sie sich austauschen und alles verarbeiten können.
Als das Wetter wieder besser wird, an einem Sonntag, macht Sandra eine Wanderung von sich zum Café. Kurz vor Erreichen des Zieles muss sie auf einen mit Wurzeln durchsetzten Pfad wechseln, da ein Baum den Weg versperrt. Sie bleibt in einer Wurzel hängen und fällt in Matsch, da es am Vortage viel geregnet hatte. Da taucht ein Mann auf, will ihr helfen, da ihre Kleidung ganz verschmutzt ist. Sie folgt dem Mann, der Dieter heißt, in seine Wohnung. Er zeigt ihr einige Kleider, von denen sich Sandra eines als Ersatz aussuchen darf. Sandra zieht es an und Dieter steckt ihr verschmutztes Kleid in die Waschmaschine. Sandra lädt Dieter in das kleine Café an der Ecke ein. Sie erfährt, dass die Frau von Dieter an Leukämie gestorben ist. Auch Sandra erzählt ein wenig von ihren leidvollen Zeiten. Das Gespräch kommt auf ihre Ferienwohnungen an der Küste und auf Wellen. Dieter erzählt ihr von der Ausstellung der Wellenbilder, die am Folgetag eröffnet wird, und lädt sie zu einer privaten Premiere dorthin ein.
Die Ausstellung ist in einem Raum nahe dem Rathaus. Sandra reagiert auf ihn und bekommt Lust. Wegen der Kameraüberwachung geht es hier aber nicht. Sie fahren zu ihm nach Hause. Nach ein wenig Knutschen und Striptease wollen sie beide Sex. Sandra lässt sich darauf ein, mit einem alten Fotoapparat ihr Tun scheinbar zu dokumentieren. Erst posiert sie erotisch und dann geht es los. Hinterher schauen sich beide den gedrehten Film an, der aber nichts zeigt, da es noch so eine mit richtigen Filmstreifen ist. Am anderen Morgen haben sie in der Dusche noch mal Sex. Sandra merkt, dass sie dabei ist, sich in ihn zu verlieben. Dann gibt es Frühstück. Sandra erzählt von sich, dann gibt es den Abschied. Zu Hause weint sie, weil sie weiß, dass sie ihn absichtlich auf Distanz gehalten hat, um keine Beziehung eingehen zu müssen, obwohl sie sich danach gesehnt hatte. Erst Wochen später klingelt sie bei ihm, aber er scheint nicht da zu sein.
Im Oktober macht Sandra eine Geburtstagsparty. Alle Freunde kommen. Piere deutet eine große Überraschung an, rückt aber nicht mit der Sprache heraus, was. Julian und Ellen schienen Gefallen aneinander gefunden zu haben. Wenige Tage danach fährt Sandra auf den Friedhof, um Uwe zu besuchen. Es ist ihr Kennenlerntag. Sie bekommt einen Flashback. Der dreht sich um genau dieses erste Kennenlernen. Sandra war in die Bibliothek der Uni Münster gegangen, um sich Bücher über Modeentwürfe anzuschauen. Vor dieser Zeit hatte sie schon ein wenig gemodelt, aber nun hatte sie angefangen zu studieren. Noch war sie ein Mauerblümchen und sie ärgert sich daher, als die Frau am Tisch gegenüber aufsteht, denn jetzt passiert das, was sie zu vermeiden sucht: Es setzt sich ein Mann hin. Es ist Uwe, aber das weiß sie damals noch nicht. Sie findet ihn aber attraktiv.
Das, was sie sonst stört, macht er nicht: mit ihr flirten. Sie spricht ihn daraufhin an. Es fließen einige Sätze hin und her, die ihr sagen, dass er auf ihrer Wellenlänge ist. Und es fallen dabei auch ihre beiden Namen. Uwe fängt an, Interesse zu zeigen, geht jetzt doch ins Flirten über. Dann erscheint Uwe aber auf ihrer Friedhofsbank und ihr Flashback zerreißt. Es ist aber anders als sonst, dynamischer. Sie wird angesprochen und merkt, dass es nicht Uwe ist, sondern ein anderer Mann. Die Stimme klingt wie die Stimme von Andrea, aber als sie den Mann anschaut, begreift sie, dass es Mario alias Solco ist, ihr zweiter Stiefsohn. Er beginnt ein Gespräch mit Sandra. Schnell wird klar: Er weiß noch gar nicht, dass Uwe tot ist, und will etwas von ihm. Und schnell stellt sich heraus: Es ist das Fentanyl.
Die Sache wird brenzlig und Sandra versucht, Zeit zu schinden, um vielleicht zu zufällig vorbeikommenden Besuchern zu flüchten, aber es kommt niemand. Sie versucht ihn erst mal auszuhorchen, ob er vielleicht doch was mit dem Unfall zu tun hatte. Mario verneint das, beleidigt Uwe und verhöhnt ihn, erzählt, wie er Uwe hereingelegt hatte. Er will dann die Drogen von Uwe wieder, oder Geld. Sandra kann und will ihm nichts geben. Er eskaliert und fängt an, sie zu bedrohen. Und dann zückt er sogar ein Messer. Mario fuchtelt damit herum, dann startet er die Attacken. Zweimal kann Sandra den Stich abwehren, kann das heruntergefallene Messer aber nicht greifen, fällt dann auf den Rücken ins Grüne. Beim nächsten Versuch kann sie zubeißen, ehe Mario das Messer einsetzen kann. Das fällt, wird von Sandra gegriffen und von ihr in ein Gebüsch geworfen. Die Bedrohung scheint gemeistert.
Dann fängt Mario aber an, Sandra zu würgen. Sandra wehrt sich, trifft ihn aber nicht richtig, nur mit einem Ring, welcher blutende Gesichtswunden verursacht. Schon bekommt sie keine Luft mehr, aber plötzlich lässt der Druck nach. Mario hat endlich erfasst, dass der Stein, welcher vom Messer getroffen wurde, Uwes Grabstein ist. Sandra kann sich dadurch befreien, schreit um Hilfe, will fliehen. Mario erwischt sie und bringt sie zu Fall, würgt sie erneut. Nochmals schreit Sandra um Hilfe. Da rufen plötzlich Leute dem Mario zu, dass er sie in Ruhe lassen soll, und laufen auf die Szenerie zu. Wieder kann sich Sandra befreien. Mario flieht, als er sieht, dass die beiden ihm auf den Fersen sind. Er steigt in sein Auto und fährt mit quietschenden Reifen weg. Sandra ist total wütend über den Angriff und will ihn verfolgen.
Sie setzt sich in ihr Auto und verfolgt ihn, was schwierig ist, da er schon ein Stück weg ist. Sie hofft auf den üblichen Stau an der Ampel am Friedhofsausgang. Sandra fährt mit hoher Geschwindigkeit. Unerwartet taucht auf einmal ein Unimog auf, der rückwärts mit einem Hänger aus einem Seitenweg kommt. Sandra kann nicht ausweichen, auch nicht mehr ausreichend bremsen, es kommt zum Crash. Der Airbag öffnet sich, aber Sandra schlägt mit dem Kopf hart seitlich an Karosserieteilen an. Es tut weh, sie spürt, dass sie schwer verletzt ist. Sie sieht ihr früheres Leben an sich vorbeiziehen. Sandra glaubt, dass sie jetzt sterben wird, hat Angst. Sandra wird übel, und schwindelig, dann verliert sie das Bewusstsein. Ein Gedicht am Ende der Story spricht von Geschehnissen auf des Messers Schneide, aber den Lesern ist nicht klar, ob sie den Unfall überleben wird.
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